Man wagt es ja kaum zu hoffen. Das Staatsballett Berlin (SBB) soll eine richtige Führung erhalten? In absehbarer Zeit? Durch eine Person, die von Ballett Ahnung hat? Und die weder die Berliner Politik fürchtet noch von dieser gefürchtet wird? Man hat gehört, dass der manchmal ganz gern in Berlin arbeitende Starchoreograf Alexei Ratmansky diesen Alptraumjob wohl abgelehnt hat. Man weiß ja auch, dass eine gute Portion Lebensmüdigkeit dazu gehört, um sich diesen Posten in der wirren, irren, deutschen Party-Hauptstadt anzutun. Die Stadt, in der Vladimir Malakhov als Ballettchef grundlos abgesägt wurde… eine immer noch schmerzende Wunde. Würde ein Mensch, der etwas kann, sich dem aussetzen wollen? Aber jetzt sickerten hoffnungsfrohe News durch, nach denen Christian Spuck, der in der Stuttgarter John Cranko Schule zum Tänzer ausgebildet wurde, der dann Hauschoreograf in Stuttgart war und der zurzeit höchst erfolgreicher Ballettdirektor und Chefchoreograf beim Ballett Zürich ist, den Mut hat, die Sache zu machen. Er könnte demnach etwa 2023/24 die frühere stellvertretende Intendantin Christiane Theobald, die kommissarisch und nicht besonders segensreich aktuell als Ballettintendantin in Berlin wirkt, endlich ablösen. Aber hallo! Spuck wäre ein großes herzliches Willkommen von allen Seiten sicher.
Denn Christian Spuck, 1969 in Marburg geboren, ist wahrlich kein Anfänger.
Er hat bewiesen, dass er einen hervorragenden Blick für talentierte Tänzer:innen hat, dass er mit nahezu jedem Thema etwas anzufangen weiß, dass er hintergründige Komödien wie „Leonce und Lena“ ebenso tänzerisch umzusetzen weiß wie dramatische Tragödien wie „Anna Karenina“, und er hat ebenfalls gezeigt, dass er auch musikalisch einen exzellenten Geschmack hat.
Sein Dramaturg Claus Spahn war früher eine der Edelfedern der damals noch ehrenwerten „Zeit“, und gemeinsam haben Spuck und Spahn schon Zehntausende von Ballettfanaugen zum Leuchten gebracht.
Christian Spuck wurde zur inoffiziellen Nachricht, er komme fest nach Berlin, angefragt – bei Redaktionsschluss stand die Antwort noch aus, wurde mittlerweile aber bestätigt: Er kommt!
Aber selbst wenn all dieses nur Wunschdenken wäre: ein schöner Wunsch, ein frommer Wunsch, ein erfüllbarer Wunsch ist es allemal!
International hat Spuck übrigens auch reichlich Erfahrung gesammelt.
Beim Königlichen Ballett Flandern zum Beispiel und in Oslo, beim Norwegischen Nationalballett, wo er seinen anspruchsvollen „Woyzeck“ nach der literarischen Vorlage von Georg Büchner inszenierte. Beim Bolschoi Theater in Moskau realisierte er mit Orlando den Woolf-Klassiker der Gendergeneration.
In Berlin war er bislang als Opernregisseur präsent, mit dem „Fliegenden Holländer“ an der Deutschen Oper Berlin (DOB) in der Bismarckstraße. Im Falle dass… würde er im der DOB angeschlossenen Ballettzentrum seine Studios und seine Büroräume haben.
Seit 2012/13 leitet er nun das Ballett Zürich, als würdiger Nachfolger von Heinz Spoerli – und hat dort etliche Premieren und Uraufführungen mit Bravour bestanden, allen voran 2014 mit seiner „Anna Karenina“ nach dem Zeitungsroman von Lew Tolstoi, die dann auch vom Bayerischen Staatsballett übernommen wurde. Die dort ebenfalls auf viel Beifall stieß, auch vom Ballett-Journal.
Was für ein seliger Gedanke, man könne diese „Anna Karenina“ auch in Berlin sehen!
Alexej Orlenco wäre ein verführerischer Graf Wronski, Elisa Carrillo Cabrera eine fantastische Titelheldin. Iana Salenko gäbe eine bildschön leidende, später kompromissbereite Kitty ab, Marian Walter wäre ein strammer Karenin. Evelina Godunova könnte als brave Dolly reüssieren, Alejandro Virelles als ihr notorisch untreuer Gatte. Vielleicht würde Spuck da anders besetzen, aber Fantasie ist die Mutter der Freude.
Auch Spucks „Messa da Requiem“ ist ein sehenswertes Anti-Spektakel; seine „Winterreise“ ist von John Neumeier inspiriert (der sich wiederum bei seiner „Anna Karenina“ von Spuck inspirieren ließ); Spucks Tschaikowsky-Version „Nussknacker und Mausekönig“ fällt allerdings hinter etliche andere „Nussknacker“-Fassungen zurück. Auch seine von der Industrie hochgelobte Arbeit am Theaterhaus Stuttgart bei Eric Gauthier war künstlerisch eher fade.
Und so ist Spuck keinesfalls ein Alleskönner, sehr wohl aber ein Meister der Vielfalt, und genau das könnte Berlin jetzt so richtig auf die Sprünge helfen.
2019 erhielt Spuck zudem den Prix Benois de la Danse in Moskau, sozusagen einen „Oscar des Balletts“, einen Ritterschlag erster Güte – nicht die schlechteste Ehrung für einen international tätigen Ballettstar mit Ambitionen.
Vladimir Malakhov saß damals übrigens in der Jury, ebenso wie Yuri Grigorivich. Und die Berliner Primaballerina Elisa Carrillo Cabrera erhielt im selben Sommer einen Prix Benois – so könnte sich mancher Kreis schließen.
Den smarten Ballerino Kévin Pouzou, der seine ersten bemerkenswerten Soli beim Staatsballett Berlin absolvierte und der dann in Zürich zum Star erblühte, wird Spuck dann hoffentlich wieder mitbringen.
Auch Elena Vostrotina, Primaballerina bei Spuck und zuvor in Dresden beim Semperoper Ballett, wäre ein Gewinn für Berlin.
Und Spucks bewährte Kostümbildnerin Emma Ryott wird hoffentlich für einen mehr als nur guten Stil auf den Ballettbühnen der Hauptstadt sorgen.
Hoffen wir, dass das jetzt kein Sommertraum ist, sondern knallharte Realität. Drücken wir Berlin und Spuck die Daumen!
Gisela Sonnenburg