Ein Junge sucht sein Mädchen. Die Musik spielt für seinen Auftritt in einem Ruderboot, dem er mit malerischer Geste entsteigt, eine besonders liebenswerte Melodie. Aber hat sein Suchen eine Chance zu finden? Wo ist er überhaupt gelandet? Mitten im Harem eines Wassergotts! Alexandr Trusch spielt und tanzt den Gennaro in „Napoli“, als wäre es völlig normal, in einer blaugrünen Grotte aus Fadenvorhängen nach seiner Liebsten zu suchen. Jedenfalls für die Verhältnisse im Ballett! Anmut trifft Eifer, Passion auf Neugier. Der junge Fischer Gennaro verlor seine Freundin Teresina bei einer Bootsfahrt auf hoher See – jetzt sucht er sie und ahnt auch schon, dass es sich um ein seltsames Schicksal handelt, das ihn erwartet. Hin und her wendet er sich, hofft und betet, mit Inbrunst und auch großer Angst, sein Hoffen sei umsonst. Kein Stummfilm könnte gestisch beredter sein, und dennoch wirkt hier nie etwas aufgesetzt oder klischiert. So zu sehen im zweiten Akt von „Napoli“, einem der bedeutendsten Ballette der Romantik, in dem Komik und Dramatik einander die Hände reichen.
Lloyd Riggins, John Neumeiers avisierter Nachfolger als Ballettboss in Hamburg, hat selbst als junger Tänzer in Kopenhagen die Rolle des Gennaro getanzt. Er choreografierte das Haremsstück, also den zweiten Akt, neu fürs Hamburg Ballett, während die beiden anderen, den zweiten umschließenden Akte der traditionellen Choreografie des dänischen Genies August Bournonville folgen. In einer Neubesetzung glänzt das 2014 uraufgeführte Stück nochmal so schön.
Leslie Heylmann tanzt hier die Teresina, und sie und Alexandr Trusch bilden ein blendend verliebtes, erfrischend unkompliziertes Pärchen. Im ersten Akt musste er um sie kämpfen, gegen den Unwillen ihrer Mutter, die einen reicheren Schwiegersohn bevorzugen würde. Was war das für ein einziges buntes Treiben im ersten Akt, mit operettenhaften Marktplatzszenen und viel pantomimischem Klamauk von Jung und Alt! Schließlich tanzen ja auch einige Kinder der Neumeier’schen Ballettschule mit, und ihr Gewusel macht das vorsätzliche Bühnenchaos im Kulissen-Neapel nicht gerade ruhiger. Doch im wohl durchdachten Kuddelmuddel und mit der Gitarre im Arm brillierte und überzeugte Gennaro schließlich Veronica, Teresinas Mutter (Niurka Moredo): von seiner Redlichkeit und seinen guten Absichten, die seinen Mangel an Hab und Gut vielleicht wieder wett machen. Alles sah so rosig aus – doch vom Ausflug aufs Meer kehrte Gennaro allein zurück, fast ertrunken wurde er aus dem Wasser geholt, und Teresina, das einzige Kind ihrer verwitweten Mutter, blieb verschollen.
Jetzt, in der Grotte des Wasserdämons Golfo, findet Gennaro etwas, das ihm Hoffnung gibt: die Gitarre, auf der er Teresina vorspielte und die er mit auf den romantischen Ausflug genommen hatte. Teresina muss also hier sein! Und tatsächlich. Aber als sie für ihn tanzt, in einem hell schimmernden Najadenkleid, mit schönen Arabesken und weichen Linien, da ist sie doch eine andere als das Mädchen aus Neapel, das er kennt und liebt. Somnambul, entrückt, verzaubert wirkt sie jetzt – und sie erinnert ein wenig an die Wilis in „Giselle“ und auch an die Schwäne im „Schwanensee“.
Leslie Heylmann, Deutsch-Brasilianerin und in vielen Balletten von John Neumeier künstlerisch daheim, verleiht der Rolle der Teresina einen femininen, anschmiegsamen Impetus. Alexandr Trusch, in der SU und heutigen Ukraine gebürtig, setzt jungmännlichen Stolz dagegen, und wenn er sie in den Arm nimmt, so hat das jenen besitzergreifenden Charme, der typisch ist für einfache Gemüter wie den Fischer Gennaro. Als Armand und Marguerite aus der „Kameliendame“ probten Trusch und Heylmann auszugsweise ja auch schon ein ganz anderes, viel kapriziöseres Paar – und auch da ergänzten sie sich vorzüglich, auch da hatte man das Gefühl, dass die Chemie zwischen diesen beiden hochrangigen Körperkünstlern absolut stimmt.
Im Harem des Golfo regiert indes der laszive Spitzentanz. Die Najaden, allesamt Geliebte des Massa, schwirren in petrolfarbenen Gewändern herum, und gegen die Schwerkraft, so scheint es, müssen sie gar nicht kämpfen – sie bewegen sich so federleicht, wie es nur im Ballett möglich ist. Als scheinbares Unterwasserballett kann man diese Meerfrauen zwar nicht bezeichnen, aber ihre Körper zeichnen die Stromlinien nach, die man auch in der Naturkunde vorfinden kann.
Madoka Sugai und Mayo Arii sollten hier ganz besonders feinsinnig tanzen, verhaspeln sich aber manchmal mit der Musik und wirken auch sonst nicht ganz so hehr wie der Rest der Mädchenschar. Vielleicht fehlten da einfach ein paar Proben, und schon die kommende Vorstellung ist dann auch an dieser Stelle ganz wunderbar. Das ist insbesondere deshalb anzunehmen, weil gerade Madoka im dritten Akt derart toll Seele und Tanzvermögen zeigt, dass es gar nicht anders möglich ist, als dass sie auch den kniffligen zweiten Akt bald in den Griff bekommt.
Bislang aber bezaubern im zweiten Akt als Heerschar der schönen Geliebten vor allem: Kristina Borbélyová, Sara Coffield, Yaiza Coll (die auch im ersten Akt schon sehr schön mit ihrer Frische und Sanftheit auffiel) und Winnie Dias, Futaba Ishizaki, Xue Lin und Ekaterina Mamrenko, Emilie Mazon, Yun-Su Park, Lucia Ríos und Priscilla Tselikova sowie die in allen drei Akten von „Napoli“ herausragende Miljana Vacaric (die, seit sie zunehmend choreografiert, auch endlich als Tänzerin eine wunderbar elegant-erotische Facette entwickelt).
Und wem gilt all dieser weibliche Charme? Dario Franconi kann als dreadlockiger Golfo der Urbesetzung von Otto Bubeníček noch nicht ganz das (Meer-)Wasser reichen. Aber er hat eine männlich-markante Art, die Rolle zu nehmen und wird im Zuge der folgenden Aufführungen wahrscheinlich ein Juwel aus ihr machen. Wozu sonst ist er Argentinier und versteht von Tango und der Verführung durch Bewegung so einiges?! Allerdings hat er eine scharfe Konkurrenz: Marc Jubete, der diese Saison wirklich einen schier unaufhörlichen tänzerischen Höhenflug absolviert, ist ebenfalls in einigen Vorstellungen als Golfo besetzt. Und, das nur nebenbei, als Spanier dürfte er auch über die für diese Partie notwendige Heißblütigkeit verfügen.
Golfo platzt denn auch in die Bemühungen Gennaros, Teresina aus ihrer erotischen Hypnose zu erwecken. Es kommt zum Kampf der beiden Männer – und Gennaro geht zu Boden. Wie er da liegt, hilflos, geschlagen, rührt er Teresina, und als er sein Amulett, einen Madonnengruß, umklammert, reißt dieses Mit-letzter-Kraft-ein-Gebet-Hervorstoßen ihres Verlobten sie schlagartig zurück in ihre eigene Realität. Sie erkennt, wer sie ist, wer Gennaro ist, und dass sie zu ihm gehört.
Dem seicht-liebevollen Haremsgefilde wird sie keine einzige Träne nachtrauern. Die Najaden, ihre bisherigen Gefährtinnen, erkennen ebenfalls die Wahrheit und Güte der Liebe – und sie beschirmen das Paar vor der etwaigen Rachewut von Golfo. Arm in Arm schlendert das Pärchen zum Boot, in der gelassenen Sicherheit, alles werde sich zum Guten wenden…
Im Film wäre an dieser Stelle vielleicht schon Schluss. Im Ballett aber geht das Freudenfeuer des Tanzes jetzt erst richtig los. Der dritte Akt zeigt, wie Veronica zuerst zornig auf Gennaro losgehen will, als der freudig auf den Marktplatz stürmt, bis er ihr die unbeschadete Teresina präsentiert. Ab da kulminiert das Überschäumend-Fröhliche, es ergibt sich eine Apotheose der Heiterkeit in immer neuen szenisch-folkloristischen Arrangements. Tambourins spielen dabei eine laut klimpernde, den Rhythmus stützende Rolle; für all die Paartänze, Soli und einen berühmten Pas de six, der sich aus vier Mädchen und zwei Jungs zusammen setzt und somit einer kleinbürgerlichen Variante des Haremsmotivs entspricht.
Madoka Sugai, die im ersten und zweiten Akt noch höchst mittelmäßig einher kam, dreht auf einmal auf, als wäre sie ein Star vom Bolschoi. Was für eine Power! Was für eine Grazie bei den Umdrehungen! Welche Sprungkraft! Welche Freude, welche Lust beim Tanzen! Wenn sie ihr Temperament scheinbar zügellos zeigen darf, ist sie vorzüglich.
Aber auch andere Tanzkünstler zeigen in kleinen Parts, was sie drauf haben. Ivan Urban etwa berückte schon im ersten Akt mit einem pantomimischen Intermezzo als stummer Straßensänger Pascarillo, der den Trompetenklang und das Donnern der Pauke statt Stimmbändern nutzt. Wow, ist das komisch, wenn dieser mit hohem Hut romantisch aufgetakelte Straßenstar den Mund aufreißt und es ertönt das Gequäke der Trompete! Weder er selbst noch das Publikum können davon genug bekommen.
Es ist typisch für die Komik der Romantik, dass sie gestisch-niedlich und doch derb-deftig zugleich einherzukommen vermag.
Auch Carsten Jung als Limonadenhändler Peppo und Konstantin Tselikov als Makkaronihändler Giacomo vermitteln dieses Flair, das für kindliche wie für erwachsene Zuschauer sehr geeignet ist. Ein bisschen darf man sich sogar an die gloriose Handwerkertruppe in John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ erinnert fühlen – auch dort kombiniert die Komik der Romantik das Derbe mit der zeitgeistigen Poetik.
Die musikalische Leitung von Markus Lehtinen – balletterfahren und leidenschaftlich – unterfüttert den Tanz mit dem entsprechenden Drive, ja, Lehtinen führt das Philharmonische Staatsorchester zu einer harmonisch-gediegenen Blüte seiner Kunst.
Bleiben die beiden außerordentlichen Tanztalente Florencia Chinellato und Marcelino Libao zu nennen, die mit bravouröser, bescheidener, dennoch virtuoser Sprung- und Spannkraft ihre Soli würzen. Bravo!
Und Christopher Evans legt seine Entrechats sogar so hoch an, dass man gewillt ist, für sie einen neuen Namen zu erfinden: „Evans’ Quatre“ vielleicht?
Sollte nun dennoch irgendjemand an der Daseinsberechtigung von klassischem Ballett zweifeln, so sei zitiert, was August Bournonville von sich preis gab und was im exquisit gemachten Programmheft des Hamburg Balletts noch ausführlicher nachzulesen ist:
„Tanz ist eine Kunst, die Talent, Wissen und Können erfordert.“ Und weiter: „Schönheit, die nach Expressivität strebt, wird nicht von unbestimmten Prinzipien der Mode oder von purer Freude geleitet, sondern von den unveränderlichen Gesetzen der Natur.“
Mit „Napoli“ in Hamburg wird das Aufführung für Aufführung einmal mehr bewiesen.
Gisela Sonnenburg
Weitere Texte zu „Napoli“ bitte hier:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-napoli/
www.ballett-journal.de/virtuose-flugbewegungen/
Termine: siehe „Spielplan“