Der König am Abgrund Dramatisch, poetisch, Ballett pur: „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier in ganz neuen Besetzungen beim Hamburg Ballett

"illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier

Edvin Revazov als stolzer König in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Der extravagante, aber hervorragende Geschmack des Königs spiegelt sich auch im blauen Hermelinumhang, den Jürgen Rose entwarf. Foto: Kiran West

Der stolze Märchenkönig steht am Abgrund seiner selbst. Licht und Dunkel treffen sich in seinem Leben auf unvereinbare Weise, Utopie und Schicksal zerreißen ihn von innen. Kaum eine andere Partie der Ballettgeschichte vereint so sehr wie dieser König in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier die Hoffnungen und Ängste in dieser Welt. Da ist der selbstbewusste Bauherr auf der einen Seite, der mit seinem guten Geschmack und seinen kühnen Projekten Kunstgeschichte schreiben wird. Doch auf der anderen Seite dräuen Realitätsverlust und Intrigantentum. Zentral aber steht die Sehnsucht nach Liebe und Schönheit, die als Ideale über allem leuchten. „Unverwirklichbar“ nennt Neumeier im Programmheft diese Liebe. Und doch ist sie es, die den König bis zum bitteren Ende aufrecht und am Leben hält. Edvin Revazov und Alexandr Trusch sind die neuen Könige beim Hamburg Ballett – mit Marc Jubete respektive David Rodriguez als Mann im Schatten. Hochdramatisch flüchtet sich der König hier in Erinnerungen, bis ihn der Mann im Schatten endgültig bezwingt.

"illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier

Edvin Revazov als König und Christopher Evans als Graf Alexander an seiner Brust: Der König wird festgesetzt, entmachtet, entmündigt. Wie einst Ludwig II. von Bayern. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Die gestrige umjubelte Wiederaufnahme brachte John Neumeier und seinen Künstlern satte zehn Minuten Standing ovations ein.

Der Ballettintendant, der kürzlich sein dauerhaftes Bleiben in seinem Amt bekannt gegeben hatte, kam selbst im frühlingsblauen Jackett auf die Bühne, um den starken Jubel, der auch seinem Lebenswerk galt, glücklich in Empfang zu nehmen.

Er hat den Bogen aber auch raus, uns mit getanzten Geschichten und tänzerischen Bezügen nachgerade süchtig zu machen! Denn in einem Neumeier-Ballett ist nichts einfältig oder eindeutig, nichts ist plakativ oder beliebig. Vielmehr finden auf der Bühne groß angelegte Festivitäten für Herz und Hirn statt, und die Deutungsmöglichkeiten sind so klar wie vielfältig.

Hier geht es um den Abstieg eines Königs in den Wahn bis in den Tod im Wasser, und nicht zufällig ähnelt die Geschichte der von Ludwig II. von Bayern.

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Doch nicht ohne Grund heißt der König hier nicht „Kini“ und eben auch nicht Ludwig, sondern er ist eine eigenständige, phänotypische Figur, inspiriert und mit Ähnlichkeiten zu jenem „Märchenkönig“ versehen, dessen Schlossbauten noch heute die höchsten Maßstäbe romantischer Baukunst erfüllen.

Als John Neumeier sich mit Jürgen Rose, dem heute ebenfalls legendären Ausstatter, traf, wollten sie eigentlich nur ein Konzept für „Dornröschen“ erstellen. Rose erzählte dann, dass er das bayerische Schloss Neuschwanstein dafür sehr ansprechend fand, und dass er den Choreografen John Cranko gern davon überzeugt hätte, seinen „Schwanensee“ mit einer solchen Kulisse zu inszenieren.

Bei Neumeier ging sozusagen ein Licht nach dem anderen an: Ihm fiel auf, dass das Leben Ludwigs dem von Peter I. Tschaikowsky, Komponist der Ballette „Dornröschen“ und „Schwanensee“, ähnelte.

Edvin Revazov und Christopher Evans: Der König und sein einziger Freund. Foto: Kiran West

Und auch die Ähnlichkeit zwischen Ludwig und dem Prinzen Siegfried, dem Helden im Ballett „Schwanensee“ von 1877, fiel Neumeier auf wie ein Wink des Schicksals.

„Beide, Ludwig II. und Siegfried, sind Prinz und König, ohne es sein zu wollen; beide fühlen sich dem ‚einfachen’ Volk eng verbunden und hassen den Hof und das Hofleben. Beide sollen heiraten und wollen es nicht; überhaupt ist ihre Beziehung zu Frauen ähnlich. Beide werden von ihrer Umwelt möglicherweise für verrückt gehalten. Beide erleben, dass Liebe für sie nicht in Erfüllung geht – oder von ihnen nicht erfüllt werden kann. Beide ertrinken!“ So John Neumeier im Programmheft, das indes seit 1976 keine neu erstellten Texte erhielt, was im Hinblick auf die Forschung über Ludwig II. und die größeren Freiheiten, die man heute in puncto Aufklärung über Homosexualität hat, durchaus hätte mal sinnvoll sein können.

"illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier

Der Schwan – auch als Schwanenprinzessin beim Maskenball – ist ein Symbol für Reinheit, Schönheit, Sexualität. Keine einfache Angelegenheit also! Hier Hélène Bouchet und Edvin Revazov in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aber auch der Schwan ist für Ludwig wie für Siegfried eine symbolträchtige Bildfindung, vom „Lohengrin“ von Richard Wagner (den Ludwig abgöttisch verehrte und förderte) über die zu Schwänen verzauberten jungen Frauen in Tschaikowskys Ballett bis zum Schwanenmotiv in Schloss Neuschwanstein.

So viele Bezüge – so viele Möglichkeiten, daraus ein plastisches, sinnenhaft erfahrbares Ballett zu machen.

Und an nur einem Abend entstanden laut Neumeier maßgeblich Konzeption und Einzelheiten seines Balletts „Illusionen – wie Schwanensee“. Auch, dass es darin eine Privatvorführung des Klassikers „Schwanensee“ im Hoftheater für den König geben sollte, stand da schon fest.

Sogar der „Mann im Schatten“ – jener Todesengel in Schwarz, der den König durch das Stück, durch seine Erinnerungen, bis zu seinem Tod verfolgt – wurde von Neumeier schon in den ersten Stunden seiner Idee, einen eigenen „Schwanensee“ zu machen, imaginiert.

Große Bilder: Edvin Revazov als König – er erinnert sich anhand des Baumodells für Neuschwanstein an das Richtfest dort. Foto: Kiran West

Vor allem aber ging es ihm dabei von Beginn an um die „Unverwirklichbarkeit der Liebe“, wie Neumeier es nennt, die diesen König antreiben, befeuern, beseelen und schließlich zu Tode bringen sollte.

Unerfüllbarkeit des größten Wunsches, der stärksten Liebe – das Unglück ist dabei vorprogrammiert, teils sogar auf lustvolle Weise. Moralischen Masochismus nennt übrigens Sigmund Freud dieses Phänomen.

Es gab schon überwältigende Könige in diesem Ballett, in Hamburg zum Beispiel Ivan Urban, Alexandre Riabko, Thiago Bordin – und natürlich den ersten Tänzer dieser Rolle, Max Midinet, der sie mit seinem exaltiert-pathetischen Gestus und virtuosem Spiel auch mit kreierte.

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Jetzt gibt es zwei neue Könige, und mit Edvin Revazov brillierte bei der festlichen Wiederaufnahme ein Könner und Meistertänzer, der indes bisher vor allem als junger Liebhaber oder sogar als noch kindlicher Bursche besetzt wurde.

In seiner neuen Rolle zeigt Revazov, dass er auch große, tragische Partien mit Verve füllen kann.

Zu Beginn ist er der bereits gestürzte, von seinen eigenen Ministern kurzerhand in ein karg möbliertes Erkerzimmer, das den Charakter eines Abstellraumes hat, weggesperrte Regent. Er trauert um sein Leben, flüchtet sich ratlos in Erinnerungen.

Aber da ist der Mann im Schatten, mysteriös-geradlinig von Marc Jubete verkörpert – der hiermit ebenfalls ein grandioses Debüt abgibt.

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Edvin Revazov in den Armen von Marc Jubete: Der König in „Illusionen – wie Schwanensee“ tanzt mit dem Mann im Schatten, bald sogar um sein Leben. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Ein kurzer Paartanz der beiden Männer, eine Begegnung, die hier noch schmuckloser, aber eindringlich ausfällt als in anderen Besetzungen, die das Verhältnis des Königs zu seiner Halluzination beschreibt: Der König flieht vor der Erscheinung, fühlt sich aber zugleich wie magisch angezogen.

Er findet den Modellbau von Schloss Neuschwanstein und sinkt, diesen gleichsam umarmend, nieder, er versinkt zugleich in den Gedanken an die Vergangenheit.

Das Richtfest des Schlosses, ach, es war ein einziger Augenschmaus.

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Aleix Martínez – hier im  Presseportrait von Kiran West – tanzt den Sprecher der Handwerker in „Illusionen – wie Schwanensee“ mit einem solchen Elan, dass man die Rolle als ganz neu erfunden empfindet.

Handwerker, angeführt von dem hier absolut umwerfenden Aleix Martínez, der mit Schwung und Geschmeidigkeit die Szene belebt, führen Spiele und kleine Wettkämpfe vor. Heißa, da wird geturnt, gerannt und gerangelt!

Eine Szene wirkt dabei wie ein Tauziehen von zwei Mannschaften und hat doch die ästhetische Anmutung eines antiken Reliefs. Aber all dies läuft in einem Affentempo ab, hoppla, was für eine motivierte Truppe – solche Handwerker wünscht sich jeder, der ein Haus baut!

Überhaupt sind die Ensemble-Szenen hier so derart mitreißend und doch präzise gearbeitet, dass sich schon allein dafür eine längere Anreise nach Hamburg lohnen würde.

"illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier

Über allem schwebt der Richtkranz im ersten Teil von „Illusionen – wie Schwanensee“: Ausgelassenes Treiben in der Erinnerung des Königs an das Richtfest seines prachtvollen Schlosses. Videostill aus dem Werbetrailer vom Hamburg Ballett: Gisela Sonnenburg

Auch Kinder gibt es, die begeistert mitspielen und keine Sekunde auf der Bühne vergeuden. Sackhüpfen, Lachen, Mittanzen beim Solisten – ausgelassen feiern die jüngsten Darsteller beim großen Fest mit.

Die Ballettschule des Hamburg Ballett kann mal wieder stolz auf sich sein, zumal sie in diesem Jahr ihr Jubiläum zum 40-jährigen Bestehen feiert und mit „Erste Schritte“ am 26. April 2018 eine große Show abliefern wird.

Aber es gibt auch Erwachsene, die schon im ersten Akt für sich einnehmen.

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Eine Frau, die sich um den Verlobten sehr bemüht: Hélène Bouchet als Prinzessin Natalia mit Edvin Revazov als König in „Illusionen – wie Schwanensee“. Foto: Kiran West

Allen voran die Damen: Hélène Bouchet ist eine süße, glaubhaft liebende Verlobte des Königs namens Prinzessin Natalia, und je weniger er sie will, desto mehr bemüht sie sich um ihn.

Bouchet hat seit der Entbindung ihres Kindes eine sichtlich weiblichere Figur bekommen, und mir gefällt das sehr.

Ihre nach wie vor superschlanken, bildschönen Beine kommen mit etwas mehr Figur weiter oben noch besser zur Geltung, und ihr Oberkörper hat nun wunderschöne Ähnlichkeit mit dem einer normalen Frau oder auch einer nostalgischen Ballerina (die Tänzerinnen vor hundert Jahren waren ja noch viel femininer gebaut als die oftmals mageren Damen von heute).

Vielfalt sei hier das Stichwort: Schönheit sollte nie klonartig auf bestimmte Maße reduziert sein.

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Florencia Chinellato als Prinzessin Claire und Christopher Evans als Graf Alexander verkörpern die sorglose, vollkommene, junge Liebe. So zu sehen beim Hamburg Ballett in John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“. Foto: Kiran West

Und auch Florencia Chinellato, die gestern ihr Debüt als Prinzessin Claire gab, weiß zu bezaubern. Ich liebe diese Rolle ganz besonders, sie ist eine andere Olga (aus „Onegin“ bzw. „Tatjana“) und verkörpert die leichte, nach Sorglosigkeit strebende, ungetrübte Liebe.

Man sollte solche Partien nicht unterschätzen; im Vergleich zu den balletttypischen Prinzessinnenrollen sind sie weitaus schwieriger, zumal sie vom Anspruch her eine fast naturalistische Glaubhaftigkeit verlangen.

Silvia Azzoni war viele Jahre eine vorbildliche Claire.

Aber jetzt zeigt Chinellato, dass Claire auch weniger elfenhaft und dafür etwas bodenständiger sein darf. Temperamentvoll, sauber in den Posen und spritzig vor Lebensglück becirct sie auch ihren Verlobten, den Grafen Alexander.

Der wiederum wird ganz exzellent vom solchermaßen darin debütierenden Christopher Evans gegeben. Ach, was für ein rundum perfekter Galan! Auch seine Partie sollte man nicht unterschätzen, denn Alexander ist keineswegs dumm oder oberflächlich. Aber: Er hat ein Talent für Glück, gerade, wenn er seiner Partnerin Halt gibt.

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Christopher Evans schmiegt sich an Florencia Chinellato, als Alexander und Claire sind sie ja Verlobte. Edvin Revazov als König schaut fassungslos zu – können Menschen wirklich so glücklich miteinander sein? Zu sehen in „Illusionen – wie Schwanensee“. Foto: Kiran West

Damit nicht genug: Er ist auch noch eine treue Seele, nicht nur seiner Frau, sondern auch seinem König gegenüber.

Als bester Freund ist Alexander der einzige Mann hier, der sich um des Königs Wohl bemüht.

Als dieser – eine historisch verbürgte Flause – sich zu sehr fürs Boxen interessiert und seine Boxhandschuhe zu fest anzog, hilft Alexander ihm, diese wieder loszuwerden.

Für einen eleganten Handkuss bei der Frau Mama (sehr hoheitsvoll und machtlüstern und vielleicht etwas zu sehr auf die Rampe fixiert von Patricia Friza gespielt) kommt die Freundeshilfe aber nicht schnell genug, und so muss der König, statt der Etikette zu gehorchen, linkisch improvisieren. Es sind auch solche kleinen Momente, die immer wieder Spaß machen, angesehen zu werden.

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Wie ein lebendes Relief: Handwerker beim spielerischen Wettkampf in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Videostill aus dem Werbetrailer: Gisela Sonnenburg

Doch natürlich sind es auch die Soli, die Pas de deux, die Tänze der Bauernmädchen und der Handwerker, die Qudrille, die jungen Adligen, die einem hier glattweg einen Kurzurlaub auf dem idyllischen bayerischen Land ersetzen und darüberhinaus äußerst erbaulich sind.

Das erste große Solo des Königs ist ein Adagio mit langen Balancen und verzwickten Drehungen, und man erinnert sich an Des Grieux in Kenneth MacMillans „Manon“. Anders als dort, geht es hier nicht um eine Liebeserklärung an eine Frau, sondern um den Selbstausdruck eines sehnsuchtsvollen Außenseiters, der eher Visionen von Schönheit hat, als dass er gewillt ist, ein Land zu regieren.

Aber wie Edvin Revazov hier in die Arabesken geht, um seine Idee von Zinnen und romantischen – also vom Mittelalter inspirierten – Architekturen zu preisen, ist einfach unter die Haut gehend.

Er wird denn auch akzeptiert, findet Anklang in diesem Moment, wenn auch ein Moment Unheil stets mitschwingt. Alexander weiß um die seelische Labilität des Königs und eilt stets pflichtbemüht zu ihm, um sich um ihn zu sorgen.

Aber da steht der Mann im Schatten plötzlich vor dem König, anstelle eines Dieners mit Sekttablett. Der König erschrickt vor seiner eigenen Fantasie, sein Gefühl für die Realität schwindet. Der Mann im Schatten gewinnt an Macht.

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Der König (Edvin Revazov) hat auch ein Bühnenmodell in seiner gotischen „Zelle“: Es zeigt das Ballett „Schwanensee“. Foto: Kiran West

In seinem Erker stolpert der König auch über ein puppenstubenhaftes Modell einer Theaterbühne für „Schwanensee“. Er ist ja so ein großer Kunstfreund!

In seiner Erinnerung durchlebt er noch einmal die Privatvorstellung, die er sich in seinen besten Zeiten – hatte er solche überhaupt? – gönnen konnte.

Anna Laudere ist hierin die Schwanenprinzessin Odette, und wie schon Weihnachten 2012, als sie diese Partie tanzte, erquickt sie mit unerhörter Grazie und edelmütigen Posen.

Tanzte sie die Odette damals noch fast todessüchtig, obwiegt heute ein zarter Schleier von Melancholie in ihrem Tanz. Sie ist Odette, die entführte und verzauberte Prinzessin, die mitten aus ihrem Leben gerissen und eine Gefangene wurde. Anna Laudere ist dieses mit jedem Wimpernzucken, jeder Armbewegung, jedem Fußstrecken, jedem Heben und Senken des Spielbeines.

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Anna Laudere als Odette in der Originalchoreographie von Lew Iwanow in John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“: graziös und von beseelter Melancholie. Foto: Kiran West

Ihre Odette ist aber zugleich eine Rolle, die von der eigentlich Dargestellten verkörpert wird: Es handelt sich ja um Theater im Theater. Auch diesen Effekt weiß Laudere wunderschön zu nutzen, um mit kleinen Seitenblicken klar zu machen, dass es sich bei einer Privatvorstellung für den König um keine normale Aufführung handelt.

Der König verhält sich denn auch so, wie sich vielleicht viele Zuschauer am liebsten verhalten würden: Er greift ins Tanzgeschehen ein und übernimmt teilweise und immer wieder die Partie des Prinzen Siegfried.

Dieser, sehr schön von Florian Pohl mit wasserstoffblondem Haar und ebensolchem Bart, vor allem aber auch als Hofdarsteller getanzt, zeigt sehr schön die Diskrepanz, die die wahre Kunst von einer Privatvorstellung unterscheidet. Er muss für den König weichen, ihm die Ballerina übergeben, er muss sich vor dem König verneigen und sich dem Monarchen beugen. Auch wenn dieser ihm als Künstler selbstredend nicht ebenbürtig ist.

Das erinnert an so manche Mitmach- und Anfass-Spielchen, mit denen Kulturpolitiker und auch Kulturmanager die Zuschauer bespaßen wollen.

Mit Kunst im Wortsinn hat das indes nichts mehr zu tun.

In Berlin ärgern sich Beflissene übrigens sehr über die aktuelle Kulturpolitik, die Unsummen für mehr oder weniger laienhafte Pseudo-Didaktik sprich für Ringelpiez mit Anfassen ausgibt. Motto: Hauptsache, die Leute sind beschäftigt und die Künstler nicht so sehr gefordert.

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Edvin Revazov und Anna Laudere als König und Odette in „Illusionen – wie Schwanensee“: Theater im Theater. Foto: Kiran West

Ludwig II. forderte die Künstler indes, und so zelebrieren Laudere, Pohl, die putzmunteren Jäger (allen voran Leeroy Boone, aber auch Graeme Fuhrman, Nicolas Gläsmann, Marcelino Libao, Pietro Pelleri, Mathieu Rouaux, Pascal Schmidt und Illia Zakrevskyi) und Edvin Revazov einen Weißen Akt aus „Schwanensee“ vom Feinsten.

Inklusive Schwanenballett, vom Damenensemble sowie von Lucia Ríos (sehr schön hier, mit großzügigen, weiten Linien) und Madoka Sugai als Große Schwäne und Giorgia Giani, Mayo Arii, Florencia Chinellato und Mengting You als Kleine Schwäne.

Das Niedlich-Sportliche, das die Kleinen Schwäne in ihrer berühmten Hände-über-Kreuz-Halten-Nummer darstellen, wird von den edel-eleganten Großen Schwänen fortgeführt, ganz so, als sehe man erst einen tanzenden Kindergarten und dann Teenager mit Abitursanmutung.

Doch natürlich steht die vom bösen Zauberer Rotbart entführte Odette im Mittelpunkt dieser waghalsigen Fantasie, die Frauen als verzauberte Schwäne vorstellt und keinen Zweifel daran lässt, dass Männer diese Tarnung des Geschlechts erotisch finden dürfen.

Am Ende aber entpuppt sich für den König der böse Zauberer als niemand anderes denn als der Mann im Schatten. Was für ein Schrecken!

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Giorgia Giani, Florencia Chinellato, Menting You, Mayo Arii: Vier entzückende Kleine Schwäne in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Welche Anteile es sind, die der König von sich abgespalten hat und als eigenständigen Widergänger erlebt, wird nicht gesagt. Aber man kann es sich vorstellen: Es wird mit seiner Homosexualität zu tun haben.

Tschaikowsky wie auch Ludwig waren Homosexuelle mit einem großen Appetit auf promiskuitiven Sex, und beide lebten ihre Neigung heimlich aus. Heute sind Dokumente zugänglich, die beiden eine stark omnipotent ausgerichtete Sehnsucht in Sachen Sexualität attestieren, und dass sie dafür ihr gesellschaftliches Ansehen, auch ihre Freiheit aufs Spiel setzen mussten, war sicher Teil ihrer Tragik.

Offiziell wurde Ludwig nicht wegen seiner Schwulitäten entmündigt. Damit hätte man zugegeben, dass Bayern viele Jahre einen homosexuellen Regenten gehabt hätte, und man wollte keinen Aufruhr.

Also besorgte man sich einen willfährigen Professor, der ohne Untersuchung eine schwere geistige Erkrankung bei Ludwig bescheinigte. Regelrechte Jagden auf Personen, die man für verrückt erklären will, gibt es auch heute noch; Denunziationen, Lügen und Intrigen sind durch die Leichtigkeit der Behauptung, jemand sei irre, Tor und Tor geöffnet.

Ludwig hielt der unfairen Beobachtung nicht lange Stand.

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Edvin Revazov als König, Hélène Bouchet als Natalia: Ist der König homosexuell oder hat es andere Gründe, aus denen er die Liebe Nataliens zwar erkennt, aber nicht erwidert? „You can’t hurry love“, rät die Popmusik, auf deutsch sagt man: Liebe lässt sich nicht erzwingen“.. auch nicht in „Illusionen – wie Schwanensee“. Foto: Kiran West

In Neumeiers Ballett wie in der Realität kann der König zudem seine eigenen Konflikte – er empfindet sich ja selbst als Regent völlig fehl am Platze – und die Probleme, die ihm die Ränke der Staatsminister mutwillig verursachen und die ihn dadurch entrechten wollen, nicht auseinander halten.

Der Mann im Schatten wird so immer stärker zur Bezugsperson jenseits von Gut und Böse; der Tod erscheint immer stärker eine Option.

Nach einem fulminanten Showdown auf einem von heißblütigen Folkloretänzen durchsetzten Maskenball – dieses ist die dritte Erinnerung des Königs, bevor er stirbt – in dessen Verlauf Ludwig einen grandiosen Pas de deux mit Natalia abliefert, bricht der König erneut zusammen.

Wieder hat ihn das plötzliche Auftauchen des Mannes in Schwarz derart irritiert, dass er in Rage gerät. Und sich nicht mehr beherrschen kann: Er ohrfeigt seine Mutter, wird daraufhin festgenommen und in Verwahrung weggeschlossen.

Wir befinden uns quasi wieder am Anfang der Handlung des Balletts, das solchermaßen ein Rondo ist.

Aber da war doch noch was? Ja, die Liebe: Prinzessin Natalia wird zum König gelassen, sie ist bereit, um sein Seelenheil zu ringen. Sie hatte, um ihm zu gefallen, ein Schwanenprinzessinnenkostüm für den Maskenball gewählt, und das schien im tatsächlich auch sehr zu gefallen. Aber das war vor seinem Wutausbruch…

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Helene Bouchet als Natalia im Schwanenkostüm und Edvin Revazov als Schwanenritter auf dem Maskenball in „Illusionen – wie Schwanensee“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Hélène Bouchet, diese großartige Primaballerina, gibt alles, was sie geben kann, um dieses zu zeigen. Es ist ergreifend und aufwühlend, und es sieht – wie so vieles in diesem Ballett – so modern aus, als sei es gerade erst kreiert worden.

Die Choreografie von John Neumeier hat einen derart authentischen Gestus, eine derart wahrhaftige Sogkraft, dass man sie sich immer wieder ansehen kann, ohne gelangweilt zu werden.

Zumal Bouchet hier ein Meisterstück abliefert: keine Eitelkeit, keine Aufgesetztheit stört ihr vollkommenes Spiel.

Leidenschaftlich, zärtlich, ergeben, mütterlich und rührend versucht sie, den entrückt-deprimierten König zu erreichen.

Manchmal scheint es, als gelänge dies. Bald birgt er seinen Kopf in ihrem Schoß und fast – aber nur fast – küsst er sie.

Doch er wendet sich ab, zieht sich zurück – und ist innerlich von ihr weiter entfernt denn je.

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Hélène Bouchet als Natalia versucht noch einmal, den König (Edvin Revazov) zu erreichen – umsonst. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Sie legt ihre Stola um (es gibt hier eine neue im Vergleich zur berühmten Ballettsaal-Stola von Louise in Neumeiers „Nussknacker“: kein fransiges Ungetüm mehr, sondern ein spanisch inspiriertes schwarzes Spitzentuch). Die Liebende geht darin zur Tür, resigniert. Doch sie dreht sich noch einmal um. Und wagt noch einmal einen Versuch, ihn zu erreichen. Sie trippelt auf Zehenspitzen an ihn heran, reicht ihm die Hand. Umsonst.

Sie geht, und man möchte alle Tränen dieser Welt mit ihr weinen.

Noch einmal taucht der König ab in die Vergangenheit, in die Szenerie vom „Schwanensee“. Der Mann im Schatten ist jetzt sein einziges Gegenüber.

Es ist ein Tanz mit dem Tod, ein Kampftanz, den der König verliert. Kopfüber unterliegt er.

Als das Wasser seinen Körper bedeckt – symbolisch von einem riesenhaften blauen Tuch dargestellt – haucht er sein Leben aus.

"illusionen - wie Schwanensee" von John Neumeier

Edvin Revazov im Klammergriff von Marc Jubete – kopfüber. Die berühmte Pose aus „Illusionen – wie Schwanensee“ zeigt den letzten Tanz des Königs mit dem Mann im Schatten. Foto: Kiran West

Aber der Mann im Schatten erhebt sich noch einmal, die Leiche des Königs wie die eines Kindes oder auch wie eine Trophäe in den Händen tragend.

Dieser Männer-Pas-deux müsste in die Kulturgeschichte eingegangen sein, als grandioses Bekenntnis zu einem alles durchdringenden Leiden daran, nicht akzeptiert zu werden, wie man ist.

Und Sie haben noch kein Ticket für „Illusionen – wie Schwanensee“? Ein Fehler, den Sie schnellstens beheben sollten.

Auch und gerade die neue Alternativbesetzung verspricht mit Alexandr Trusch als König höchsten Genuss: Seit er als Cassio in „Othello“ und als „Nijinsky“ bewies, wie sehr ihm Opferrollen liegen, hat er seine darstellerischen Kräfte stets noch weiter entwickelt.

Der Newcomer David Rodriguez wird als Mann im Schatten sein düsteres Pendant sein, die Jungstarballerina Madoka Sugai seine Natalia. Als Claire tanzt in dieser Besetzung dann die außerordentlich begabte Emilie Mazon, als Alexander der virile Jacopo Bellussi.

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Simon Hewett dirigiert sicher und mit absolutem Gehör – präzise, dennoch opulent, aber nichts schwallt oder „schwimmt“, und wie kostbare Perlen reihen sich die imposanten Akkorde und Melodien aneinander. Foto: Kiran West

Simon Hewett dirigiert zudem das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit so viel auf den Punkt gebrachter Präzision und Energie, dass man sowohl die opulenten als auch die ganz zarten Töne hier wie auf dem Silbertablett serviert bekommt. Ein Ohrenschmaus!

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Und Eines lernt man übrigens immer aus diesem Ballett: Es gibt keinen Grund zu zögern, sich für das zu engagieren, was einem wichtig ist – dazu ist das Leben zu kurz.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

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