Was für ein Fest! Ein Fest, ein Fest, ein Fest! Strahlende Augen in 1.690 Gesichtern und Standing ovations für den Ballettintendanten John Neumeier besiegelten im ausverkauften Haus der Hamburgischen Staatsoper gestern Abend den absolut gelungenen Neustart in die Saison mit „Ein Sommernachtstraum“ beim Hamburg Ballett. Debüt-Besetzungen mit viel Glanz und Originalität, ein nachgerade fantastisch aufgestelltes Corps de ballet und die unkaputtbar erotisch-komödiantische, stets brandneu und aktuell wirkende Choreografie von Neumeier in der bezaubernden Ausstattung von Jürgen Rose machen den Ballettevent zu einem ungetrübten Erlebnis der Luxusklasse. Wenn es eine einzige tänzerische Visitenkarte der vielseitigen Hamburger Truppe geben sollte, dann mag es dieses modern-klassische Stück sein. Obwohl man John Neumeier als schöpferischem Genie damit ganz sicher Unrecht täte, ihn auf eines seiner Werke zu reduzieren. Und auch seine Tänzerinnen und Tänzer sind selbstredend nicht nur hierin auf der Höhe der künstlerisch überhaupt möglichen Interpretation.
Die Wiederaufnahme von Neumeiers also nicht zu Unrecht international berühmten Ballettdrama „Sommernachtstraum“ , das selbstredend abendfüllend ist und von dem gleichnamigen Theaterstück von William Shakespeare inspiriert wurde, kam somit gefühlt einer Premiere gleich. Mancherorts wäre man dankbar, wenn überhaupt nur alle zehn Jahre so ein beglückender Flow von der Bühne auf die Zuschauer strömen würde. Beim Hamburg Ballett erfreut einen indes regelmäßig die Mischung aus sehr hoher künstlerischer Qualität und liebevoller Hingabe aller Beteiligten, zu der Ballettboss John Neumeier zu beflügeln weiß. Es ist eine Gnade, das immer wieder feststellen zu dürfen.
Man ahnt natürlich, dass auch viel Fleiß und Verzicht dahinter stehen – vom Himmel fällt das Geschenk großer Kunst nur höchst selten.
Dafür aber werden auch die Mitwirkenden von einem sie einenden wie auch erhebenden Gefühl verbunden, miteinander wie auch mit den Zuschauern. Es gibt hier – das ist auch hörbar an den Reaktionen im Publikum, vom gemeinsamen Atmen übers Atemanhalten bis zum Kichern und freudigem Lachen – einen mustergültigen Austauch der Live-Parteien, ganz im Sinne des Theaterwissenschaftlers Martin Esslin. Ich kann die Lektüre von dessen Aufsätzen nur immer wieder empfehlen.
Und ich muss den „Sommernachtstraum“ von John Neumeier immer wieder empfehlen, ohne irgendeine Einschränkung und trotz oder gerade wegen der Liebesthematik darin für praktisch jede Altersklasse!
Es gibt ja sonst auch kaum ein Shakespeare-Ballett, das in so hohem Ausmaß – und auf so organische Weise – dramatische, lyrische und komödiantische Anteile vermengt. John Neumeiers Version von „Ein Sommernachtstraum“ ist ein universelles Stück: furchtlos und doch fruchtbar im Sinne von aufbauender Kreativität.
Man ist gebannt vom Liebeskummer am Fürstenhof, ergriffen von der Poesie stilisierter Sexualität im Elfenwald, und dann wieder lacht man Tränen über die brillant dilettierende Handwerker-Combo.
Von Beginn an spielt die abwechslungsreiche Szenenfolge des Stücks mit der Erwartungshaltung des Publikums – und nährt sie auf besonders spaßhafte Weise.
Zumal es in der jetzigen Hamburger Version auch Neuerungen gibt!
Wenn es anfängt, sieht man den schönen Rücken einer edlen Dame im Braut-Outfit, langsam geht sie von links vorn auf einen klassizistisch verzierten Standspiegel in der Bühnenmitte zu. Links hinter ihr steht eine blau-gold gemusterte Biedermeier-Recamière, eine vornehme Liege mit hochgestelltem Kopfteil.
Dieser Anfang ist neu im Vergleich zum Beispiel zur Münchner Version des Stücks, also zum ursprünglichen Beginn: Wenn sich da der Vorhang teilt, steht die Braut Hippolyta nicht allein auf der Bühne, sondern lässt sich von einem Dutzend Näherinnen letzte Stiche an die Schleppe setzen. Der Spiegel ist da nur ein Hintergrund-Requisit.
Neumeier-Kenner fühlen sich mit der Neufassung an eine Schlüsselszene aus der „Kameliendame“ erinnert – wie anders und doch wie ähnlich ist die emotionale Situation der jeweiligen weiblichen Hauptperson. In der „Kameliendame“ sinniert die noch nicht Verliebte über den drohenden Verlust ihrer weiblichen Reize, im „Sommernachtstraum“ grübelt die junge, an ihrem Bräutigam zweifelnde Braut über ihre Zukunft. Beiden steht Ungewissheit ins Gesicht geschrieben – und beide werden alsbald von einem Mann außerordentlich geliebt werden.
Alsbald beginnt das bunte Treiben der Vorbereitung der eigentlichen Handlung. Am Vorabend ihrer Verheiratung muss Hippolyta, die Braut – charmant und anmutig von der Weltklasse-Gastsolistin Alina Cojocaru getanzt – allerlei über sich ergehen lassen.
Den ersten kecken Sprung darf der Hofmaler (sehr schön: Illia Zakrevskyi) vollführen, dessen Portrait von der kommenden Fürstin Hippolyta mit wenigen Pinselstrichen vollendet wird. Ha!
Da kann auch der Zeremonienmeister Philostrat – mit köstlicher Haltung und exzellenten spiraligen Sprüngen von Alexandr Trusch getanzt – nichts herummäkeln.
Außer Hippolyta gibt es aber noch zwei junge Damen, die von den Gedanken der Liebe erfasst sind: die hübsche, langgliedrige Hermia (außerordentlich präzise, mitreißend und schön getanzt von Madoka Sugai) und die lustige, zierliche Brillenträgerin Helena (mit kecker Lebendigkeit: Leslie Heylmann).
Im Publikum saß übrigens mit aufmerksamem Lächeln die Ur-Helena und langjährige Leiterin von Neumeiers Ballettschule, Marianne Kruuse. Wer das Glück hatte, sie damals zu sehen, mit ihrer strikt vorwitzigen Gestaltung der Rolle bei blitzschneller Fußarbeit, wird das nie vergessen!
Helena war übrigens schon liiert mit dem schneidigen Offizier Demetrius. Der wird herausragend expressiv dargestellt, in allem, was er hier tanzt und gestikuliert: von Alexandre Riabko. Er tanzte vor einigen Jahren auch schon die Rollen des Puck und des Oberon mit kongenialer Kraft – er ist ein besonders vielseitiger Meistertänzer der Hamburger Truppe.
Demetrius hingegen schwankt in allem, vor allem in seinen Zuneigungen. Er wandte sich von Helena ab und der hübschen Hermia zu, obwohl diese bereits in den süßen Gärtner Lysander verliebt ist. Lysander wiederum ist ihrem Vater nicht Recht, weshalb sich ein Drama anbahnt… In einem Brief schlägt Lysander Hermia die nächtliche Flucht vor.
Für die Rolle des entschlossenen Lysander sprang bei der Wiederaufnahme gekonnt der galant-lyrische Matias Oberlin für den bravourös-geschmeidigen Jacopo Bellussi ein, der sich bei den Proben verletzte und dem wir von hier aus alle guten Genesungswünsche senden. Kopf hoch, auch die Regeneration gehört zu dem anspruchsvollen Beruf des Tänzers!
Weil aber nun Helena den Brief an Hermia findet und Demetrius zeigt, gibt es auf der Bühne gleich eine Gemengelage aus Eifersüchtelei.
Und schließlich findet Hippolyta, die Braut, den Brief – versonnen nimmt sie es auf, dass da ein junger Mann seine Herzensdame so sehr liebt, dass er mit ihr Hals über Kopf türmen will.
Ihr eigener Bräutigam flirtet derweil mit anderen schönen Jungfrauen am Hof, was respektlos und beängstigend auf Hippolyta wirkt. Immerhin überreicht er ihr eine ausnehmend schöne rote Rose als Brautgeschenk und Zeichen seiner sinnlichen Zuwendung – und mit dem Duft dieser buschig gefüllten Blume, die heute eine Baron Girod de l’Ain sein könnte (sie wird seit 1897 gezüchtet), findet die erregte Hippolyta auf ihrer Recamière einen unruhigen Schlaf.
Man muss dazu sagen, dass es hier nicht um irgendeine Sommernacht geht, sondern um die Johannisnacht, die Nacht der Sommersonnenwende, und zu Shakespeares Zeiten – das Stück wurde 1600 zum ersten Mal gedruckt vorgelegt – wurde sie ausgiebig mit munteren Liedern und Tänzen gefeiert. Fast kann man von einem Karneval im Sommer sprechen; die Engländer formulierten damals denn auch die „summer madness“, die sommerliche Verrücktheit, die auch dem Hochkochen der Hormone und der Liebestriebe geschuldet ist.
Im schick und neu gemachten Programmheft der Produktion ist das nachzulesen, ebenso wie der meisterhafte Essay „Das Mysterium der Liebe“ von Neumeiers Dramaturg und Pressechef Jörn Rieckhoff.
Er zeichnet den Weg Neumeiers von „Romeo und Julia“ zum „Sommernachtstraum“ nach, würdigt auch die verschiedenen Aufgaben der einzelnen Figuren.
Dabei wird auch Choreograf John Neumeier zitiert: „Tanz übersetzt Shakespeare ins Optische – aber nicht die Worte selbst, sondern die Bilderwelt, die Essenz dieser Worte.“
Der eigentliche „Sommernachtstraum“, den Hippolyta träumt und den wir nun sehen, spielt in einer entsprechend utopischen Sphäre.
Paradiesisch schöne, von hautengen Leotards und Kappen bekleidete Elfen leben ein Miteinander, das ganz unkompliziert und dennoch so harmonisch erscheint, als wären diese Lebewesen mit jedem Atemzug kollektiv miteinander tätig.
Es ist eine Glanzleistung des Ensembles und des Ballettmeisterteams: Wie hier männliche und weibliche Elfen, die Solisten und das Corps durch ihre Bewegungen eine Atmosphäre zaubern, der man sich nicht entziehen kann.
Futuristisch, elegant, autark – selten erreicht die Ballettkunst eine solche Intensität und Vielschichtigkeit im Gruppentanz.
Die Schwebeklänge von György Ligeti (1923 – 2006), die dieser Ende der 60er-Jahre an der Orgel schuf und die immer noch hammerhart modern erscheinen, passen genau zu dem gar nicht nostalgisch-verspielten, sondern existenzialistisch-avantgardistischen, aber auch in manchen Momenten revuehaften Momenten auf der Bühne.
Mit geschmeidigen Chainés kreiselt Puck, die zentrale Gestalt dieser von Zauber durchwirkten Geisterwelt, auf die Bühne.
Alexandr Trusch ist nach wie vor eine Traumverkörperung des schönen Kobolds, der mit seinem ersten Solo bereits in eine eigene Welt der individuellen Autonomie entführt. Dennoch kann man feststellen, dass er nicht mehr der bubihafte Jüngling ist, als der er zum Beispiel 2013 als Puck beim Hamburg Ballett auftrat. Sein Tanz hat viel Männlichkeit gewonnen, und sein heutiger Puck ist vor allem ein klamaukiges, neckisches Teufelchen, ein fast derbes Männlein im Walde, das hyperaktiv und stetig auf der Suche nach Beschäftigung und Ansprache ist.
Die poetisch-erotisierende, fast spirituelle Facette des Puck steht dieses Mal bei Trusch nicht im Vordergrund, sondern das Clownesk-Groteske – und siehe da, auch so gibt Puck einen faszinierenden Schelm ab, dessen Schönheit im Verein mit seiner schauspielerischen Komik begeistert.
Man darf vielleicht generell feststellen, dass der „Sommernachtstraum“ von 2019 beim Hamburg Ballett bodenständig wie nie zuvor ist; gerade das verleiht ihm einen gesellschaftskritischen Akzent, den zeitgeistige Gemüter sehr zu schätzen wissen.
Denn was ist denn das für eine Welt, in der die Liebenden in den Wald flüchten müssen, um zueinander zu kommen, und in der ohne die Magie von orgiastisch schön auftanzenden Elfen in erotischen Dingen nachgerade nichts funktionieren würde?
Es ist eine Klassengesellschaft, eine Ständegesellschaft, und die Kluften zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen sind nur äußerst schwer zu überwinden.
Lysander und Hermia bilden hier insofern ein Heldenpaar der Liebe – aber ohne tatkräftige Nachhilfe aus dem Zauberwald der Elfen könnten sie diesen Status nicht einnehmen.
Die Herrscher im Wald sind hingegen nicht einfach nur die Kollektive.
Mit Oberon und Titania steht ein recht kapriziöses Paar an der Spitze der Macht. Hippolyta erträumt sich hier selbst als Elfenkönigin und ihren Bräutigam als Herrscher über alle Feen. Denn die Hauptpartien im „Sommernachtstraum“ sind als Doppelrollen angelegt, die den Freud’ schen Gesetzen der Traumbildung zu gehorchen scheinen.
Darum wird aus dem ordnungsliebenden Zeremonienmeister im nächtlichen Traumwald der chaotische Puck – und aus dem unsteten Oberon ein Machtmensch mit fast skrupelloser Dominanz.
Christopher Evans tanzt diesen Mann aller Männer mit hochgradiger Souveränität, was umso erstaunlicher ist, als er mit nur 24 Jahren einer der jüngsten Oberone aller Zeiten ist.
Geradlinig steht er seiner Gattin, der Zauberin Titania, in einer spiegelbildlichen Pose gegenüber –Alina Cojocaru ist ihm ein zartes, aber bedeutendes Pendant.
Worum die beiden sich streiten, ist hier nicht ganz klar. Neumeier hat den dubiosen Lustknaben, um den es bei Shakespeare geht, mit moralisch-pädagogischem Feingefühl weggelassen. Aber die Choreografie spricht für sich: Titania besteigt ihren Mann mit dem Überlegenheitsgefühl der geliebten Dame, und wenn zwei starke Persönlichkeiten ein Paar bilden, braucht man keine dritte Person, um auch mal in Zwist zu geraten. Es geht ganz einfach um die Oberhand, um das Sagen in der Beziehung.
Das ist bei den griechischen Gottheiten, die Shakespeare vielleicht als Vorbild für seine Elfenhoheiten im Sinn hatte, nicht anders als bei den Menschen.
Puck ist an den Streitigkeiten anderer hingegen immer interessiert; er ist gern mit Sensationen und Sensatiönchen beschäftigt und lässt keine Gelegenheit aus, auch mal eigenhändig eine Situation zu verschärfen.
Oberon ist allerdings sein Boss, unverkennbar muss der Lümmel aufpassen, dass er ihm keine Sorgen bereitet.
Die neue Aufgabe, die Oberon für Puck hat, ist berückend: Es gibt eine Zauberblume, deren Saft, auf die Augen eines Schlafenden geträufelt, in diesem für die erste Person, die ihm beim Aufwachen begegnet, heiße Liebe entfacht.
Damit soll Titania für ihre Streitsucht bestraft werden…
Hierfür trifft sich die Handlungsebene der Elfen mit jener der im Nebenberuf Theater spielenden Handwerker-Truppe. Diese Combo stellte sich bereits am Abend bei Hofe vor und ließ sich für die Hochzeitsfeier den Zuschlag einer Aufführung erteilen.
In Hippolytas Traum turnen diese merkwürdigen Kumpels unter anderem im Zeitlupentempo durch den Zauberwald. Ein köstlicher Anblick!
Ihr Anführer ist der manische Zettel, der von Beruf Weber, aber ebenso ein richtiges Theatertier ist – und der am liebsten alle zu vergebenden Rollen im Laienstück „Pyramus und Thisbe“ alleine spielen würde.
Marc Jubete spielt diese Figur nicht mit dick aufgetragenem Tamtam, was durchaus auch funktioniert, sondern mit nachgerade tierischer Ernsthaftigkeit und einem guten Maß scheinbarer Seriosität, was die Komik der Rolle des verkannten Genies noch unterstreicht. Bierernst unternimmt er die absurdesten Aktivitäten – und man lacht sich kringelig!
Auch Borja Bermudez, der als Thisbe in Spitzenschuhen auftanzen darf, ist ein Highlight der ballettösen Theaterkunst, das man sich nicht entgehen lassen sollte.
Aleix Martínez als Löwe mit gefährlichem Kuschelfaktor, Marià Huguet als Mondschein, der auch mal die Sonne vor sich her trägt, Lizhong Wang und Leeroy Boone als unberechenbare Mauer sowie Louis Haslach als hochkarätiger Drehorgeldreher – sie alle gewinnt man lieb, weil sie einem mit hochgradig komischer Virtuosität die Absurdität des Daseins vorführen.
Charlie Chaplin wäre vor Neid erblasst und hätte eine Balletttruppe gegründet, wenn er das gesehen hätte!
Shakespeare hat mit diesen Handwerker-Burschen ja die Akademiker seiner Zeit treffen wollen, er lieferte mit ihnen eine Satire auf die auf ihre Fachkenntnisse eingebildeten Gelehrten ab. Motto: Ach, das sind die, die sich immerzu selbst viel zu wichtig nehmen! Und glaubt nicht jeder zweite Wissenschaftler, er sei ein verhinderter Künstler?!
Diese Metaphorik funktioniert auch und gerade in Neumeiers Ballett. Es ist zum Piepen, wie hier Männerbünde einerseits und Rüpelhaftigkeit in verschiedensten Varianten mit Slapstick und in Purzelbäumen zum Tragen kommen.
Definitiv unübertrefflich!
Der Lachtränenfaktor im Publikum ist sehr hoch.
Die leiernde, turbulente Drehorgelmusik, die sich die Handwerker auf der Bühne scheinbar selbst machen, passt dazu natürlich auch haargenau. Das Programmheft würdigt denn auch die Drehorgel, diesen volkstümlichen Vorgänger anderer technischer Hilfsmittel bei der Konservierung von Musik, mit einem hübschen Zitat von Felix Mendelssohn Bartholdy. Der meinte mal anlässlich eines neuen Werks: „Meine Sinfonie soll gewiss so gut werden, wie ich kann; ob aber populär, ob für die Drehorgel – das weiß ich freilich nicht.“
Man bescheinigt der Drehorgel tatsächlich, ebenso viel für die Popularität von Verdis Opernmelodien geleistet zu haben wie die Mailänder Scala. (Da besteht fürs Ballett-Journal ja noch Hoffnung!)
Von Mendelssohn Bartholdy selbst stammt indes der Großteil der Musik im „Sommernachtstraum“, und es handelt sich um seine bekannte, für eine Theateraufführung in Potsdam 1843 entstandene, das Schauspiel begleitende Musik.
Ein trefflicher Zufall, dass Jörg Rieckhoff, Neumeiers Dramaturg, über Mendelssohn Bartholdy promovierte. Sein Buch „Mendelssohns ‚Ouvertüre zum Sommernachtstraum‘ – Mechanismen der Rezeptionsgeschichte: Musik und Literatur in der Romantik“ erschien 2013 bei Peter Lang– und ist für Interessenten, die ihr musikwissenschaftliches Knowhow vertiefen wollen, sehr empfehlenswert.
Aber auch die musikalische Praxis ist wichtig!
Markus Lehtinen dirigiert mit feiner Hand und angemessen freiem Sinn das orchestrale romantische Schwelgen dieser Musik, ganz im Einklang mit den Tänzerinnen und Tänzern. Zart und filigran beginnen die Ouvertürenklänge, steigern sich mit den Bläsern und erhalten ihre Höhepunkte durch unterschwellige Marschrhythmen. Wäre das Ballett nicht so gut, man würde manches Mal die Augen schließen, um die Musik umso stärker zu genießen.
Das Orchester in der Oper, das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, hat übrigens seit neuestem zum Schutz vor geworfenen Blumen ein feines dunkles Netz über sich: Das wirkt von weitem wie eine Verlängerung der Bühne nach vorn.
Wichtig ist aber auch, sich auf das unterschiedliche tänzerische Personal im „Sommernachtstraum“ beimHamburg Ballett in aller Ruhe einzulassen.
Auch, wenn so eine Aufführung mit zweieinhalb Stunden relativ schnell vorbei geht – die Nachwirkung ist entscheidend und hier von umso größerer Bedeutung, als die Besetzungen den Rollen ein unglaublich vitales Flair verleihen.
Fast alle Hauptrollen hier sind bei der Wiederaufnahme Debütanten – bis auf Alina Cojocaru als Hippolyta / Titania, Leslie Heylmann als Helena und Alexandr Trusch als Philostrat / Puck.
Wenn die vier Liebhaber – also Hermia und Lysander, Helena und Demetrius – im Zauberwald auftreten, dann zeigen sich darin alle Automatismen, denen Verliebte früher oder später unterliegen können.
Zum „Scherzo“ der Musik betören Hermia und Lysander einander, verführen sich, sprechen sich Mut zu, entscheiden sich für die Liebe und gegen die Gesellschaft.
Demetrius hingegen ist zunächst blind für die bedeutsame Kraft der Liebe, die Helena ihm entgegen bringt. Die Komik, die ihre Versuche haben, sich ihm anzubiedern und ihn festzuhalten, ist hingegen kaum zu überbieten… Da gibt es Akrobatik und Slapstick satt, anspielungsreich und furios.
Und wenn Helena wild entschlossen – sozusagen als letztes Mittel – ihr Bustier öffnet (unter dem sie freilich noch ihr Kleid trägt), dann ist das ein rührender Aufschrei einer Zurückgewiesenen.
Im Gegenzug wird Demetrius ihr später, als er dank der Zauberblume endlich wieder in sie verliebt ist, kurzerhand die Beine öffnen und demonstrativ hinschauen, um sich ihrer femininen Attraktion zu versichern.
Solche erotischen Hinweise inszeniert Neumeier mit Stil und ohne Obszönität. Sein „Sommernachtstraum“ ist darum gerade auch für Teenager unbedingt sehenswert – Aufklärung und Romantik gehen hier ganz verliebt Hand in Hand.
Dass es im Stück noch allerlei Irrungen und Wirrungen gibt, dürfte bekannt oder zumindest jetzt zu erahnen sein. Da verwechselt Puck die Liebhaber, sodass sich die beiden jungen Männer in Helena verlieben und ihr auf dramatische Weise zugleich den Hof machen.
Dann wird Puck von Oberon auf witzige Weise abkommandiert, das auszubessern – und hat alle Mühe, schwere schlafende Körper durch den Wald zu manövrieren.
Titania aber muss sich, weil sie Oberon zu aufmüpfig wurde, in den mit Eselsohren in ein Tier verzauberten Handwerker Zettel verknallen – und es entspinnt sich eine lasziv-dubiose Liebschaft zwischen einem verdutzten Verführten und einer zwanghaft lustgierigen Elfenkönigin. Was für eine Schau!
Am Ende aber siegt die magische Kraft der barmherzigen Liebe… Ihre Heilungswirkung ist das eigentlich Belehrende hier und auch die berechtigte Hoffnung.
Oberon und Titania haben das tänzerische Schlusswort, in einem poetischen Pas de deux, der jeder Frau berechtigtes Vertrauen in starke und Schutz spendende Männlichkeit einflößt, während er den Männern ihre verantwortungsvollen Aufgaben der Weiblichkeit gegenüber ebenfalls verdeutlicht.
Die Stärken von Männern und Frauen mögen mitunter verschieden sein – aber nur gemeinsam werden sie auf dieser Welt Gerechtigkeit, Frieden und Liebe realisieren können.
Von solchen Werten, die durch Tanz vermittelt werden, ohne moralinsauer oder langweilig zu wirken, können und sollten Menschen lernen.
Dass es außerdem noch heftigen Klamauk zu sehen gibt – etwa beim Theater-im-Theater, wenn die Handwerker ihre verkrachte Liebestragödie auf der Hochzeitsfeier für Hippolyta und Theseus aufführen – sowie etliche erhebende Paartänze, Soli und Gruppenballette (gleich zwei Mal gibt der elegische „Hochzeitsmarsch“ von Mendelssohn dazu Anlass), versteht sich fast von selbst.
Als Hippolytas Freundinnen brillieren dabei Giorgia Giani, Greta Jörgens, Xue Lin, Emilie Mazon, Yun-Su Park und Priscilla Tselikova.
Giorgia Giani oder Greta Jörgens könnte man sich ohne weiteres auch als Helena vorstellen – leider sind sie bisher noch nicht dafür besetzt, zumindest offiziell nicht.
Aber Xue Lin wird in der Alternativbesetzung diese für Ballerinen wirklich untypische, dafür köstlich-muntere Partie tanzen, wahrscheinlich mit der bei ihr sehr geschätzten Bravour.
Florian Pohl und Mathieu Rouaux sind zwei adrette Soldaten, die ihre Damen wohl zu heben und zu halten wissen.
Alessandro Frola und Marcelino Libao – der mit absolut sehenswerten vielfachen Pirouetten, die an Ausdruck und Balance nichts vermissen lassen, begeistert – sind dazu überaus hübsche Gärtnergehilfen.
Das Corps der Elfen sei zudem noch einmal sehr dankbar belobigt – so viel Poesie im Einklang mit Akkuratesse und Erotik ist die Essenz dieses Balletts.
Und wüsste ich nicht ganz genau, dass Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“ bei den Hamburger Ballett-Tagen am 10.07.1977 uraufgeführt wurde, so würde ich vermuten, dass es sich um eine ganz neue Kreation handelt.
Obwohl – in so vielen Balletten und Revuen wird Neumeiers Elfenwald zitiert, etwa in Christopher Wheeldons 2007 in London uraufgeführtem Stück „Fool’s Paradise“, dass man schon darum ein Déja-vu erleben kann.
Sei’s drum: Auch Wheeldon wird diese Spielzeit beim Hamburg Ballett getanzt werden, im Junikommenden Jahres, bei den Hamburger Ballett-Tagen 2020: mit „The Winter’s Tale“ („Ein Wintermärchen“) wird es dann eine ebenfalls von Shakespeare inspirierte Antwort auf den „Sommernachtstraum“ geben.
Zuvor jedoch locken noch diverse Vorstellungen von Neumeier-Balletten zum Hamburg Ballett. Unter anderem die große Uraufführung im Dezember 2019, die „Glasmenagerie“, nach einem anderen, einem amerikanischen Dramatiker, der Neumeier und seinem Publikum ebenfalls bereits vertraut ist, nämlich Tennessee Williams.
Wer von der „Endstation Sehnsucht“ träumt und beim „Sommernachtstraum“ auch mal an kleinbürgerliche statt an feudale Verhältnisse denkt, der wird dann eine sicher mehr als nur befriedigende Antwort auf noch offene Fragen erhalten. Stück für Stück eröffnen Neumeiers Werke umso stärker neue Einsichten, je mehr man von ihm studiert. Ich habe es nie erleben müssen, dass das Vergnügen dabei auf der Strecke bliebe.
Gisela Sonnenburg
Über die Zweitbesetzung: http://ballett-journal.de/hamburg-ballett-ein-sommernachtstraum-john-neumeier-trusch-bouchet-revazov-frola-larzelere/