Die Anti-Teenager-Party Wer einen deprimierenden Quickie zu schätzen weiß, ist bei „Plateau Effect“ beim Staatsballett Berlin genau richtig

Graues Tuch ist Trumpf in "Plateau Effect" von Jefta Van Dinther beim Staatsballett Berlin

Ein ernstzunehmender Bühnenpartner ist das graue Tuch in „Plateau Effect“ von Jefta van Dinther beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Das Publikum kam nicht eben in Scharen. Die gestrige Premiere „Plateau Effect“ des Choreografen Jefta van Dinther beim Staatsballett Berlin war nicht mal annähernd ausverkauft. So wenig Zuschauerinteresse habe ich seit Bestehen der – vom Konkurrenz-Magazin „Tanz“ soeben in den Himmel gelobten – Berliner Company noch nicht erlebt. Der Zeitpunkt, die Truppe auszuzeichnen, war wohl denkbar schlecht gewählt. Dennoch kann man – mit viel gutem Willen – dem Intendantenduo Sasha Waltz und Johannes Öhman bescheinigen, nicht ängstlich zu sein. Die Eröffnung der Saison mit einer Premiere und dann auch noch mit einem nicht wirklich ballettösen Stück war schon ein Wagnis. Außer den Freunden der Künstler hat sich dabei womöglich auch kaum jemand amüsiert. Aber dafür kann man jetzt endlich im Opernhaus (in der Komischen Oper Berlin) eine Art von Kunst sehen, wie sie schon in den 80er-Jahren (damals im Off-Theater-Bereich in Berlin) immer wieder mit Pauken und Trompeten durchfiel.

Man nehme: Einige trainierte junge Menschen, die in Jeans, T-Shirts und Hemden aussehen, als würden sie für Esprit Werbung machen (fürs Kostümdesign reichte wohl das Budget der Uraufführung beim Cullberg Ballet 2013 in Stockholm nicht mehr, es ist jedenfalls kein Name verzeichnet); eine graufarbene Kulisse (Bühne: Simka, also Simon und Karin); Synthi-Musik mit viel Gewummere und Geblubbere, definitiv ohne Melodie und ohne festen Rhythmus, aber mit Minimal-Elementen und Scratch-Effekten (Sounddesign: David Kiers); Schwarzlicht- und Blitzeffekte wie aus einer guten Club Lounge, früher hieß das Disco (Licht: Minna Tiikkainen) – sowie eine zündende Idee, die die ganze Performance tragen muss.

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Die zündende Idee ist in diesem Fall das Anbringen eines sehr weiten, hellgrauen Vorhangs aus elastischem Stoff, der sich als ernstzunehmender Tanzpartner anbietet.

Und so stehen sechs Tänzer in einer Reihe vorm Vorhang, als einer zu singen beginnt. Er klingt wie ein Hobby-Sänger, der sich mit einem selbst gemachten Popsong a cappella in irgendeiner Fernsehshow bewerben will. Vielleicht würde Dieter Bohlen ihn sogar geil finden. Ich teile dessen Geschmack aber nicht.

„It’s driving high“, so lautet die oftmals wiederholte Refrainzeile: „Es fährt hoch“ heißt sie übersetzt, und gemeint ist offenbar ein emotionaler Strudel, dem sich die singende Person ausgesetzt fühlt. Sie guckt auch ganz traurig.

Die anderen greifen derweil nach dem Vorhangtextil, wurschteln damit herum, wickeln sich darin ein, versinken mit gequältem Gesichtsausdruck darin: Für eine Kindertheater-Version von „Le Corsaire“ oder auch vom „Untergang der Titanic“ wäre dieses Spiel mit Stoff durchaus geeignet.

Als Metapher für die Lebenssituation junger Leute scheint sie ein wenig kitschig.

Doch die Tragödie nimmt ihren Lauf, ohne erkennbaren Grund und ohne Anlass.

Graues Tuch ist Trumpf in "Plateau Effect" von Jefta Van Dinther beim Staatsballett Berlin

Wie ein Segelmast schwebt das zusammengewickelte Tuch über der Bühne. Wohin die Reise gehen wird, ist ungewiss. So zu sehen in „Plateau Effect“ von Jefta van Dinther beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Nach und nach lassen sich die Protagonisten vom Vorhang verschlingen, bewegen sich backstage – und nur der solistische Virtuose Vladislav Marinov, dessen Bühnenpräsenz in Berlin legendär ist, hat noch die Kraft für ein körperliches Vibrato höchster Qualität.

Schließlich gibt auch er nach, die Energie des großen Stoffteils scheint ihn zu besiegen.

Es ist aber nicht so, dass das Tuch den Stellenwert von bildender Kunst einnähme. Es ist keine Skulptur und kein bewegtes Bild. Es ist lediglich ein Objekt, das den ganzen Abend über mehr oder weniger lieblos behandelt wird. Auch wenn es zu Beginn eben nur ein Vorhang ist.

Alsbald darf das majestätische Grau selbst langsam gen Bühnenboden sinken, grelle Neonröhren oben an der Zugstange betonen sein modernes Aussehen. Ein Symbol für alles und nichts ist es: Das ewige Grau als das Es, das Sigmund Freud und Gilles Deleuze als Stütze wie als Feind ansahen, auch als naturhaftes Meer, das dem Menschen überlegen ist, oder auch als Sinnbild für Natur und Technik in Eins. Schade, dass es hier so farblos ist.

Kaum ist es gelandet, kommen die Tänzer herbei und machen sich über das textile Monstrum in hektischem Tempo her, lösen es von der Zugstange und bündeln es zu einem Haufen vielversprechender Stille.

Doch der Stoffberg macht nicht glücklich. Wer hätte das gedacht?

Rhythmisches Gerangel entsteht – statt Tanz – und man kann es sowohl als Fortschritt wie auch als Rückschritt der Kulturgeschichte bezeichnen, dass dieser Bewegungsstil, der typisch für Jefta van Dinther ist, als choreografische Prägung auch an einigen (wenn auch nicht bedeutenden) Ausbildungsstätten von ihm selbst gelehrt wird.

Graues Tuch ist Trumpf in "Plateau Effect" von Jefta Van Dinther beim Staatsballett Berlin

Manchmal gibt es Kontakt der einzelnen Protagonisten, zufällig und wie nebenbei und ebenso folgenlos. In „Plateau Effect“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Ich würde van Dinthers Stil eher der Gymnastik als dem Tanz zuordnen.

Zumal hier auch eine traditionelle Anbindung auf den Ausdruckstanz verweist, welcher bei seiner Entstehung ebenfalls gemeinsam mit Gymnastik gelehrt und öffentlich exerziert wurde, etwa bei Hitlers Olympischen Spielen 1936. Die fanden auch in Berlin statt. Leni Riefenstahl wäre womöglich begeistert von van Dinther.

Offenbar gibt es ein Streben nach modernen Formen, das sich aktiv von den Werten der Zivilisation löst, und dieses Streben verschmäht das Handlungsballett ebenso wie das Themenballett, vielmehr erfindet es sich immer wieder in immer wieder ähnlichen Formen der Abstraktion neu.

Wenn man den Sinn einer Sache weglässt, um die Sache selbst zu betrachten und zu „erforschen“, wie die Tanzszene es zumeist formuliert, bleibt nur das übrig, was tabuisiert und von niederem Rang ist. Das fasziniert manche Menschen, denn es appelliert unbewusst an den Sadismus.

Moralästhetische Maßstäbe haben hier aber keine Chancen zu wirken.

Insofern würde ich „Plateau Effect“ für Kinder verbieten.

Fragt sich, ob das Fehlen eines inhaltlichen Konzepts (der bei einem nicht gefestigten Zuschauer auch Schaden anrichten kann) generell häufig ein Problem des sogenannten Contemporary Dance ist, zu dem Choreografen wie van Dinther zählen. Anders als in anderen abstrakten Tänzen wird hier ein zu vermittelnder Gehalt verweigert, was die Gefahr birgt, dass sich Unlauterbarkeit durchsetzt.

Kunst – auch moderne, abstrakte oder avantgardistische – will aber etwas: Erheben, Ergreifen, Provozieren oder schlicht zum Nachdenken anregen. Darum hat sie mit Bildung zu tun, auch mit der Bildung von Herz und Hirn.

Einfach nur irgendwie Bilder umsetzen zu wollen, hat damit nichts zu tun.

Das ist das größte Problem, das diese staatlich finanzierte Non-Poesie mit sich bringt. Wer, außer ruhmsüchtigen Wissenschaftlern, soll eigentlich etwas damit anfangen?

Natürlich gibt es spießige Bürger, die glauben, sie seien besonders fortschrittlich, wenn sie Kunst, die sie nicht verstehen (weil es vielleicht auch nicht so viel zu verstehen gibt), über sich ergehen lassen, um sich damit modern, tolerant und offen zu finden. Das spiegelt den Narzissmus auf der Bühne.

Aber geht das über ein rein formalistisches Kunstverständnis hinaus? – Sicher nicht.

Jede private Tanzstunde, die man irgendwo nimmt, um sich körperlich zu verbessern, hat mehr Authentizität und mehr künstlerische Effekte. Solange man nicht behauptet, das sei nun öffentlich sehenswerte Kunst.

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Für ausgemachte Masochisten ist diese einstündige Anti-Teenager-Party in der Komischen Oper Berlin aber höchst empfehlenswert!

Sie können dann auch sicher genießen, wie die Tänzer in wechselnden Tempi – mal in Zeitlupe, mal hektisch wie in einer Spiele-Show – das graue Stoffding an Seile knoten, um daraus ein zweizipfeliges Zelt zu konstruieren.

Manchmal erinnert die Eile, mit der die Tänzer mit den Seilen hantieren, um aus dem Tuch ein Segel zu formen, an ein Regattaschiff.

Aber diese Deutung lässt sich nicht durchhalten, es sei denn, man erkennt eine Trockenübung in dem Bühnengeschehen: Reisen ohne Reisen, Segeln ohne Fahrt.

Auch der Abriss dieser Versuche, um den Stoff ähnlich wie einen überdimensionalen Teig am Boden auszubreiten, bereitet dann vielleicht Freude. Wenn die Tänzer dann auch noch unter die Stoffhaut kriechen und sich wie kleine Kinder dabei so allem geborgen fühlen wie in allem, was Dunkelheit verheißt, dann appelliert das außerdem an die Lust am Versteckspiel, die man vor der Pubertät auf diese Weise auslebt.

Es ist wohl eine Form des infantilen Narzissmus, die Jefta van Dinther exzessiv in seinen wenig originellen Fantasien auslebt.

Natürlich gibt es gerade in der Künstler- und Kritikerszene Menschen, die wie er empfinden, und die ihn darum großartig finden. Nur: Es ist gerade nicht das Kreative und Geistreiche, das er bedient, sondern das eher Hinhaltende, das durch und durch Egozentrische.

So entstehen auch keinerlei Beziehungen zwischen den Protagonisten auf der Bühne, sondern sie arbeiten sich konkurrierend am Stoffteil ab, als sei dieses ihrer eigenen Seele höchster symbolischer Ausdruck.

Zufällige Kontakte gelten nur Sekunden, dann verfällt alles wieder einer Anonymisierung.

Graues Tuch ist Trumpf in "Plateau Effect" von Jefta Van Dinther beim Staatsballett Berlin

Das Stofftuch als Hauptdarsteller – „Plateau Effect“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Jubal Battisti

Es ist eine alte Masche, immerzu auf „Ritual“ abzustellen, wenn einem sonst nichts einfällt. Genau das wird auch hier gemacht: Es handele sich um „das Öffnen eines Feldes für Assoziationen“, behauptet Jefta van Dinther im Programmheft.

Er verspricht dort auch eine „Zeremonie“, aber davon ist wirklich nichts zu sehen.

Wem allerdings nichts anderes einfällt, wenn er Menschen sieht, die sich mit 40 qm Stoff beschäftigen (die Quadratmeteranzahl ist dem Anschein nach geschätzt), der kann sich natürlich auf dieses Glatteis führen lassen und glauben, „Zeremonien“ würden so entstehen.

Ich persönlich habe meinen relativ hohen IQ, meine relativ hohe Bildung  – und meine Zweifel an solchen hypothetischen Vorgängen.

Jefta van Dinther gehört übrigens zum ökologisch zweifelhaften Jetset, er lebt in Stockholm und Berlin und arbeitet oft mit seinen oben genannten Helfershelfern für Bühne, Sound und Licht zusammen. Er wurde in den Niederlanden geboren und studierte an der Amsterdam School of Arts. Mit Ballett hat er im engeren Sinne nichts zu tun.

Entsprechend wichtig ist in seiner Arbeit denn auch die Kulisse, nicht die Kunst der Körper.

Der graue Vorhang wird schließlich am Boden zu einer attraktiven Wurst gerollt. Ich dachte dabei an Rosa von Praunheims Film „Die Bettwurst“, der ist allerdings deutlich humoristischer.

Noch einmal versuchen die Tänzer, sich mit wabernden Bewegungen vom Stoffteil zu emanzipieren, es mit Daraufsitzen in den Griff zu bekommen oder sich einfach mal von der Gruppe und der Wurst abzusondern.

Graues Tuch ist Trumpf in "Plateau Effect" von Jefta Van Dinther beim Staatsballett Berlin

Rennen, Ziehen, Knoten lösen: Abendfüllend ist das nicht – und „Plateau Effect“ von Jefta van Dinther dauert auch nur eine Stunde. Foto vom Staatsballett Berlin: Jubal Battisti

Es handelt sich dabei um Jenna Fakhoury, Yi-Chi LeeJohnny McMillan, Vladislav Marinov (der Einzige, der sich hier auf der Bühne richtig gut macht), um Ross Martinson, Dana PajarillagaTara Samaya, Harumi Terayama, Paul Vickers und Lucio Vidal. Sie sind außerordentlich tapfer! Diese kleine Auswahl ist aber sicher nicht typisch für das neue Staatsballett Berlin, und das ist der erste Trost, den ich zu verkünden habe.

Der zweite Trost: Die Show dauert nur eine Stunde. Ein deprimierender Quickie. Aber eben kurz. Und mit abruptem Ende – die Menschen, die die Vorstellung vorher verließen, ahnten indes wohl, dass sie nicht viel verpassen würden.

Plateau Effect“ bezeichnet in der Lernpsychologie übrigens eine Situation des Stillstands. Diesem Begriff ist hier als Titel vollauf zuzustimmen.

Jungen Menschen sei wirklich dringend vom Besuch der Show abgeraten, denn sie hat weder Erotik noch Poesie noch Geisteskraft noch irgendeine Form von Sensibilisierung oder Intelligenz anzubieten. Ältere Menschen mögen damit besser zurecht kommen und sich der Inhaltsleere mit zu erduldendem Schmerz hingeben können, ohne sich die Grundlagen für Geschmacksbildung zu verderben.

Tanz als magische Kunst – gibt es woanders!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

 

 

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