Der letzte Impresario Der Gründer der legendären „Ballets Russes“, Serge Diaghilev, würde heute 150 Jahre alt

Paris hat einen Place Diaghilev – Deutschland ehrt die Ballettkunst nicht so offensiv. Faksimile aus „John Neumeier. Unterwegs“ von Jan Peter Gehrckens. Faksimile von 3sat: Gisela Sonnenburg

Ein Impresario ist ein Theatermacher, ein Theatermogul, ein Veranstalter, ein Leiter und Verführer mit der Bühne. Bis ins 19. Jahrhundert waren solche Unternehmer mit Kunstsinn wesentlich, um überhaupt mehr als höfisches Theater stattfinden zu lassen. Und sie wurden von der Gesellschaft hoch geschätzt. Im Ballett gab es vor allem einen Menschen, der mit dem Titel „Impresario“ berühmt wurde: Serge Diaghilev, Gründer jener legendären Truppe, die ab 1909 unter dem Namen „Les Ballets Russes“ das russische Ballett nach Westeuropa und auf den amerikanischen Kontinent brachte. Schon damals war das russische Ballett das beste der Welt – mit Schwung, mit Noblesse, mit Kreativität, mit Passion. Und Diaghilev wusste, wie er seine Künstler:innen – nicht nur russische, sondern internationale Weltkünstler:innen – zu Höhenflügen motivierte. Klassik und beginnende Moderne reichten sich damals im Ballett die Hände. Zwanzig Jahre lang, bis zu Diaghilevs Tod, begeisterten seine Programme mit innovativen Ideen, die auf hohem Niveau ausgeführt wurden. Diaghilev war einer der intelligentesten, geistreichsten, findigsten Zeitgenossen seiner Ära. Also genau der Richtige, um die virile Tanzkunst zu erweitern und für sie zu missionieren. Heute würde der am 31. März 1872 unter dem Namen Sergei Pawlowitsch Djagilew als Sohn eines Generals im russischen Selischtschi Geborene 150 Jahre alt werden.

Okay, so alt wäre er vermutlich nicht geworden. Aber dass ausgerechnet dieser Mann, der die zarten Schönheiten des russischen Balletts ab 1909 in den Westen brachte, 1929 mit 57 Jahren relativ früh an den Folgen eines hässlichen  Furunkels in Verbindung mit Diabetes starb, ist schon gemein. Er war Ästhet durch und durch – und ein Brückenbauer der Künste, wie sie uns gerade heute schmerzlich fehlen.

Serge Diaghilev hat seinen 150.

1979 widmete John Neumeier seine „Hamburger Ballett-Tage“ den Ballets Russes. Die Karikatur von Jean Cocteau, die Serge Diaghilev zeigt, prangt auf dem Cover des Jahrbuchs. Cocteau zeichnete sie lange nach Diaghilevs Tod aus dem Gedächtnis. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Jean Cocteau zeichnete ihn in prägnanten Strichen als souveränen Macher, der das Monokel für den analytisch-scharfen Blick vor dem rechten Auge trug. Léon Bakst aquarellierte Diaghilev schon früher – und zeigte ihn mit keckem Blick unterm brünetten Haar mit der auffallenden weißen Strähne, während im Hintergrund seine Nanny saß. Eine typisch russische, mollige Frau, welcher der Zögling vermutlich viel verdankte.

Diaghilev kam als junger Mann in die Metropole Sankt Petersburg, um sich zu entwickeln. Er wollte Jura studieren. Doch bald hatte ihn das Kulturflair der Stadt fest im Griff. Kein Gedanke mehr an Sicherheit und Rechtsbelehrungen. Diaghilev ließ sich treiben, wurde kreativ – seine Talente für Malerei, Musik und Tanz stellten sich als vor allem kritisch-theoretischer Natur heraus. Er reiste in den Westen, nach Paris, begann zu trödeln, kaufte Antiquitäten und Kunst. Paris als geistiges Zentrum der westlichen Welt und auch als heimliche Schwulenhochburg nahm Diaghilev dankbar auf.

Er traf sich mit dem Romancier Émile Zola und dem Komponisten Jules Massenet. Sein guter Geschmack wurde immer prägnanter.

Zurück in Sankt Petersburg gründete Diaghilev die Zeitschrift „Mir Iskusstwa“ („Die Welt der Kunst“). Mitstreiter waren die Maler und späteren Kostümbildner Bakst und Alexandre Benois. Nach Letzterem wurde 1991 der bedeutendste Tanzpreis, der „Prix Benois de la Danse“, der „Oscar“ des Balletts, benannt. Jährlich wird er im Mai in Moskau verliehen – und ging bisher oft an westliche Tanzkünstler:innen. John Neumeier, David Dawson, sogar Christian Spuck wurden als Choreografen damit ausgezeichnet, und Tänzer:innen aller Nationalitäten hatte eine Chance, diesen höchsten Ballettpreis zu erhalten. Man möchte weinen, wenn man daran denkt, dass es in naher Zukunft kaum noch solchen kulturellen Austausch geben wird.

"Nijinsky" von John Neumeier

Nijinsky und sein Entdecker Diaghilev: Alexandr Trusch und Edvin Revazov in „Nijinsky“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Diaghilev ahnte all das nicht. Er ging an den Theatern in Moskau ein und aus, wurde ein geschätzter Berater und auch Regisseur. Und doch umwehte ihn das Flair eines Menschen, der ständig auf der Suche ist. Er begann, Ausstellungen zu organisieren, brachte so russische Kunst ins Ausland. Er inszenierte Veranstaltungen mit Kunst und Konzerten, experimentierte mit publikumswirksamen, auch erlesenen Konzepten.

1906 verlegte er seinen Wohnsitz in sein heiß geliebtes Paris. Aber er blieb ein Grenzgänger, ein Kosmopolit. Drei Jahre später gelang ihm, womit er unsterblich wurde: Er gründete die Balletttruppe „Les Ballets Russes“, die nach ihrem Tanzprogramm hieß, also „die russischen Ballette“. Hochbegabte Talente vor allem aus Sankt Petersburg vereinte Diaghilev darin zu einer bunten Wandertruppe. Mittelpunkt ihres Wirkens war zunächst Paris, später Monte-Carlo.

Kooperationen mit Künstlern wie mit Pablo Picasso für „Parade“ ließen das Ballettpublikum über ihren üblichen Horizont hinaussehen. Ohne Diaghilev würde es kaum das moderne Ballett geben, so wie wir es kennen.

Etliche der Choreografen, die Diaghilev oft blutjung akquirierte und anstachelte, für ihn unerhört tolle Sachen zu machen, gingen in die Tanzgeschichte ein. Darunter: Mikhail Fokine, der mit „Les Sylphides“ 1909 das erste sinfonische Ballett schuf; George Balanchine, der früh zu seinem oft exquisit-strengen, manchmal aber auch verspielt-erotischem Stil fand; Léonide Massine, der im Reigen der frühen Avantgarden einer der expressivsten Schöpfer wurde. Aber auch Bronislava Nijinska schuf Choreografien, wie sie die Welt vorher noch nicht gesehen hatte.

Ansonsten waren die Damen der „Ballets Russes“ vor allem als Tänzerinnen berühmt: Anna Pawlowa und Tamara Karsavina tanzten für Diaghilev, ebenso Olga Spessivtseva und Lydia Lopokova. Damals zählte nicht nur die Tanztechnik, sondern vor allem die Aura, die Seele, mit der die Kunst ausgeführt wurde.

Leslie Heylmann und Alexandre Riabko in „Le Pavillon d‘ Armide“ von John Neumeier, so anmutig zu sehen in der Doku „Nijinsky & Neumeier“ vom WDR. Videostill: Gisela Sonnenburg

Der größte Star der „Ballets Russes“ war allerdings männlich: Diaghilevs Beziehung zu seinem Lieblingsballerino Vaslav Nijinsky wurde ein Faszinosum für sich. Der Impresario entdeckte Nijinsky in der Petersburger Ballettakademie und zog ihn sich zunächst als Liebhaber heran. Er machte ihn aber auch zum Zugpferd der „Ballets Russes“, was deshalb so gut gelang, weil Nijinskys Anmut und Sprungkraft, sein „Ballon“, ebenso wie seine Ausstrahlung außergewöhnlich waren.

Als Nijinsky während einer Tournee nach Südamerika in Abwesenheit des Impresarios eine Ensembletänzerin heiratete, brach für Diaghilev eine Welt zusammen. Vaslav hatte wohl auf eine heimliche Menage à trois gehofft. Stattdessen wurden er und seine Frau von dem beleidigten Diaghilev gefeuert. Nijinsky wurde psychisch krank, man diagnostizierte Schizophrenie – er verbrachte über dreißig Jahre in Kliniken. Immerhin hielt seine Frau zu ihm, sammelte immer wieder Geld für die teuren Sanatoriumsaufenthalte.

John Neumeier hat in einem Superballett „Nijinsky“ die diffizilen Beziehungen von Diaghilev, Nijinsky und seiner Frau Romala sensibel in tänzerische Szenen umgesetzt.

Mit Vaslav Nijinsky verließ 1913 nicht nur ein weltberühmter Tänzer die Ballets Russes, sondern auch einer ihrer innovativsten Choreografen. Durch „L’Après-Midi d’un Faune“, dem „Nachmittag eines Fauns“ zur Musik von Maurice Ravel, wurde er bereits 1912 unsterblich. Noch stärker, sozusagen wie ein Meteorit, schlug er in der Geschichte des Tanzes auf, als er 1913 „Le Sacre du Printemps“, das „Frühlingsopfer“ nach den wilden Klängen von Igor Strawinsky, uraufführte. Paris stand Kopf. Und auch Diaghilev wurde mit dieser Nummer noch ein gutes Stück berühmter.

Nijinsky ist ein ergiebiges Thema

„Le Sacre“ in „Nijinsky“, allerdings zu anderer Musik und in einem ganz bestimmten szenischen Kontext: Patrizia Friza (mitte links) und das Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Vielleicht halfen ihm diese Erinnerungen, als er am 19. August 1929 in Venedig qualvoll mit seinem Tod durch die Furunkel-bedingte Blutvergiftung rang.

Die Ballettwelt wird ihn jedenfalls nie vergessen – die Ballette, die er ins Leben rief, bewahren auch sein Andenken.
Gisela Sonnenburg

Picasso, Parade, Pulcinella

Paar mit Pferd – das rosa Tier gehört zum festen Bestand von „Parade“ und sorgt regelmäßig für Lacher und Schmunzler. Foto: Oper Rom

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