
Eine Szene wie eine lebende Postkarte bildet den Beginn: Lennard Giesenberg als „Dichter“ in „Die kleine Meerjungfrau“ von John Neumeier. Unten liegt die Muschel mit dem Meeressound. Foto: Kiran West
Die Ballettwelt ist eine Märchenwelt. Mit einem mit Standing Ovations gefeierten, nachgerade berauschend schön getanzten Kunstmärchen begannen denn auch gestern, am Sonntag, die 50. Hamburger Ballett-Tage. Das Programm, „Die kleine Meerjungfrau“, ist gleich in mehrfacher Hinsicht märchenhaft – und mit Simon Hewett am Dirigentenpult ist auch die emotionsgeladene, oft stürmisch-melodiöse Musik von Lera Auerbach ein hoher dramatisch-lyrischer Genuss. Der Anfang des Kultballetts von John Neumeier mutet allerdings an wie der eines Kinofilms. Die Szenerie ist dabei gerahmt wie ein Postkartenmotiv. Die Handlung beginnt ganz zart: Ein Buch fällt da auf einem Schiff zu Boden, einige junge Frauen bemerken es nicht und kichern sich die Reling entlang. Irgendwie gespenstisch ist das. Und poetisch zugleich. Der Mann mit dem Buch ist der hier etwas versponnene, auf den Sitzlehnen eines Liegestuhls balancierende dänische Poet Hans Christian Andersen.
Aber der Kunstmärchendichter ist vom Anblick des Brautpaares, zu dem die kichernden Jungfern gehören und das jetzt für seinen ersten Kuss als Ehepaar aufmarschiert, gar nicht beglückt. Dennoch hat der Poet dieses Paar selbst beschrieben, wie ein Trauma, das er wiederholt, um es zu bewältigen. Denn Andersen ist homosexuell und lebt im 19. Jahrhundert, also in einer Zeit, in der es das nicht geben darf. Er leidet aber nicht allein. Auch für seine Titelheldin „Die kleine Meerjungfrau“ zerbricht mit der Hochzeit des Prinzen eine Welt aus Hoffnungen. Gab sie doch aus Liebe zu diesem begehrten hübschen Prinzen ihr komfortables Leben als Meerjungfrau in den Tiefen der Hochsee auf, um in der Nähe des Prinzen zu sein. Die Sache geht schief. Alsbald droht sie, in einem Meer aus Liebestränen unterzugehen.

Ida Praetorius als kecke Prinzessin beim Flirt mit dem Prinzen, den Matias Oberlin sehr passend smart-burschikos tanzt. Foto aus „Die kleine Meerjungfrau“ von John Neumeier: Kiran West vom Hamburg Ballett
Denn der Prinz verliebt sich standesgemäß in eine Prinzessin, und die Meerjungfrau bleibt für ihn eine komisch-kindliche Kumpeline, unerotisch und fast geschlechtslos. Dass sie ihm einst das Leben rettete und mit ihm unter Wasser den Traum der Liebe tanzte, wird er nie erfahren. Dennoch kommt es später mal fast zu einem Kuss, aber eben nur beinahe…
Der existenzielle Liebeskummer der Meerjungfrau ist so berührend, dass man Gänsehaut bekommt. Liebe ist halt nicht gerecht, sondern wer ihr verfällt, muss damit rechnen, nicht nur das Leben, sondern auch den Tod in ihr zu finden. John Neumeier fühlte sich empathisch sowohl in den realen Andersen als auch in die fiktive Meerjungfrau ein – und kreierte 2005 sein märchenhaftes Ballett über den Dichter und sein Geschöpf. Es wurde in Kopenhagen, der Stadt, in der Andersen lebte, uraufgeführt, anlässlich seines 200. Geburtsjahres. 2007 überarbeitete Neumeier das Stück fürs Hamburg Ballett, das es dieses Jahr erneut in einer leicht variierenden, etwas abgespeckten Version zeigt.
Die Geschichte der dänischen Meerjungfrau rührt nun schon seit Generationen die Kinderherzen, aber als Ballett entführt es auch die Erwachsenen in die vielschichtigen Gefilde der Fantasie.

Xue Lin, die sich zu einer ganz großen Tanzkünstlerin entwickelt hat, als „Die kleine Meerjungfrau“ von John Neumeier im Zwiespalt der Gefühle. Foto: Kiran West
Die gestrige Premiere in der Hamburgischen Staatsoper wurde denn auch ein Triumph für die Ballerinen und Ballerinos, vor allem für die überragende Xue Lin in der Titelrolle. Sie tanzte die Partie zwar erstmals schon vor rund zehn Jahren. Aber sie hat sie enorm in der Ausdrucksstärke entwickelt. Ihre Mimik, ihre präzisen Bewegungen – alles zeigt die mitreißende jeweilige Gefühlslage der Meerjungfrau.
Dass man überhaupt in nur wenigen Wochen diese große Produktion neu auf die Ballettbeine stellen konnte, grenzt an ein Wunder. So ähnlich formulierte es auch Lloyd Riggins, der sich allerdings nicht vor dem Publikum mit den Tänzerinnen und Tänzern verbeugte. Das war schade – so wurde eine gute Gelegenheit von ihm verpasst, sich als Mensch zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Noch kennt ja nicht jeder Besucher vom Hamburg Ballett Riggins‘ Gesicht – das sollte sich schnellstens ändern. Zumal bei vielen Staatsballetten bei einer Premiere auch die einstudierenden Ballettmeister zum Applaus auf die Bühne kommen. Das könnte man beim Hamburg Ballett doch auch mal einführen. Es wird Zeit, sich insofern aus dem Schatten Neumeiers zu lösen.

Ballettintendant Lloyd Riggins probt mit Starballerina Xue Lin „Die kleine Meerjungfrau“ – toll! Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Früher eine Muse des Tanztitans Neumeier, war der heute 55-jährige Riggins in den letzten Jahren stetig und bescheiden im Hintergrund sein Stellvertreter. Diese Bescheidenheit sollte er jetzt wirklich ablegen. Er ist der neue Chef vom Hamburg Ballett, niemand sonst. Und auch wenn er kein Mann für krass offensives Auftreten ist: Sich ab und an dem Publikum zu zeigen, ist er diesem schuldig. Der Job als Ballettchef ist immer auch der eines Leuchtturms.
Zur „Meerjungfrau“ hat Riggins indes beste Beziehungen: Er tanzte selbst die Figur des Dichters Andersen, zudem hat er das Stück an Theatern von San Francisco bis Moskau mit einstudiert. Dass er was kann, dass er fleißig und beharrlich ist, dass er die richtigen Leute ranholt und sich mit den Bühnentechnikern, den Musikern und dem so genannten Mittelbau gut versteht, hat Riggins schon bewiesen.
Sogar, dass er all dies auch ohne John Neumeier beherrscht, steht jetzt fest, denn der Meister ließ Riggins dieses Mal selbständig werken.
Auch der Premiere blieb John Neumeier fern. Die neue Ära beim Hamburg Ballett hat somit begonnen, und Lloyd Riggins ist bestens für sie gerüstet.
Vor ihm liegt derweil noch eine andere Mammutaufgabe als nur eine Einstudierung: In ähnlichem Eiltempo muss er das Ensemble vom Hamburg Ballett für die Zukunft neu formieren.
Denn die fünf Tanzstars, die aus Abscheu vor dem destruktiven Ex-Chef Volpi beim Hamburg Ballett kündigten, werden nicht zurückkehren, höchstens als Gaststars. Der besonders anmutige Alexandr Trusch wird fehlen, ebenso die virtuose Japanerin Madoka Sugai. Auch die drei weiteren Megabegabten, die woanders Engagements bekamen, reißen in Hamburg Löcher.

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Im Nu müssen neue Erste Solisten her. Normalerweise lässt man Nachwuchstänzer über Jahre in so ein Profil hineinwachsen. Diese Zeit hat Lloyd Riggins jetzt nicht. Immerhin wird Matias Oberlin, Erster Solist und schauspielerisch ein Vollblut, Vieles auffangen. Er kann sowohl die Liebhaber mit Verve verkörpern (wie jetzt den Prinzen in der „Meerjungfrau“) als auch die charakterstarken Bösewichte (wie die böse Fee in „Dornröschen“). Vervielfachen kann er sich aber auch nicht.
Xue Lin und Matias Oberlin machen jedenfalls allein schon das Drama der „Meerjungfrau“ zu einem Ereignis. Wie sich dieses Paar, das sich nicht kriegt, dennoch umgarnt und teils aus der jeweiligen Situation heraus, teils aus Missverständnissen intensiv miteinander kommuniziert, ist so faszinierend wie eine hoch erotische Lovestory.
Tatsächlich liebt die Meerjungfrau einen Mann, den sie im Grunde gar nicht kennt. Er wiederum kennt und schätzt sie – und übersieht ihre Qualitäten als Frau.
Das Märchen wird auf der Bühne im Rückblick erzählt. Was sonst das fröhliche Ziel jedes Märchens ist, nämlich die Hochzeit von Prinz und Prinzessin, ist hier der als tragisch empfundene Wende- und Fluchtpunkt.
Aber wie ein unsichtbarer Geist und Strippenzieher wohnt der Poet Andersen, ganz vorzüglich verkörpert und in all seinem Schmerz und all seiner Lust fasslich dargestellt von Lennard Giesenberg, allem Geschehen bei. Es ist ja seine Geschichte, die erzählt wird.
So visioniert er, wie der Prinz Golf spielt, sich als Seekapitän profilieren will, dann aber einem Ball hinterher jagend im Wasser landet, ohnmächtig wird – und die Meerjungfrau ihn tanzenderweise auf dem Grunde des Meeres rettet.

Liebe, die unsterblich ist, hier mal wie unter Wasser getanzt: Xue Lin als „Die kleine Meerjungfrau“ mit dem Prinzen (Matias Oberlin). Foto: Kiran West
Es ist ein erster Höhepunkt des Abends, diesen Pas de deux zu sehen: Exzellent transportiert er die beiden unterschiedlichen Wesen und Charaktere, die da eine ungleiche Liebesaktion miteinander betreiben. Die Frau ist hier der aktive Part, der Mann – als zunächst Bewusstloser – jemand, der sich nicht ganz freiwillig hingibt. Gerade dadurch wird er zum Liebesobjekt der Seejungfrau.
In einer anderen Welt, in einer ohne Standesunterschiede und ohne die vier Elemente, hätten sie als Pärchen vielleicht eine Chance. Aber unter Wasser kann er nicht leben und an Land kann sie nicht ohne weiteres gehen. Also rollt sie ihn zunächst an den Strand, um selbst ihren prächtigen Fischschwanz gegen Frauenbeine einzutauschen.
Weil sie ihre stolzen Flossen – im Ballett ist der Schwanz ein überlanger blauseidener Hosenrock – dem Meerhexer opfern musste, um als Frau an Land gehen zu können, sitzt die Meerjungfrau dort zunächst im Rollstuhl. Aus der souveränen Unterwasserfee ist eine klägliche Gehbehinderte geworden, die sich zu allem Überfluss in der für sie neuen Welt nicht auskennt.
Das naive Staunen, auch das Leiden unter der dummen, oberflächlichen Welt der Menschen ist vorzüglich aufgezeigt. Das Leben am Hofe – angefüllt mit Vergnügungsreisen per Schiff und skurrilen Festen – verfolgt die kleine Meerjungfrau so neugierig wie entsetzt.
Ein Wutsolo allerdings, das es in der ersten Hamburger Version gab, und das gerade Xue Lin sehr stark tanzte, entfällt heuer.
Klar wird dennoch: Mit der erhabenen Unterwasserwelt hat die bunte, hysterische Lebensweise des Adels nichts zu tun.

Die Hofgesellschaft und der Poet, der sie sich – nach realem Abbild? – erfunden hat: Szene aus „Die kleine Meerjungfrau“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West
Und dann noch diese sportive, kecke Prinzessin, die im pinkfarbenen Hosenanzug äußerst sexy wirkt… Sie becirct den Prinzen, und die Meerjungfrau kann nur zusehen.
Xue Lin tanzt die Meerjungfrau ja nicht zum ersten Mal. Aber seit ihrem Debüt hat sie ihre Tanzkunst zu einer neuen Blüte geführt. Es ist wirklich in jeder Sekunde sehenswert, was sie zeigt. Begeisterung, Liebe, Neugierde, dann der Kummer, die Einsamkeit, das Fremdsein in der Welt…
Xue Lin ist als Meerjungfrau eine so moderne Heldin des Tanzes, mit allerlei raffinierten Hebungen und Schleifschritten, mit wellenhaft fließenden Arm- und Beinbewegungen, mit einem Spiel mit den Füßen, die mal barfuß, dann in Spitzenschuhen einherkommen, dass sie unbedingt einen Preis dafür erhalten sollte.
Matias Oberlin überrascht an ihrer Seite als smart-burschikoser Prinz, der mit allen Wassern der guten Laune gewaschen ist. Er ist nicht eindimensional, dieser Prinz, nur kommt es ihm nicht in den Sinn, dass auch Gestrandete wie die Meerjungfrau Gefühle für ihn haben könnten. Golfspielen, Flirten, sich als Offizier der Marine produzieren – all das macht dieser Prinz gern und bedenkenlos, zumal mit der Haltung unvermeidlichen Sieges. Aber nichts liegt ihm ferner als die romantisch-melancholische Schwärmerei, in die er all jene versetzt, die sich unglücklich in ihn verlieben.
Mit dem Dichter und der Meerjungfrau sind das ja schon zwei. Und sie leiden.

Xue Lin als „kleine Meerjungfrau“ im Klammergriff des Meerhexers (Louis Musin), hinter ihnen wacht ein „Magischer Schatten“. Wie dramatisch! Das ebenfalls dramatische Foto stammt von Holger Badekow
Aber da ist ja noch Louis Musin als Meerhexer, und er ist so köstlich wild, so sprungstark, so gerissen, dass man meint, einen Meeresteufel zu sehen, der selbst den Prinzen an guter Laune noch übertrifft. Mephisto unter Wasser scheint von allen bösen Göttern der Liebling zu sein… Auch Louis Musin ist übrigens, wie Matias Oberlin, ein Phänomen an Vielseitigkeit, was Rollengestaltung angeht. Hier sieht man seine wilde Seite, aber er ist auch ein liebevoller Darsteller des Romeo.
Die Prinzessin hingegen, hinreißend leichtblütig getanzt von Ida Praetorius, ist vornehm, gutmütig, fit, ein wenig ignorant – und bestens geeignet als Gattin eines Sunnyboys, der allen, die ihn mit Wohlgefallen anschauen, den Kopf verdreht.
Die Meerjungfrau aber will ihn für sich. Als Außenseiterin versucht sie ihr Glück – und scheitert. Nicht mal die Prinzenbraut nimmt sie als weibliche Konkurrenz ernst.

Der Pas de trois zeigt die beiden unglücklich Verliebten und ihr Sujet: Lennard Giesenberg, Matias Oberlin und Xue Lin. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Es entspinnt sich ein Pas de quatre vom Prinzenpaar, dem Dichter und der Meerjungfrau, in dem die Interessen aller vier Charaktere ihren Ausdruck finden. Das ist ganz großes Ballettkino!
Auch ein späterer Pas de trois von Prinz, Prinzessin und Meerjungfrau ist kein rein dekoratives Element. Die Sehnsucht nach Liebe und Harmonie eint noch die unterschiedlichsten Lebewesen.
Um zu sein wie die Prinzessin, übt die Meerjungfrau allein in einer weißen Box das Sein in einem Internatsmädchenkostüm für höhere Töchter. Aber Kleider allein machen noch keine Leute. Das Lebewesen aus dem Meer ist einsam in der Menschen lärmiger Welt, findet weder Anschluss noch zu sich selbst. Sie ist die Gefangene einer Situation, die sie in Panik verfallen lässt.
Sie sieht ihre eleganten Beine an – und ihr ist zum Weinen zumute. Was sind solche Frauenbeine doch gegen die Flossen einer Meerjungfrau…
Es weint auch in der Musik. Lera Auerbach, die russisch-österreichische Komponistin, die in den USA lebt, schuf für Neumeiers Stück eine Orchesterpartitur um ein besonders seltenes Instrument herum: um das Theremin. Nur zehn Menschen weltweit können es spielen, und es klingt wie eine sanft wabernd heulende Leier. Lydia Kavina spielt es in Hamburg, mit großartigen Nuancen.
Aber auch der Konzertmeister Konradin Seitzer – an der mitunter auch wunderschön schluchzenden ersten Geige – muss erwähnt werden. Im Einklang mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg wird ein grandioses musikalisches Niveau erreicht. Nicht zuletzt dank Dirigent Simon Hewett, wohlgemerkt.
Auch bei der Hochzeitsfeier ist das so. Aber die Prinzessin, die so gerne Pink trug, hat jetzt das knallweiße Brautkleid an. Charmant-verliebt tanzt sie mit dem Prinzen. Mit ihrem Prinzen, ihrem Bräutigam.

Endlich im pinkfarbenen Kleid – zu spät… Xue Lin als tragische „Meerjungfrau“ mit des Prinzen Mütze. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Unsere Meerjungfrau aber hat endlich auch ein pinkfarbenes Kleid ergattert – doch zu spät. Pink ist out, um sich den Prinzen zu angeln. Er ist vergeben.
Die Melodie weint. Wie hier Musik und Tanz zusammen passen, ist kein Zufall: Neumeier hat Auerbach entdeckt, als er ihre Musik für sein Stück „Prélude CV“ verwandte. Dann fragte er sie nach einer Kooperation für die „Meerjungfrau“, die als Auftragswerk des Königlichen Dänischen Balletts entstand.
Aber auch musikalische Anklänge an einen Song („Soldaten wohnen / auf den Kanonen“) von Brecht / Weill dürften auch kein Zufall sein: Zünftig und unerbittlich nimmt alles seinen Gang.
Und nur, wenn der Prinz dem Rauschen lauscht, das aus dem Innern der großen Muschel kommt, die hier sozusagen der Talisman der Inszenierung ist, gehört er für wenige Sekunden der Meerjungfrau. Dann berühren sich ihre Träume, dann ist es, als seien sie wieder unter Wasser, er ohne Bewusstsein, sie im Vollbesitz ihrer Kräfte. Und die reichen für zwei…
Dass sie ihm das Leben rettete – er wird es nie erfahren. Für ihn ist sie nur eine seltsame Freundin, deren Emotionen ihn nichts angehen. Sie leidet und leidet…
Der Meerhexer schließlich flöst ihr ein, sie habe ein Recht auf Rache. Und der Dichter gibt ihr probehalber mal ein Messer. Als Schriftsteller kann er sie auch töten lassen. Sie ist ja seine Kreatur. Doch sie will es nicht, ihre Absichten sind rundum friedlich und liebevoll.
Aber der Meerhexer tanzt einen Pas de deux mit ihr, versucht sie an den Gedanken der Rachsucht zu gewöhnen. Mit Erfolg.

Xue Lin als Meerjungfrau und Louis Musin als Meerhexer: Wie geht das mit der Rache? Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Dann schafft sie es nicht, den Prinzen oder seine Erwählte zu erdolchen. Fast legt sie noch an sich selbst Hand an. Als der Prinz ihr Messer findet, treibt er zu allem Überfluss auch noch Schabernack damit. Er macht ja immer Scherze, wenn er auf seine komische Freundin aus dem Meer trifft.
Sein Lieblingsscherz ist das vermeintliche Stehlen der Nasenspitze. Wie man es mit kleinen Kindern macht. Schwupps – hahaha, ist ja nur der Daumen, nicht die Nase!
Ein letzter Pas de deux zwischen Prinz und Meerjungfrau bringt alle Missverständnisse unter einen Hut. Er tanzt mit ihr, weil er sie mag und schätzt. Sie tanzt mit ihm, weil sie ihn liebt. Zwischen ihnen liegen Welten.
Hier kommt es zwar beinahe zu einem Kuss, weil sie ihn so völlig entgeistert und ehrlich anschaut, und jede Pore ihres Gesichts scheint ihm zu sagen, dass sie ihn liebt und begehrt. Das hypnotisiert ihn schon. Aber da läutet eine Glocke aus der Ferne, und er denkt an seine Prinzessin.
Als er geht, ist das Herz der Meerjungfrau gebrochen.
Ihr zarter Körper flattert und weint. Sie rollt sich auf dem Boden, geht in eine Contraction, bäumt sich auf, scheint zu kreischen. Sie rappelt sich auf, tänzelt kleine Schritte in den Spitzenschuhen, lässt sich fallen, kommt zum Stillstand.
Wütend löst sie ihre Schnüre an den Füßen. Weg mit den Requisiten einer Frau, weg mit den eleganten Schuhen. Weg auch mit dem pinkfarbenen Kleid. Im Unterrock tanzt sie noch einmal das Solo ihrer Träume. Die Meerjungfrau, die ihre Identität aus Liebe aufgab…
Verzweiflung packt sie.
Sie flüchtet in ihre weiße Box, martert sich, sucht einen Ausweg. Es ist so beklemmend.

Flucht in die weiße Box: Der Dichter muss die Meerjungfrau erlösen… Foto: Kiran West
Schlaghölzer in der Musik verkünden Lethargie. Ihre Box öffnet sich im Hintergrund – der Poet mit seinem Buch kommt zum Vorschein. Er muss sie jetzt retten, sie ist ja sein Geschöpf. Was wird er tun? Schnell noch ein Happy End erfinden?
Doch das wäre makaber, unglaubhaft. Der Prinz ist nicht so angelegt, dass er ein exotischen Wesen einer hochwohlgeborenen Prinzessin vorzöge. Und die Meerjungfrau ist zu monogam, um sich nach dieser verkrachten Liebe rasch noch einen anderen Marineoffizier zu suchen. Sie passt nicht in die Welt der Menschen, aber zurück in die malerische Unterwasserwelt kann sie auch nicht gehen. Das ist vom Meerhexer so nicht gedacht.
Der Poet legt seine Hand auf die Wange der erschöpften Meerjungfrau. Besser ist es, er holt sie zu den Sternen. Diesen Weg wird er mit ihr gemeinsam gehen.
Der Bühnenhimmel, der zuvor oft von neonblauen Schlieren bedeckt war, wird jetzt ein Sternenzelt, das sich im Wasser unter den Füßen der beiden Tanzenden spiegelt.
Poet und Meerjungfrau werden beim gemeinsamen Wandeln in Zeitlupe unter diesen Sternen unsterblich.
Es ist so fantastisch. So ergreifend. So läuternd. Das ist große Kunst. Und nicht das, was mit Trivialmusik und lautem Gedöns einher kommt.

Ein Tanz in die Ewigkeit: Xue Lin und Lennard Giesenberg am Ende von „Die kleine Meerjungfrau“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow
John Neumeier hat hierin nicht nur als Choreograf gewirkt. Auch die schicken Kostüme, das puristisch-gekonnte Bühnenbild und das absolut vortreffliche Bühnenlicht stammen von ihm. Das Licht allein ist schon ein Traum für sich: nicht zu grell, aber auch nicht zu düster, mit sanften Übergängen und mit den Farben spielend wie ein Gemälde.
Fazit eins: Der sonst oft absurd wirkende Undine-Mythos – und der all dieser anderen Unterwasserfrauen der Kulturgeschichte, wie Melusine oder auch die Sirenen in der Antike – wird in diesem Ballett zu einer nachvollziehbaren Geschichte. Und die Fischfrau ist hier nicht nur ein Symbol für das Begehren der Anderen, sondern sie hat selbst ein menschliches Herz.
Fazit zwei: Es handelt sich um ein modernes Handlungsballett, wie es sein soll. Die psychologische Durchdringung der Figuren und der Choreografie ist einleuchtend, aber nicht plakativ oder gar platt.

Xue Lin hier in verschiedenen Posen beim Tanzen in „Die kleine Meerjungfrau“ von John Neumeier. Die Fotos stammen von Holger Badekow.
Auch das Ensemble hat in seinen häufigen Auftritten – sei es als Prinzengefolge, als Matrosen, als Brautjungfern, als Hochadel, als Meeresvolk – so expressive Körperbewegungen, dass man ständig hingucken mag und sich nur wünscht, dieser Tanz möge nie vergehen.
Solche Stücke können nicht viele. John Neumeier kann. Und Lloyd Riggins kann sie auf die Bühne bringen. Was wollen die Hamburger mehr?!
Viel Freude jetzt mit den 50. Hamburger Ballett-Tagen, die es zu ihrem runden Jubiläum nach dem Volpi-Skandal nicht ganz leicht haben werden. Aber das Programm bietet genügend hochkarätige Abwechslung, um sich zu ergötzen.
Gisela Sonnenburg
P.S. Es gab etwas Skurriles bei dieser Premiere. Denn manche Zuschauer hatten Tickets, auf denen „Demian“ stand, andere hatten welche, auf denen „Surrogate Cities“ zu lesen war, und nur auf einem Teil der Karten stand richtig „Die kleine Meerjungfrau“. Der Grund ist derselbe, weshalb auch manche Plätze nicht besetzt waren: Zunächst war ja ein Abend mit einem Stück von Demis Volpi eingeplant (erst „Demian“, dann „Surrogate Cities“). Das schlug einen Teil der sonst eingefleischten Ballettfans schlicht in die Flucht, ließ sie schon mal in den Urlaub fahren oder sich etwas anderes für den gestrigen Sonntag vornehmen.
Und nur die „Freunde des Ballettzentrums Hamburg e. V.“ hatten gestern, soweit anwesend, auffallend ein Schlechte-Laune-Gesicht aufgesetzt. Sie hatten nämlich auf Demis Volpi gesetzt und müssen sich jetzt langsam damit abfinden, dass die Ballettkunst in Hamburg erstmal auf Neumeier-Niveau bleibt.