Ein Mädchen ist am Morgen seines zwölften Geburtstags mit sich allein. Und tanzt mit einer filigranen Porzellanballerina, die es sich vom Regal geklaubt hat. Ein aufregender Tag steht dem Kind bevor: mit bunten Bändern aus dem Dekolleté der großen Schwester, mit frischen Blumen, mit einem niedlichen Nussknacker – und mit fein satinierten Spitzenschuhen. All dies sind die Geburtstagsgeschenke, die Marie hier im Stück gemacht werden. Aber ihr schönstes Geschenk ist ihr eigener Traum, eine Vision, in der sie tanzen lernt. Denn John Neumeier funktionierte „Der Nussknacker“ in seiner Version, die 1971 in Frankfurt / Main mit Marianne Kruuse in der weiblichen Hauptrolle uraufgeführt wurde, kurzerhand um: vom typischen Weihnachtsballett zu einem Stück über die Wonnen des klassischen Tanzes.
Darin tauchen dennoch fast alle Zutaten auf, die ein „Nussknacker“ in den Augen der Klassikfans haben muss: eine festliche, aber auch aufgekratzte Stimmung im ersten Teil, eine verwunschen-beglückende Sphäre im zweiten und eine folkloristisch-euphorische im dritten. Aber: Es gibt kein Weihnachten, keinen Schnee, keine Schneeflocken, auch keine Schlittschuhläufer auf der Bühne. Es gibt überhaupt keinen Hinweis auf eine Spielzeit im Dezember. Den Kostümen nach könnte es sich um Herbst, Winter oder auch beginnenden Frühling handeln. Ganz klar: Die weibliche Biologie, nämlich das Erwachsenwerden eines kleinen Mädchens, hat hier als Zeitpunktbestimmung die äußere Datierung „Weihnachten“ abgelöst. Zugleich aber wird Erwachsensein mit der Ausformulierung eines Traums begründet: dem Traum vom Balletttanzen. Der autonome Wunsch des Kindes, seine Neigung zur Tanzkunst, befördert somit seine Erziehung zum mündigen Subjekt. Szenisch ist beides an die Kunst des Balletttanzens, sogar ganz spezifisch an die des Spitzenschuhtanzes, gekoppelt.
Das ist, als Kunstgriff Neumeiers, schon eine ganz enorme Eigenwerbung von Ballett für Ballett – und das ist einmalig in der Vielfalt der Inszenierungen und Überarbeitungen, die der „Nussknacker“ seit seiner Uraufführung in Russland im 19. Jahrhundert erlebt hat.
Mal abgesehen davon, dass das Uraufführungsdatum von Neumeiers „Nussknacker“, nämlich 1971, zu Gunsten der Hamburger Premiere im Oktober 1974 vom Besetzungszettel und dem Innendeckblatt im Programmheft der Hamburgischen Staatsoper verschwiegen wird (ein unverständlicher, wissenschaftlich verfälschender Vorgang), handelt es sich um einen der am meisten bejubelten Klassiker im Neumeier’schen Werk. Selbst bei einer normalen Repertoire-Vorstellung gibt es am Ende eine freudige Begeisterung im Publikum, die nahe legen würde, der Zeitpunkt der Premiere sei erst kurz zuvor gewesen. Wenn man von „ewiger Jugend“ oder von „zeitloser Frische“ im Ballett schwadronieren möchte, so hat man hier genau den passenden Anlass.
Zwei Aspekte kommen dabei zusammen. Zum Einen die auffallende Stärke des Librettos, was Handlung und Aktion angeht. „Der Nussknacker“ von John Neumeier ist ein äußerst detailfreudiges Handlungsballett. Die opulent-stilvollle Ausstattung von Jürgen Rose, die es bereits in Frankfurt gab, während die Choreografie in Kleinigkeiten für die Hamburger Fassung überarbeitet wurde, unterstützt diesen Eindruck noch maßgeblich. Andererseits aber gab und gibt es hierin auch lange Passagen von „Tanz pur“, die sich keineswegs in den folkloristischen Divertissements des Schlussbildes (wo sie typisch für eine „Nussknacker“-Inszenierung sind) erschöpfen.
Insbesondere der schon erwähnte zweite Teil des abendfüllenden Balletts – Neumeier meidet den Begriff „Akt“ und verwendet stattdessen die Formulierung „Bild“ – entspricht, als Traum der weiblichen Hauptperson verkleidet, ja einer Referenz ans Ballett schlechthin.
Zu diesem Zweck wird ein anderer Ballettklassiker als „Der Nussknacker“, der 1892 in Sankt Petersburg mit der bis heute benutzten Musik von Peter I. Tschaikowsky uraufgeführt wurde, zitiert. Nämlich: der im Januar 1948 im dänischen Kopenhagen uraufgeführte Einakter „Études“ von Harald Lander. Das Stück versteht sich als Hommage ans klassische Ballett-Training und bringt zu Musik von Carl Czerny Ballettstangen ebenso auf die Bühne wie die seither legendäre, atemberaubend schöne Silhouette von Ballerinen in romantischen Tutus, die an der Barre, der Ballettstange, ihren täglich zu absolvierenden Übungen („Études“) nachgehen. Es ist eines der ersten bedeutenden abstrakten Ballette und stellt, durch die weißen Kostüme, auch eine Neuformulierung des Begriffs „Ballet blanc“ („Weißes Ballett“) dar.
Da im Mittelteil vom traditionellen „Nussknacker“ sonst stets ein „Ballet blanc“ aus vom Damencorps personifizierten tanzenden Schneeflocken erscheint, ergibt sich hier nochmals ein historischer Bezug. Neumeier verwirft den „klamottigen“, in gewisser Weise karnevalesken Schneeflockentanz zu Gunsten eines Plädoyers für das moderne Ballett. Denn natürlich ist Landers Arbeit fürs Königliche Dänische Ballett eindeutig der Moderne zuzurechnen, obwohl sie ausschließlich aus ganz klassischen Schritten besteht. Aber nie zuvor hatte jemand das klassische Training zur Kunst erhoben und es für würdig befunden, mit einer Dreiviertelstunde Dauer damit einen ganzen Akt auf einer Ballettbühne zu bebildern.
Den Übungen an der Barre, der Stange, folgen in Landers „Études“ Übungen und Kombinationen „au milieu“, also ohne Stange, denn genau so ist ja auch das ganz normale körperliche Training im Ballett aufgebaut. Am Ende stehen, wie auch in allen Ballettsälen dieser Welt, die spektakulären Sprünge der Herren.
In gewisser Weise könnte man Harald Landers Arbeit als europäisches Pendant zur Abstraktion des klassischen Balletts in den USA durch George Balanchine bezeichnen. Denn auch Balanchine spielte mit den Topoi der Trainingseinheiten. Allerdings ging er nie soweit wie Landers, aus dem Training selbst ein Stück zu erstellen. Eine gewisse Nähe der beiden choreografischen Stile von Landers und Balanchine darf jedoch nicht abgestritten werden. 1961 fand die US-Premiere von „Études“ in New York statt, nicht beim New York City Ballet, sondern beim American Ballet Theatre.
Der Siegeszug des „Silhouettenballetts“ insbesondere auch in nicht-ballettöse Bereichen hinein, wie in die Werbung und in die bildende Kunst sprich ins Design war dann nicht mehr aufzuhalten: zahllose Fotografien und Illustrationen bishin zu Geschenkpapiermustern und Postkartenmotiven zitieren Landers „Études“: mit den typischen tutubewehrten Ballerinen an der Trainingsstange im starken Gegenlicht. Nur der Name des dänischen Tänzers und Choreografen geriet darüber fast in Vergessenheit.
Man muss dazu sagen, dass die Idee von Lander (oder seinem Beleuchter, wer weiß) zwar hoch genial anmutet, seine choreografische Umsetzung des Themas aber nicht wirklich erhebend ist. Eigentlich wünscht man sich, die „Études“ hätten einen anderen, begabteren Choreografen gefunden. John Neumeier macht da einen Anfang, indem er die Szenerie zitiert, aber eine eigene Choreo, die sich zudem organisch in seinen „Nussknacker“ einfügt, schöpfte: Die Szenen nicht nur des Ballerinencorps, sondern auch die Pas de deux, die sich daraus entwickeln, sind in Neumeiers „Nussknacker-Études“ von exquisitem Zauber und den langatmig-langweiligen, fast kunstgewerblichen Kombinationen von Lander weit überlegen!
Das Ballett im Ballett, das Neumeier somit im Mittelteil seines „Nussknackers“ erschuf, ist dennoch eine Referenz an „Études“ ebenso wie an den Gegenstand, dem auch „Études“ gewidmet ist: Es geht um den klassischen Tanz als körperliche Kunstausübung, auch schon als Lebenshaltung an sich.
Es ist dennoch schade, dass das Programmheft der Hamburgischen Staatsoper trotz diverser Text- und Bildbeiträge nicht auf Harald Lander hinweist, zumal John Neumeier bekannterweise als junger Mann in Kopenhagen Einzelunterricht bei der berühmten Pädagogin Vera Volkova genommen hatte und von daher mit der dänisch-russischen Tanzkunst vertraut war.
Zudem reiht sich Neumeier mit seinem „Études“-Zitat in eine ganz und gar nicht belanglose Tradition ein: in die der Entwicklung des abstrakten Balletts aus den Grundlagen des klassischen Tanzes. Als Vorläufer kann hier „Les Sylphides“ von Mikhail Fokine, uraufgeführt 1909, erachtet werden, und auch diverse Stücke von Balanchine – wie die „Sinfonie in C“ von 1947 – können dazu gezählt werden. Vergleicht man den knallblauen Bühnengrund, den es sowohl in „Sinfonie in C“ als auch zeitweise in den „Études“ gibt, so kann man auch mit Fug und Recht vermuten, dass Lander mit seinen „Études“ von 1948 eine aktuelle Antwort auf die ihm zu dem Zeitpunkt dann wohl schon bekannte „Sinfonie in C“, die ja in Paris uraufgeführt worden war, gab.
Zurück nach Hamburg. Wenn sich der Vorhang im „Nussknacker“ nach dem ersten Bild, der um 1900 angesiedelten, familiären Geburtstagsfeier für die zwölfjährige Marie, hebt, dann liegen bereits zahlreiche schauspielerische Aktionen hinter den Darstellern und uns, ihrem Publikum. Es ist erstaunlich, mit wievielen Aktionen en detail hier choreografiert und inszeniert wurde – ich wage zu behaupten, dass es kaum ein anderes Handlungsballett gibt, das derart interaktionsintensiv ist wie dieses erste Bild in John Neumeiers „Nussknacker“.
Wer viele Aufführungen dieser Inszenierung hinter sich hat, weiß es: Man kann wirklich jedes Mal etwas Neues entdecken, zumal unterschiedliche Besetzungen auch unterschiedliche Interpretationen anbieten.
Man wird mit einer Großfamilie alten Stils konfrontiert. Die Eltern, die Geschwister, die Freunde der Geschwister, die Großeltern und andere Verwandte, die Hausangestellten, weitere Domestiken und natürlich der als Ballettmeister auftretende Drosselmeier sind mit nahezu Stanislawski’scher Gründlichkeit als Bühnenfiguren entwickelt. Von „Maries betrunkener Tante“ bis zu „Maries kunstbeflissener Tante“, vom rheumatisch im Trippelschritt laufenden „Diener“ über das „Dienstmädchen“ bis zur „Haushälterin“: Man könnte glatt eine Fernsehserie über diesen Hausstand drehen oder meint auch fast, eine solche zu sehen, so individuell konkret ist das Stückpersonal gekennzeichnet. Entsprechend die schauspielerischen Acts hier.
Am 7. Januar 2016 trat die von mir mal so genannte „argentinische Besetzung“ des Hamburg Balletts auf, in der drei der fünf Hauptrollen mit argentinisch-stämmigen Ballerinen und Ballerini besetzt sind. Auch Florencia Chinellato, die Darstellerin der Marie, der weiblichen Heldin, aus deren Sicht wir den Abend erleben, hat argentinische Wurzeln: Florencia wurde 1986 in Argentinien geboren, erhielt aber an der Ballettschule des Hamburg Balletts – John Neumeier ihren Schliff als Tänzerin. Seit 2005 gehört sie zum Ensemble, seit 2012 ist sie Solistin. Die Marie im „Nussknacker“ ist eine ihrer Paraderollen, wie auch die Julia in „Romeo und Julia“ und die Olympia in Neumeiers „Kameliendame“. Ihr Stil ist erfrischend-fröhlich, manchmal lasziv, eher selten melancholisch, aber immer von großer Klarheit geprägt. Eine bezaubernde Armarbeit ermöglicht ihr viel Ausdruckskraft. Nach einer langen Auszeit wegen einer komplizierten Verletzung steht sie jetzt wieder mit gewohnter Keckheit und Grazie auf der Bühne.
Als Marie spielt sie das naive, aber sehr neugierige junge Mädchen, das mit einer gewissen Anmut und Eleganz, aber auch bewusst gespielter Unbeholfenheit durchs Leben marschiert. Die Marie von Florencia Chinellato entwickelt sich zügig, sozusagen im Traum vom Kind zum Backfisch: Zu Beginn ist sie ein fast gehemmt wirkendes verspieltes Ding, das für sein erstes Solo zum Anfang des Stücks, gleich nach der Ouvertüre, wenn der Vorhang sich hebt, das Kuschelspielzeug fallen lässt und sich vom Regal die Porzellanballerina holt.
Chinellato tritt in ihrem Tanz in eine intensive Beziehung zu dem Figürchen, das sie vor sich auf den Boden stellt: Sie tanzt es an, sie „unterhält“ sich in ihrer kindlichen Körpertanzsprache mit der sehr feminin wirkenden kleinen Statue – und Florencias Marie ahmt, absichtlich typisch laienhaft, mit vorgerecktem Zeigefinger und mit fast verkrampfter, so angespannter (statt locker gehaltener) Hand die vornehm-graziöse Handpose der Porzellantänzerin nach. Nun ja, die anmutigen Hände von Ballerinen bezaubern jeden, und tatsächlich sind vor allem schon herangewachsene Kinder für diese Art der Schönheit sehr empfänglich. Es ist nämlich Erotik (nicht zu verwechseln mit Sex), die von der auf ballettöse Art gehaltenen Hand ausgeht!
Und prompt klopft das Erwachsenenleben in Maries kleiner Welt an. Mit ihrer Schwester Louise – in der „argentinischen Besetzung“ von Carolina Agüero mit delikater Eleganz getanzt – tritt eine „echte“ Balletttänzerin auf.
Dieser Auftritt der Louise wird von allen Neumeier-Fans besonders gemocht. Denn Louise streckt zunächst nur einen Fuß – mit dem schönen Spitzenschuh daran – durch den Vorhang, um Marie dann zum Geburtstag zu gratulieren. Louise schleicht sich sozusagen an, wie sich auch das Erwachsensein nebst Erotik in das Leben junger Menschen sozusagen einschleicht.
Die große Schwester als Vorbild – das ist nun wieder ganz realistisch, weniger symbolhaft gedeutet. Tatsächlich verkörpert Louise im Stück bei Neumeier eine Profitänzerin, sie ist „Ballerina am Hoftheater“. In ein lachsfarbenes, scheinbar eng anliegendes, sehr damenhaftes Kostüm gewandet, steht sie für die erfolgreiche Weiblichkeit an sich.
Carolina Agüero ist hier eine Traumbesetzung! Und das, obwohl oder weil sie mit bereits 40 Jahren eben keine unreif-jugendliche, sondern eine ausformuliert-frauliche Primaballerina ist. Carolina ist ein denkbar eleganter Beweis für die großartige „Langlebigkeit“ mancher klassischer Tänzer(innen) in ihrem Beruf. Natürlich kann sie Dinge, die eine Zwanzigjährige nicht kann! Man sollte wirklich abrücken vom Jugendwahn, ob im Ballett oder in anderen Sphären. Ohne es zu wollen, avanciert Carolina Agüero hier zu einem Vorbild!
Und auch ihre Tänzervita ist interessant. Sie tanzte, bevor sie zum Hamburg Ballett kam, bereits die Titelrollen des klassischen Balletts, und zwar beim Finnischen Nationalballett in Helsinki. Geboren ist sie aber in Argentinien, wo sie auch ausgebildet wurde. Noch aus dieser Frühzeit ihres ballettösen Werdegangs kennt sie ihren Ehemann Dario Franconi, der mit ihr nach Helsinki ging und von dort mit ihr nach Hamburg kam. Die beiden brachten mit ihrer unverkennbar lateinamerikanisch-südländisch geprägten Stilistik eine eigene Note mit nach Hamburg; sie tanzen, wenn die Ballettmeister sie lassen, etwas „verschnörkelter“ als die vom geradlinigen Neumeier-Stil geprägten Absolventen der Hamburger Ballettschule – und das ist auch mal eine willkommene Abwechslung, gerade bei den großen Solistenparts.
So sind Carolinas Ports de bras (ihre Armbewegungen) weniger schlicht als die von vielen anderen Neumeier-Ballerinen, dafür aber theatralischer, es sind große, betont gefühlvolle Gesten, die sie vollführt. Im Zusammenklang mit der „eloquenten“ Fußarbeit wirken sie majestätisch und nahezu unantastbar. Kein Zweifel: Wenn es darum geht, eine Ballerina als Ballerina zu zeigen, ist Carolina Agüero genau die Richtige.
Ihr Ehemann Dario Franconi tanzt in dieser Besetzung den Vater von Marie, also auch den Vater von Louise – und als Mutter ist Miljana Vracaric eine umsichtig-hintergründige Besetzung. Immerhin ist es diese Mutter, die die kleine Marie rückwärts stößt, damit sie mit Günther, dem Freund oder Verlobten von Louise, zusammen prallt.
Tatsächlich entwickelt sich daraus ein spaßhafter Pas de deux – Marie hat in Neumeiers „Nussknacker“ viele witzige Paartänze mit den erwachsenen Männern Günther (einmal mehr nonchalant-entzückend von Alexandr Trusch getanzt) und dem Ballettmeister und Chef von Louise namens Drosselmeier.
Apropos Drosselmeier: Alexandre Riabko, gebürtiger Ukrainer und also ganz sicher kein Argentinier, ist in dieser Rolle derart in seinem Element, dass man sich kaum noch vorstellen kann, dass er ja auch so viele andere Rollen mit anderen Couleurs im Repertoire hat. Es ist einfach fabelhaft, wie Riabko vom ersten divenhaften Auftritt im „Nussknacker“ an die Contenance behält und den eigensinnig-egozentrischen Charakter dieses Ballettmeisters mit jeder Geste – und derer sind viele, in allen drei Teilen – widergibt.
Riabko kam als Tanzstudent nach Hamburg, wurde in der Ballettschule des Hamburg Ballett ausgebildet, und er stieg dann in der Truppe zügig auf, bis zum Ersten Solisten, der er seit 2001 ist. Insofern hat er heuer ein Jubiläum, er ist fünfzehn Jahre Primoballerino, man darf sagen: Herzlichen Glückwunsch an ihn und an sein Publikum, dem er Vorstellung für Vorstellung ein unverwechselbares Vergnügen bereitet, mit seiner ballettösen Präzision wie mit seiner Spielfreude, mit hoher Loyalität zu seinen Rollen, aber auch mit seinem Humor. Als Drosselmeier hat er viele verschiedene Besetzungen der Marie zu meistern – und erledigt das mit viel Fingerspitzengefühl, führt zum Beispiel die sehr erfahrene Alina Cojocaru hier viel fordernder als die im Vergleich fast schüchtern wirkende Florencia Chinellato. Aber auch ihr gibt er gern Gelegenheit, mit Witz zu glänzen, wie auch der Alternativbesetzung Emilie Mazon, die meiner Meinung nach sowieso eine grandiose Sache für sich ist. Hierzu gibt es auch ein Rollenportrait im ballett-journal.de (siehe Link unten).
Alexandre Riabko als Drosselmeier weiß jedenfalls stets, was zu tun ist. Da wirbelt er mit dem rosa gefütterten Umhang, da zupft er sich die in Ludwig-II-Manier gekräuselten Locken, da wischt er sich entnervt den Schweiß von der Stirn – alles mit einer theatralischen Großartigkeit, die ihresgleichen sucht. Dazu kommen saubere Serien von Pirouetten und – als choreografisches Leitmotiv für die Neumeier’sche Figur des Drosselmeier – das von drei Anlaufschritten eingeleitete, großartig „gefühlte“ Grand jeté.
Wahrlich, dieser Ballettkünstler hier ist zugleich eine psychologische Figur und auch eine kleine Satire auf die Wahrheiten der Ballettwelt. Denn natürlich sind Ballettmeister, die zugleich Trainer und Regisseure sind, von ihrem Beruf geprägte Persönlichkeiten, und nicht immer sind sie auf Außenstehende unkompliziert wirkend. Dieser Drosselmeier hier hat ein ausgeprägtes Schönheitsempfinden, auch eine gewisse Eitelkeit, und dass er Marie zum Geburtstag Spitzenschuhe schenkt, ist sicher kein uneigennütziger Akt, sondern er hofft wohl, da ihre Schwester eine so begabte Tänzerin ist, auf eine weitere Ballerina, die es lohnen wird zu trainieren und zu fördern.
Vorher aber tanzt Fritz, Maries Bruder, mit seinen Kadettenfreunden, auf: Emanuel Amuchástegui ist ein weiterer in Argentinien geborener und auch dort ausgebildeter Tänzer des Hamburg Balletts. Der bald 25-Jährige hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich entwickelt, er ist auf gutem Wege, vielleicht auch mal Solist zu werden, mit akkuraten schönen Sprüngen, feingliedriger Armarbeit, schönen Drehungen und vor allem viel Spielfreude und auch schauspielerischer Kraft. Er gewann übrigens 2010 beim Prix de Lausanne, dem wichtigsten Ballettnachwuchs-Wettbewerb, und Neumeier engagierte ihn von dort gleich in die Company.
Eine Konkurrenz für den gebürtigen Ukrainer Alexandr Trusch, den absoluten „Prinzen“-Typus, der dennoch auch bereits ein sehr vielseitiger Schauspieler unter den Hamburger Primoballerini ist, kann allerdings so rasch niemand sein.
Marie alias Florencia Chinellato macht sowohl mit ihm als auch mit Drosselmeier, also mit Alexandre Riabko, eine putzig-neckische Figur, ohne jedoch den Klamauk als solchen auszustellen. Hier unterscheidet sie sich von Emilie Mazon, die die Rolle gekonnt sehr clownesk und hinreißend komisch interpretiert.
Den entsprechenden Mut zur Hässlichkeit beweist Chinellato zwar nicht, dafür aber bewahrt sie in allen Bewegungen schöne, wie mit dem Federhalter gezeichnete Linien.
Als sie nach der Geburtstagsfeier mit ihren Spitzenschuhen allein ist, kommt auch das noch einmal schön zum Tragen, bevor im zweiten und dritten Bild die Action das Bild beherrscht. Ich erinnere mich zudem an eine Vorstellung im Jahr 2011, in der Chinellato, nachdem sie fast hilflos allein die ersten Schritte in den Spitzenschuhen unternahm, sehnsuchtsvolle „orientalische“, seitliche Schlängelbewegungen mit den Armen vollführte. Das tat sie heuer nicht, aber das Sehnsuchtsmotiv wird dennoch deutlich, bevor das Kind Marie, in den neuen Tanzschuhen müde vom Spielen, am Boden liegend einschläft.
Im Traum kommt Ballettmeister Drosselmeier zu ihr und entführt sie in die Welt des Balletts. Sprich: In das zweite Bild, das die „Études“ zitiert – und das als Silhouettenballett wie als Trainingsszene im hell erleuchteten Ballettsaal im Hoftheater alle Magie verströmt, die Ballett verströmen soll.
Hier meistert und korrigiert Drosselmeier seine Vorzeigeballerina Louise, hier sieht man, wie am Körper im Ballett gearbeitet wird. Und Marie, die plötzlich wirklich tanzen kann und darüber selbst am meisten staunt, darf einen wunderschönen, an Hebungen reichen Pas de deux mit ihrem Schwarm Günther tanzen, der – im Traum ist alles möglich – jetzt als Primoballerino auftaucht.
Mit den zartgliedrigen Damen ergibt sich ein Tableau des Balletts, das den Geist der Abstraktion atmet und dennoch ins handlungsstarke Libretto passt – fantastisch.
Dennoch ist es nie Tanz um des Tanzes Willen, was wir hier sehen – es geht vielmehr darum, mit der Kunstform Tanz einen Inhalt zu vermitteln. So steht das Tanzen selbst als Sinnbild fürs Wünschen, fürs Glauben, fürs tätige Hoffen – es ist ein utopisches Moment, das, wenn auch nicht eben tagespolitische, so doch gesellschaftstragfähige Bedeutung hat.
Ballett als Kosmos im Kosmos – als Welt in der Welt.
Nach der Pause kommt hier noch eine Sphäre hinzu: die Aufführung. Ballett nicht als l’art pour l’art, sondern als bühnenorientierte Kunst.
Maries Traum geht nämlich weiter. Und Drosselmeier zeigt ihr darin, wie eine Aufführung gemacht ist. Da sind die Kulissen! Bordeauxrot-golden ist hier alles, vor allem auch die Kostüme des Paars Louise und Günther. Übrigens hat jede Compagnie, die Neumeiers „Nussknacker“ mal gespielt hat, legendäre Paare für die Besetzung dieses Paares. In München waren es vor allem Lucia Lacarra und Marlon Dino, die begeisterten.
Wir haben es mit einer Bühne auf der Bühne zu tun. Im Hintergrund, am eigentlichen Bühnenhorizont, muss sich erst ein Vorhang heben, um den Blick auf die Tänzer des Theaters frei zu geben. Das knüpft im übrigen an das erste Bild in Neumeiers „Nussknacker“ an, denn auch dort gibt es einen Vorhang im Hintergrund, hinter dem Louise hervor kommt. Ihr Sich-Einschleichen ist ja noch gegenwärtig, wenn man das dritte Bild sieht.
Später hebt sich auch im ersten Bild der Vorgang und zeigt dahinter, fein gruppiert, die Geburtstagsgesellschaft für Marie, und das darin zu sehende Miteinander von drei Generationen (mit einem fantastisch den Großvater spielenden Sasha Riva) ist im Ballett so selten, dass man sich hier tatsächlich an die Namenstagsgesellschaft in John Crankos „Onegin“ erinnert fühlt. Neumeier war als junger Tänzer ja Mitglied in Crankos Stuttgarter Truppe und während der Kreation des „Onegin“ in Crankos Ballettsälen anwesend. Da ergibt sich also wieder eine Tradition, die zu zitieren ist.
Im dritten „Nussknacker“-Bild handelt es sich zudem auch um eine Festgesellschaft, die hinter dem Vorhang auftaucht, aber es ist keine banal-alltägliche, sondern eine, die sich dem Tanz verschrieben hat.
Es folgen denn auch die Folklore-Ballette, die jedes für sich Einzelstücke und tänzerische Juwelen sind. Sie zitieren ihrerseits klassische Ballette. So ist der „Lebende Garten“, den das Ensemble hier darstellt, weniger mit dem traditionellen „Blumenwalzer“ des „Nussknackers“ zu vergleichen, auch wenn er zur selben Musik statt findet, als vielmehr mit dem „lebenden Garten“ aus „Le Corsaire“.
Und „La File du Pharaon“, ein beim Hamburg Ballett oftmals hochkarätig mit Ersten Solisten besetztes Pas de deux, benennt bereits im Titel das Ballett, an das es erinnern soll: „Die Tochter des Pharao“ („La Fille du Pharaon“) war einer der großen Erfolge von „Dornröschen“-Choreograf und „Nussknacker“-Konzipist Marius Petipa im zaristischen Russland. Pierre Lacotte hat übrigens dankenswerterweise vor einigen Jahren eine wunderschöne Rekonstruktion der „Tochter des Pharao“ geleistet, die auch am Bolschoi gefeiert wurde.
Mit Anna Laudere und Edvin Revazov ergab sich am 7. Januar 2016 ohnehin ein Event im Event, als die beiden diese ägyptische Nummer darboten. Lauderes umwerfend schöne Linien bei den hohen Attitüden und Revazovs zurückhaltende, aber starke Partnerschaft bildeten einen Anblick, als sollten die zwei neuartige Gottheiten der Liebe verkörpern. Da passten die freizügigen Kostüme, die neben viel Gold auch reichlich bronzebraun geschminkte Haut zeigten, sehr schön dazu. Berechtigte Bravos kürten diesen Paartanz.
Der in jedem „Nussknacker“ unvermeidliche spanische Tanz – mit entsprechend temperamentvoller Musik unter der rhythmisch ausgerichteten Leitung von Garret Keast – heißt hier „Die Schöne von Granada“ und stellt ebenfalls einen ballettösen Mikrokosmos dar. Insbesondere Thomas Stuhrmann zeigte hier Spaß an der Freud, an kleinen, schnellen Schritten, an stolzer, Torrero-ähnlicher Haltung.
„Esmeralda und die Narren“ bezieht sich wohl auf das Ballett „Esmeralda“ nach Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre- Dame“ – und ironisiert dieses zugleich, indem es die Narren, die es in vielen „Nussknacker“-Versionen gibt, mit einbindet. Leslie Heylmann zeigte als Esmeralda Anmut und Schwung, ließ sich gern im Spagat herumtragen, während ihr närrisches Gefolge mit bester Laune Grimassen schnitt und Purzelbäume vollführte. Eine vorzügliche Arbeit! Und irgendwie erinnert diese Truppe auch immer ein bisschen an die närrischen Tänzer in John Crankos Version von „Romeo und Julia“…
„Der chinesische Vogel“, den Madoka Sugai mit Alexandre Riabko tanzen durfte, hatte nicht ganz die Brillanz, die andere Tänzerinnen ihm schon entlockten. Nicht nur in Hamburg, sondern auch in München oder Dresden, wo Neumeiers „Nussknacker“ ebenfalls schon als Publikumsrenner auf dem Spielplan stand, kann man da manchmal richtig verzückt staunen. Beim Semperoper Ballett reüssierte zum Beispiel Rebecca Gladstone, die heute eine der besten Ballettmeisterinnen ist, die ich kenne, in diesem Part. Ihr Drosselmeier war der damalige Primoballerino Raphael Coumes-Marquet, der seit der laufenden Spielzeit ebenfalls Ballettmeister in Dresden ist.
Madoka Sugai in Hamburg ist hingegen ein eher unschönes Beispiel für eine tänzerische Entwicklung. Sie startete als Lausanne-Gewinnerin mit zauberhaften Balancen und sehr anmutigen Gesten. Auch in Neumeiers Nachwuchs-Company, dem Bundesjugendballett, fiel sie oft mit schöner Intensität auf. Seit sie aber im Hamburg Ballett tanzt, sank ihr künstlerischer Stern kontinuierlich. Mittlerweile scheint aller emotionaler Ausdruck aus ihrem Körper gewichen. Ob das ein Dauerzustand wird oder es sich nochmal ändert – keine Ahnung. Es gibt nun mal unvorhersehbare Tendenzen bei Tänzern, sowohl ins Positive als auch ins Negative. Und Körperkünstler sind keine Roboter, die man minutiös berechnen könnte.
Bei den „Variations des hommes“ stachen aber ungetrübt Karen Azatyan und Christopher Evans mit männlichem Karatglanz hervor, während Mayo Arii, Futaba Ishizaki, Xue Lin und Lucia Ríos als „Pas de quatre“ ihre wunderhübsche Mädchenhaftigkeit vorzeigten.
„Die tanzenden Leutnants“ alias die drei Kosaken-Modifizierungen sind natürlich immer ein Knüller. Emanuel Amuchástegui, Aleix Martínez und Konstantin Tselikov bilden da keine Ausnahme! Neumeier lässt das rasante Stück mit mannshohen Bock-Sprüngen übereinander beginnen und mit dem Sprung des einen Tänzers in die ausgestreckten Arme der beiden anderen enden, sodass der Springer schließlich wie auf einer Liege sich scheinbar bei den Mittänzern ausruhen kann. Top! Fritz (Emanuel Amuchástegui) tanzt hier übrigens als „Leutnant“ mit, obwohl er vom Ausbildungsgrad her Kadett, also Offiziersanwärter ist, wie Günther auch. Nun ja. Hauptsache, sie tanzen!
Und das tun auch die beiden Verliebten Louise und Günther, die mit einem fulminanten Einstiegspaartanz den Grand pas de deux eröffnen. Ach! Oh! Es hat unendlich viel Energie und Grandiosität, wie hier allein qua Tanz sozusagen aus der Handlung ausgebrochen wird und märchenhaftes Prinz(essinn)en-Theater gegeben wird.
Hohe Hebungen, rasche Führungen, Pirouetten, „Fische“, Sprünge, manchmal synchron, oft aber auch unterschiedlich auf dieselbe Musik getaktet getanzt – allein dieser Grand pas de deux hat bereits sehr viel Glückspotenzial sowohl für die Tänzer als auch fürs Publikum parat.
Alexandre Trusch und Carolina Agüero ergeben ein liebliches Paar, das vielleicht noch ein paar Proben mehr gebraucht hätte, um ganz perfekt zu sein, aber auch so verströmt es eine intensive Aura hoher und höchster Kunstfertigkeit. Ihre hohen, in schönen Linien gestreckten Beine und seine anmutige Körperhaltung passen wunderschön zusammen!
Auch ihre Solovariationen sorgten für Stürme der Begeisterung, und wenn man dann noch auf den ehrgeizig-schrulligen Drosselmeier schaut, der von Alexandre Riabko durchgehend sozusagen knorke dargestellt wird, und auch die selbst wie verzaubert wirkende Florencia Chinellato als Marie ansieht, dann fühlt man sich rasch als Teil dieser Wunderwelt, die zwar „nur“ erträumt sein soll, die aber doch so fasslich-real ist in dem, was sie bewirkt.
Nach dem exakt getimeten Schlussbild eines flotten Finales – mit raffinierten Hebungen und Posen comme il faut – lösen sich die Figuren langsam auf, die Damen werden von den Herren in die Kulissen getragen, die Stimmung verfliegt. Marie erwacht daheim, wird auf ihr Zimmer geführt, und von Drosselmeier, diesem Unvergesslichen, heißt es erst einmal: Abschied nehmen.
Aber den Traum vom Tanzen, den darf jede und jeder mit sich nehmen, wohin auch immer sie oder er dann geht…
Während ich dieses schrieb, schmolz draußen der Schnee, der in der Nacht neu gefallen war, als wolle er nur darauf aufmerksam gemacht haben, dass zu einem „Nussknacker“-Abend eigentlich auch ein paar tanzende Schneeflocken gehören.
Gisela Sonnenburg
Das war leider die letzte Hamburger „Nussknacker“-Vorstellung in dieser Spielzeit.
Das Rollenportrait der Marie, von Emilie Mazon interpretiert, finden Sie bitte hier – und weil Emilie beim Gastspiel des Hamburg Balletts ab 21. Januar 2016 wahrscheinlich für die verletzte Alina Cojocaru einspringen und die Solveig in „Peer Gynt“ tanzen wird, lohnt sich die erneute Lektüre:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-emilie-mazon-nussknacker/
Texte zu „Peer Gynt“ bitte hier:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-peer-gynt/