Ist es möglich, Ballettfan zu sein, ohne „Schwanensee“ in so vielen verschiedenen Versionen, wie es nur irgend möglich ist, zu sehen? Es gibt traurig-melancholische Fassungen, psychologisch-dramatische, lyrisch-märchenhafte. Es gibt welche mit Happy Ending (wie die von Vladimir Burmeister) und solche, die von A bis Z tragisch-traurig sind, wie die von Liam Scarlett. Aber es gibt nur eine Inszenierung, die sich „Der größte Schwanensee der Welt“ nennen darf – und die durch sehr große Gefühle, durch ein sehr großes Ensemble und durch höchste Präzision, gepaart mit originellen choreografischen Ideen, besticht. Ein Novum, das Sinn macht: Der britische Starchoreograf Derek Deane hat mit über 100 Tänzerinnen und Tänzern vom Shanghai Ballett diesen überraschend anderen „Schwanensee“ erarbeitet, der in seiner Präsenz und Emotionalität ein hochkarätiger tänzerischer Event geworden ist. Mit der Zirkushaftigkeit so mancher Tourneeballette hat er nichts zu tun: Hier kommt ein „Schwanensee“, der sowieso technische Perfektion abliefert, der aber vor allem auf dem inhaltlichen Schwerpunkt der Liebe als Erlösung basiert.
Durch raffinierte Erweiterungen der Choreografie wird das jetzt sichtbarer denn je in einem „Schwanensee“!
Man muss das gesehen haben:
Die tiefen Gefühle beherrschen hier alles, und die entsprechenden Gesten gehen einher mit einem Corps de ballet von 48 (achtundvierzig!) zum Niederknien schönen weißen, perfekt synchron tanzenden Schwanenballerinen. Wenn sie die „weißen Akte“ tanzen, taucht man ein in eine rätselhafte Wunderwelt, die einen vergessen lässt, warum dieser Planet eigentlich noch Probleme hat.
Es ist wie ein cineastischer Rausch, hervorgerufen von diesen vielen wohlgeformten jungen Damen, die mit Hingabe und Passion ihren Körper vollendet zu beherrschen lernten. Zum Vergleich: In vielen „Schwanensee“-Inszenierungen gibt es nur 16 (sechzehn) Schwäne.
Dabei geht es aber nicht nur um die Menge an sich, sondern um die Liebe, die hier herbeigesehnt und herbeigerufen wird. Denn nur die Liebe kann all diese Mädchen aus der Macht des Zauberers befreien.
Wobei Choreograf Derek Deane – der nicht zum ersten Mal mit dem Shanghai Ballett arbeitete – größten Wert darauf legt, jedem Schritt, jeder Armbewegung, jedem Neigen des Kopfes eine Bedeutung einzuhauchen.
Es ist so ergreifend, die hoffenden und bangenden Schwanenmädchen in dieser großen Anzahl zu sehen!
Deane nimmt zudem auch die Musik von Peter I. Tschaikowsky sozusagen beim Ton: „Man hört ja regelrecht, dass diese Musik für den Tanz komponiert wurde“, sagt er. Dass er das so verstanden und verinnerlicht hat, merkt man seinem „größten Schwanensee der Welt“ an.
Die widerstreitenden Gefühle, die das Potenzial der Story ausmachen, sind darum fein herauskristallisiert.
Es sind Angst und Hoffnung, die sich hier abwechseln und sich gegenseitig hochschaukeln.
Da sind die Mädchen, die täglich um ihr Leben bangen müssen, befinden sie sich doch in der Macht des bösen Magiers Rotbart.
Rotbart wiederum ist hier – sehr sinnstiftend – eine Art Neptun oder auch Oberon. Sein Kostüm ist in Grüntönen gehalten, und algenartige Pflanzenfetzen kleben daran. Er ist ein Gott des Bösen, der aus dem Wasser kommt: Wer sonst sollte im „Schwanensee“ die menschlichen Schwäne gefangen halten?
Sie sind eine schier unendlich schöne Schar von Frauen mit mysteriösem Flair.
Da dürfen die Schwäninnen sogar Herzen tanzen auf der Bühne, ohne, dass es unklassisch wirkt: Zu den melodiösen „weißen Akten“ passt das mit allem Liebreiz.
Außerdem haben sie hier eine Grotte, in der sie tanzen – mit dem See und dem Mondschein im Hintergrund. Das macht so Sinn: Sie haben festen Boden unter den Füßen und müssen nicht auf der Wasseroberfläche schweben.
Und die Schwäne hoffen: auf ihre Freilassung, auf ihre Rettung durch die Liebe, wenn ihre Anführerin, Odette, von einem wirklich edlen Menschen geliebt wird.
Auch Odette ist in diesen emotionalen Bindungen wie gefangen: Sie hat Angst – vor der Zukunft, vor dem unberechenbaren Rotbart, aber auch vor dem Prinzen, der sie hofiert und der ihr fremd ist.
So gewinnt der erste große Pas de deux zwischen Odette und dem Prinzen Siegfried seine ursprüngliche Mehrdimensionalität zurück.
Was Lew Iwanow für Marius Petipa 1895 choreografierte, atmet zugleich den Geist der Strenge, der rigorosen Ästhetik, wie auch das Mitleid und die Liebe, die hingebungsvollsten Gefühle, zu denen der Mensch überhaupt fähig ist.
Hier hat Derek Deane angesetzt und die Gefühle für uns heute nochmals neu ins klassische Tanzvokabular übersetzt.
Odettes Angst, ihr Zittern, ihr Ausweichen stehen am Anfang – und nur langsam kann Siegfried Odette tänzerisch für sich gewinnen und sie von seinen guten Absichten überzeugen. Oh! Was für eine Zuneigung dann erblüht, ist so schön zu sehen!
Endlich ist sie da, die Blüte der Hoffnung! Und sofort gibt es eine zweite Knospe: die Sehnsucht nach Freiheit!
Die Beziehung zwischen Siegfried und Odette wird solchermaßen erhöht, reicht fast bis ins Politische, zumindest bis in die Gefühlswelt, die die anderen teilen, hinein.
Siegfried und Odette bilden somit das ultimative Paar, deren Partner aus zwei grundverschiedenen Universen kommen und sich gegen alle Widerstände ineinander verlieben. Und die Ängste, die sie durchlaufen, kann jeder nachvollziehen.
In diesen beiden Hauptrollen brillieren zudem Gäste, die internationale Ikonen der Tanzwelt sind.
Für sie ist „Der größte Schwanensee der Welt“ eine Ehre und Herausforderung zugleich. Sie haben die Erfahrung und die Neugier, sich auf Derek Deane und das Shanghai Ballet einzulassen – und ihr eigenes Können hundertprozentig einzubringen.
Lauren Cuthbertson und Vadim Muntagirov vom Royal Ballet aus London, Iana Makhateli und Artur Shesterikov vom Het Nationale Ballet in Amsterdam und auch die nicht weniger aufregenden chinesischen Besetzungen, so mit Qi Bingxue und Wu Husheng, bezaubern erst recht, wenn ein so enorm vergrößertes Corps de ballet sie umringt.
Wer glaubt, „Schwanensee“ zu kennen, wird ihn hier ganz neu entdecken!
Da tummeln sich im ersten Akt zahlreiche Gäste auf dem Ball zu Ehren des Prinzengeburtstags. Warme Farben und traditionelle Gewänder verbreiten ein ganz bestimmtes Flair, das sich aus nobel Majestätischem und vital Lebendigem zusammensetzt.
Die Ausstattung von Peter Farmer – der auch die „Giselle“ von Patrice Bart beim Staatsballett Berlin mit Bühnenbild und Kostümen versorgte – arbeitet mit Harmonien und Kontrast.
Kühl und klar kommt denn auch die Szenerie am nächtlichen See einher. Wenn die vielen Mädchen hier aufmarschieren, so macht das einen überwältigenden Eindruck: Man hört, wie das Publikum kollektiv den Atem anhält.
„Es ist wie ein Tsunami“, sagt Derek Deane stolz auf seinen zweiten Akt und zwinkert mir dabei zu, denn er meint das natürlich humorvoll.
Niemand trägt hier irgendeinen Schaden davon oder wird schockiert. Aber der Anblick so vieler edel gestalteten Tänzerinnen hat etwas von einer Welle, die einen mitreißt oder gar überschwemmt. Schönheit im Übermaß – wer auch nur ein bisschen Sinn für die Ästhetik des klassischen Balletts hat, wird hier restlos begeistert sein.
2015 war die Welturaufführung: Das Shanghai Ballett tanzte den „größten Schwanensee der Welt“ damals in Melbourne, Australien. Und riss die Zuschauer zu Begeisterungsstürmen hin.
Jetzt kommt das Ereignis endlich zu den verwöhnten Zuschauern nach Deutschland, und zwar ins Herz von Berlin, an den Potsdamer Platz. Gerade, wenn man schon eine Beziehung zum „Schwanensee“ hat, sollte man sich diese Inszenierung nicht entgehen lassen!
Die Berliner Premiere – am Theater am Potsdamer Platz am 1. Dezember – läutet eine Aufführungsreihe mit vielen Abend- und einigen Nachmittagsvorstellungen bis zum 16. Dezember 2018 ein.
Nur in diesem Zeitraum kann man den „größten Schwanensee der Welt“ in Berlin genießen!
Karten gibt es ab 35 Euro, was für ein Ballett solcher Ausmaße wirklich preiswert ist.
In der vorweihnachtlichen Stimmung, mit dem Weihnachtsmarkt am Potsdamer Platz sozusagen vor der Theatertür ist das ein Event, wie gemacht für Ballettfans jeden Alters.
Doch hinter all dem Glanz der Show verbirgt sich so viel harte Arbeit!
Was auf der Bühne federleicht aussieht, wird jahrelangem Training und monatelangen intensiven Proben verdankt. Auch wenn die Chinesen nun ein besonders ballettbegabtes Volk sind: bis jedes Detail der Choreografie beim Shanghai Ballett so korrekt sitzt, wie es sein soll, gibt es mächtig viel zu tun.
Am besten kann mir davon Derek Deane selbst einen Eindruck geben.
Er wurde 1953 im englischen Cornwall geboren, sein Vater arbeitete für die Royal Air Force. „Bis zu meinem 16. Lebensjahr zogen wir kreuz und quer durch die Welt, alle zwei Jahre musste ich die Schule wechseln“, erzählt der große Künstler mit großer Ernsthaftigkeit in der Stimme. Sein erstes Berufsziel als Teenager war: Schauspieler, nicht Tänzer.
Nur zufällig kam er mit 16 Jahren in eine Jazzdance-Gruppe, als Ergänzung zu dem Schauspielunterricht, den er nahm. Die Tanzlehrerin bemerkte sofort, dass da jemand extrem tanztauglich war. Und schickte Young Derek ins Ballett: „Das ist gut für die Koordination, geh dahin, tu was für dich!“
Und obwohl er sich weigerte, Strumpfhosen anzuziehen und darum in Jeans am Ballettunterricht teilnahm, fiel sein Talent für Bewegung sofort auf. Derek konnte problemlos gerade stehen und Balance halten, er konnte sich neue Schrittkombinationen im Nu merken – und er hatte ein Fluidum, das jedermann einfach gern hinsehen ließ.
Dennoch dachte Deane noch nicht an eine Karriere als Tänzer, sondern strebte weiterhin der Schauspielerei, dem Sprechtheater, zu. Da gab es nur ein kleines, aber unüberwindbares Problem: Seine Eltern konnten eine professionelle Ausbildung in London, wohin er unbedingt wollte, nicht bezahlen. Und von der Regierung bekam Deane fürs Schauspielstudium kein Stipendium, obwohl ihn sogar gleich zwei Schulen in London als Studenten haben wollten.
Was also tun? „Geh doch als Ballettstudent nach London“, riet ihm seine Ballettlehrerin. Prompt bestand er – und zwar (was heute undenkbar wäre!) wiederum in Jeans – die Aufnahmeprüfung der Royal Ballet School.
Die Royal Ballet School ist die professionelle Ausbildungsstätte für das Royal Ballet, das im Opernhaus am Covent Garden auftritt – und ohne es wirklich zu wollen, landete Deane in dieser typisch britischen Eliteanstalt für Ballett. Denn hierfür zahlte der Staat: Männliche Balletttalente wurden in Deanes Generation noch händeringend gesucht.
„Ich dachte zunächst, ich würde das nur drei Monate machen und dann was am Theater finden“, schmunzelt Derek Deane heute. „Und ich kann noch nicht mal sagen, wie es geschah oder wann es geschah, aber dann packte mich das Ballett, irgendwann, irgendwie, langsam, aber sicher.“
Oh, und wieder schmunzelt er, aber er sei in den ersten zwei Jahren gar nicht gut zurecht gekommen mit dem strengen Reglement der Profi-Ausbildung. „I was a naughty boy“, ich war ein ungezogener Junge, lacht er. Doch das Ballett disziplinierte ihn, und er nahm an, was die strenge Etikette des Trainings und der Proben zu geben hat.
Das Umfeld vom Covent Garden, das damals aus Ballettgrößen wie Frederick Ashton und Kenneth MacMillan bestand, bezauberte ihn zudem und vereinnahmte ihn, ohne, dass er sich dagegen sträuben konnte.
Von Kenneth MacMillan fühlt er sich bis heute geprägt. „Ich muss manchmal aufpassen, wenn ich choreografiere, dass es nicht aussieht, als sei es von ihm“, sagt Deane lachend.
Er ist so ein Allround-Talent, wie es sie selten gibt, er hat ein Händchen für das Szenario, für das Tanzen sowieso, aber auch für das Coachen wie für die Kreation. Das zeigte sich dann auch recht schnell.
Nach nur drei Jahren in der Ausbildung in London erhielt er seinen Vertrag als Mitglied der Company. Er wurde Solist, Erster Solist – und er tanzte nicht nur Siegfried im „Schwanensee“, sondern alle Rollen, die das Repertoire eines Principals hergab. Früh begann er zudem, Proben zu leiten und andere Tänzer zu stagen, also sozusagen die Regiearbeit beim Ballett zu machen. Und prompt kamen weitere Aufgaben auf ihn zu, eine nach der anderen.
Als Choreograf begeisterte er in England und weltweit – und als Künstlerischer Direktor wirkte er von 1993 bis 2001 beim English National Ballet (ENB).
Hier inszenierte er bereits schon mal einen „Schwanensee“, und die lyrisch-elegische Ksenia Ovsyanick, die heute Erste Solistin beim Staatsballett Berlin ist, tanzte die Partie der Odette / Odile in Deanes ENB-Version.
Ob „Giselle“, „Alice im Wunderland“, „Dornröschen“, „Romeo und Julia“ oder „Paquita“ – Deane ist ein Mann der modernisierten Klassik, der vor allem Liebesgeschichten mit dramatischer Spannung tänzerisch zu erzählen weiß.
Das schätzte übrigens auch Lady Di an ihm; sie besuchte regelmäßig seine Vorstellungen und sprach ihm oftmals persönlich ihren Dank aus. Die beiden kannten sich aus jener Zeit, als Diana noch Charles’ Verlobte war.
Derek Deane hat aber auch Charme! Da ist nichts Heuchlerisches oder Verklemmtes an ihm, nichts, das einen zögern oder peinlich werden lässt.
Wer will, erkennt Spuren der Werke von George Balanchine und John Neumeier in Deanes Werken; mit Balanchine teilt er die Grandezza, mit Neumeier die Verständlichkeit.
Mit dem Shanghai Ballet erstellte Deane außerdem einen Aufsehen erregenden „Hamlet“ – und jüngst in Neapel eine umjubelte „Lady of the Camellias“, also eine „Kameliendame“, mit der schönen Maria Yakovleva vom Wiener Staatsballett in der Titelpartie.
Was ist es, das die Projekte von Deane ausmacht?
Vielleicht die Tatsache, dass er sich nie gegen Bestehendes gewehrt hat, sondern aus der Tradition lernte wie aus einem offenen Buch. Vielleicht spielt da aber auch mit hinein, dass er Kunst als Utopie begreift – und als Person sehr wohl weiß, was Alpträume und Depressionen sind. Es macht ihn menschlich, dass er sein Menschsein nicht unterdrückt, sondern in das Empfinden für die Ballettfiguren, die er inszeniert, mit aufnimmt.
Das Flair von Dereks Jugend in London, wo er noch mit Größen wie Margot Fonteyn und Rudolf Nurejev auf der Bühne stand, ist dennoch so stark in ihm wie am ersten Tag, als er auftrat. „Quality“, Qualität – mit verzücktem Ausdruck beschreibt er damit das, was ihn selbst begeistert: das hohe Niveau, das er stets anstrebt – und für das er alles gibt.
„Seit meinem Vortanzen beim Royal Ballet habe ich mich nie wieder um einen Job beworben. Ich mache einfach die Dinge, die auf mich zukommen – und das ist nicht gerade wenig Arbeit. Aber sie sucht mich, nicht umgekehrt“.
Dieses Glück hat Derek Deane, weil sein Profil so klar und einleuchtend ist: Man vertraut ihm, weil man ihm vertrauen kann.
Das weiß man genau, wenn man seinen „größten Schwanensee der Welt“ gesehen hat. Also bitte nicht verpassen!
Gisela Sonnenburg
Tickets ab 35 Euro gibt es genau hier – den 30. November aber bitte ignorieren, denn aus technischen Gründen tanzt „Der größte Schwanensee der Welt“ nur vom 1. Dezember bis einschließlich 16. Dezember 2018 in Berlin!