Sexualität und Erwachsenwerden, Außenseitertum und Talent: Es ist eher selten, dass ein Kinofilm gleich mehrere „schwierige“ Themen zusammen und sogar gelungen auf den Punkt bringt. Aber „Girl“, eine belgische Produktion und das Erstlingswerk des Regisseurs Lukas Dhont, schafft es, auf einfühlsame Weise sowohl die harte Profiausbildung im Ballett zu thematisieren als auch das Heranwachsen einer jungen Frau, die als Junge geboren wurde. Natürlich wird der Wunsch nach einem Geschlechtswechsel unterschwellig als Sensation und Lockmittel wahrgenommen; andererseits ist man froh, zu diesem Sujet einen seriösen Film zu bekommen.
Der Film spannt einen weiten Bogen: vom familiären und intimen Privatleben der Heranwachsenden über ihre Erfahrungen im Ballettsaal und in den Duschen bis zur Selbstfindung durch eine radikale, willensstarke Entscheidung.
Eine smarte, aber niemals vordergründige Kameraführung ergänzt die sensible Regie, sodass die Hauptfigur und ihre Familie fasslich und lebendig erscheinen. Jugendfreie Filmaufnahmen schaffen es aufzuklären, ohne peinlich zu wirken.
Und die Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui vermitteln das hinreißende Flair des Tanzens, auch wenn sie nicht im Mittelpunkt stehen.
Die Geschichte liest sich wie aus einem pädagogischen Bilderbuch der modernen Gender-Erziehung:
Lara, wirklich außerordentlich gespielt und auch getanzt von Victor Polster, ist eine talentierte Ballettstudentin. Aber noch stärker als die Tanzkunst bewegt sie der Wunsch nach einer neuen sexuellen Identität. Sie sieht zwar schon aus wie ein Mädchen, wurde aber als Junge geboren und ist aus rechtlichen Gründen noch nicht zur Frau operiert. Und das belastet sie.
Ihre Jugendprobleme sind somit wirklich nicht alltäglich. Aber jede(r) kann sich hier einfühlen und feststellen: Es erfordert eine Menge Mut, die eigene Körperlichkeit so stark verändern zu wollen, wie es eine balletttanzende Transsexuelle sich wünscht.
Ihr Vater, allein erziehender Taxifahrer und von Arieh Worthalter so sportlich wie zärtlich gespielt, hält zu ihr und zieht, damit Lara auf die dortige Ballettschule für die Profi-Ausbildung gehen kann, mit ihr und dem kleinen Bruder nach Brüssel.
Lara betreut den Bruder zudem so umsichtig wie eine Mutter und gibt sich auch sonst meistens reif wie eine Erwachsene. Das wirkt hier aber nicht übertrieben vorbildhaft, sondern ist logisch: Gerade weil Lara durch ihre seltene sexuelle Ausrichtung nicht unangenehm auffallen will, hat sie eine hohe soziale Kompetenz entwickelt.
Die angehende Ballerina muss außerdem – logischerweise – hart trainieren und proben. Die Tanzszenen hier entstammen dem semiprofessionellen Bereich, sind aber deutlich besser als viele, die man in sonstigen „Ballettfilmen“ im Kino als authentisch angeboten bekommt.
Lara erhält zusätzlich zu den Gruppenstunden auch Einzelunterricht, und beides ist hier nicht annähernd so hart, aber auch nicht so euphorisierend wie in der Wirklichkeit. Dafür ist nichts übertrieben, was ja auch ein Vorteil ist.
Laras Jungsfüße passen aber nur schwerlich in die Spitzenschuhe. Mit eisernem Willen erträgt Lara blutende Zehen und die unermüdliche Arbeit trotz der Schmerzen.
Sie wird mit Erfolg belohnt: aus dem Probeunterricht auf Zeit wird feste Zugehörigkeit zur Ballettschule.
Ihren Penis klebt sie sich derweil mühsam ab, um beim Tanzunterricht nicht wie ein Junge auszusehen oder ein Suspi benutzen zu müssen. Mit routinierten Griffen hat Lara es fest im Griff, zu verdrängen und zu verbergen, dass sie noch nicht „perfekt weiblich“ ist.
Die Lehrer und Mitstudentinnen sind zwar von Beginn an in ihre Transsexualität eingeweiht – und es wurde per Abstimmung unter den Schülerinnen entschieden, dass Lara sich in den Mädchengarderoben umziehen darf. Und Ärzte kontrollieren Laras Hormonbehandlung, um ihr baldmöglichst eine Operation anzubieten.
Doch bei einem Ausflug ins Schwimmbad zwingen die neugierigen Ballettmädchen Lara zu einem Akt der Selbstentblößung.
Das hat Folgen: Zum Leistungsdruck kommt der Stress durch die Mobbing-Erfahrung.
Lara, die zudem ihr erotisches Verhältnis mit einem Nachbarn nicht richtig ausleben kann, weil sie sich noch nicht genügend weiblich fühlt, bekommt Schlaf- und Essstörungen. Ihr Vater zwingt sie in eine Ruhephase. Doch statt sich zu erholen und gestärkt in den Ballettsaal zurückzukehren, entscheidet sie sich für eine dramatische Tat.
Sie ruft die Ambulanz an und meldet einen Notfall. Dann entmannt sie sich mit der Schere, wissend, dass sie infolge dessen verbluten kann. Sie wird dank der pünktlich eintreffenden Sanitäter gerettet und dann operiert – sie hat ihre Geschlechtsumwandlung solchermaßen erzwungen.
Als sie aufwacht, hält ihr Vater im Krankenhaus ihre Hand: Er hält zu ihr, soll das bedeuten.
Selbstbewusst sehen wir Lara am Ende durch die U-Bahn-Gefilde einer Großstadt schlendern: endlich glücklich.
Ohne direkte Worte fragt der Film, ob es richtig ist, dass Transsexuellen der Weg zur Operation immer noch sehr schwer gemacht wird.
In Deutschland ist zum Beispiel auch noch ein Psycho-Gutachten notwendig, was einige Transsexuelle davon abhält, eine operative Umwandlung überhaupt zu versuchen. Schließlich handelt es sich um keine seelische Krankheit, sondern um eine faktische Notwendigkeit aus Sicht der Betroffenen, das Geschlecht wechseln zu wollen.
Das zeigt auch „Girl“ wirklich nachvollziehbar. Bei den letzten Filmfestspielen in Cannes erhielt der Film denn auch gleich mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Queer Palm Award. Und das völlig zurecht.
Gisela Sonnenburg
„Girl“, Belgien/Niederlande, 106 Min., FSK: ab 12 Jahre, Kinostart in Deutschland: 18. Oktober 2018