Ach, Berlin! Wie willst du das nur aushalten: fast ein halbes Jahr lang wird es keine „Onegin“-Vorstellung beim Staatsballett Berlin (SBB) mehr geben. Dabei ist das virulente Stück von John Cranko nach dem Versroman von Alexander Puschkin doch gerade erst wieder in die tipptopp sanierte Staatsoper Unter den Linden eingezogen. Und die Künstlerinnen und Künstler brillieren darin, auf der Bühne wie im Orchestergraben! Die Musik, die Kurt-Heinz Stolze anhand der Vorlagen von Peter I. Tschaikowsky kreierte, zieht sowieso jedem Klassik-Fan die Schuhe aus, zumal, wenn sie so exakt und lieblich zelebriert wird wie hier: Paul Connelly dirigiert die Staatskapelle Berlin geradezu märchenhaft, so fein getaktet, völlig im Einklang mit sich und dem Ballett, dazu mit glänzenden Soli etwa der Bratsche im dritten Akt. Ja, und das Staatsballett Berlin! Hier lebt es, hier tobt es sich aus, hier zeigt es seine Körperbeherrschung ebenso wie auch sein Temperament. Das gilt nicht nur für die Solisten, sondern auch für das Corps de ballet, das in „Onegin“ ganz besonders wichtige Aufgaben hat. Das ist Weltkunst, wie sie sein soll: dramatisch, ästhetisch, vielschichtig, hintergründig, sinnlich, menschlich. Und so erotisch! Zumal mit diesen Stars an der Tanzfront! Der männlich-genuine, gefühlsstarke Mikhail Kaniskin in der Titelrolle und die zuerst rührend niedliche, dann unendlich feminine Elisa Carrillo Cabrera als seine Tatjana, aber auch der sich langsam in Berlin einfindende, endlich auch seelische Schönheit zeigende Daniil Simkin, zusammen mit der ohnehin fantastisch ins SBB passenden Evelina Godunova sowie der mal wieder leuchtend elegante Alexej Orlenco betören: indem sie mit geschmeidiger Tanzkunst die verschiedenen Charaktere und ihre Entwicklungen darstellen.
Man muss der Vollständigkeit wegen dazu sagen, dass die Ausstattung von Elisabeth Dalton außerordentlich gelungen ist. Bei anderen Ensembles wird der in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre entstandene Dreiakter „Onegin“ von John Cranko ja meistens in den Originalentwürfen von Jürgen Rose getanzt. Insofern ist die 2003 in der Staatsoper Unter den Linden premierte Version von vornherein ein Wagnis gewesen. Aber eines mit Zugewinn, denn die zwar deutlich an Rose anknüpfenden, in Materialien und Farbauswahl aber etwas stärkere Akzente setzenden Bühnenbilder und Kostüme von Dalton passen vorzüglich zu der Choreografie.
Die Vorstellung am Freitagabend war im übrigen selbstverständlich ausverkauft, und man kann nur stärkstens empfehlen, sich schon jetzt um Karten für die Folgevorstellungen im März und April 2019 zu kümmern. Zumal man in der neu renovierten Staatsoper mit ihrer neuen Sitzordnung wirklich sehr gut sehen und hören kann. Und wenn Ballettabende ein Fest für die Augen, die Ohren, die Seele sind, dann die mit „Onegin“ beim SBB!
Dieses Ballett ist und bleibt die Visitenkarte der Truppe: das farbenfrohe, dennoch herzergreifende Stück „Onegin“ passt zum Berliner Lebensgefühl, zu den Berliner Sehnsüchten unserer Zeit wie maßgeschneidert.
Man wünscht sich in der deutschen Hauptstadt ja alles zusammen, und in „Onegin“ findet man es: Soziale Kollektive, die aus mehreren Generationen bestehen und dennoch Raum für Individualität lassen. Glückhafte, hoffnungsstiftende Fröhlichkeit. Liebe bis zum Wahnsinn! Charakterliche Entwicklungen, die letztlich zum Positiven hin gehen. Sinnvolle Trauerarbeit und Bewältigung der Krisen, wenn etwas radikal schief ging. Schließlich Loyalität und dennoch eine etwaige Überwältigung durch große Gefühle. Dass dabei auch Konflikte entstehen, die nicht gelöst werden können, ist dem Universum der Möglichkeiten geschuldet, die immerhin zu sehen bereits erbaut.
Das klingt nun recht abstrakt, ist aber im Grunde eine Zusammenfassung der emotionalen Strukturen in „Onegin“.
John Cranko, dem Vater des „Stuttgarter Ballettwunders“, gelang mit diesem Meisterwerk viel stärker als der Tschaikowsky-Oper „Eugen Onegin“ und sogar noch stärker als dem Romanoriginal von Puschkin eine Bündelung der psychologischen Probleme des modernen Menschen. Das liegt vor allem, aber nicht nur, an der weiblichen Sicht darin!
Gemeinschaft und Außenseitertum, Liebe und Eifersucht, Freundschaft und Rivalität, Begehren und Zurückweisung, vor allem aber auch die emotionale Emanzipation der Frauen spielen hier die heimlichen Hauptrollen.
Dabei haben nicht nur die solistischen Parts, sondern auch das Corps großen Anteil.
Im ersten Akt befinden wir uns im Garten der Matriarchin Larina, also auf einem kleinen, aber feinen russischen Landgut im 19. Jahrhundert.
Hier verströmt das weibliche Ensemble bereits einen sonntäglichen Frohsinn und eine Lieblichkeit, die ihresgleichen suchen!
Es ist pure Lebensfreude, aber auch Ausdruck von Disziplin, die sich hier formulieren. In Reigen und Kreisen bereiten die Fräuleins vor, was erzählerisch kommen wird.
Diese Grundstimmung für das weithin auch tragische Geschehen wird von diesen hübschen jungen Damen erzeugt.
Bis die Burschen dazu kommen! Heißa, mit großen Sprüngen, die sie individuell gestalten dürfen, stürmen sie nacheinander auf die Bühne!
Gregor Glocke sei stellvertretend für alle mit ihren fantastischen, mitreißenden Luftsprüngen genannt. Glocke vollführt einen makellosen hohen Sprung in den Herrenspagat – und er scheint damit zu schweben, gefühlt minutenlang! Wunderbar, soviel männliche Kraft in nur einer Bewegung…
Aber auch die anderen Herren bezeugen Mut zur folkloristisch-klassischen Ausdrucksform und Lust an Leistung. Oh, und Freude am Schauspiel ohne Worte!
Denn natürlich hat dieser spaßgeladene Tanz hier auch eine Balzfunktion: vorn rechts an der Rampe (und nicht rechts hinten wie zum Beispiel bei „Onegin“ vom Bayerischen Staatsballett im Münchner Nationaltheater), tummelt sich ein Reigen kecker junger Mädchen, und sie scheinen nur darauf zu warten, von den Jungs angesprochen zu werden.
Sie formieren – und das kommt sehr gut auf der großen Staatsopern-Bühne vorn an der Rampe zur Geltung – mit griechisch-russisch-gemischten Tanzfiguren ihre Einheit, ihren Zusammenhalt: Die Frauenwelt in „Onegin“ ist stark und ausgeprägt, und diese „Haremsatmosphäre“ bringt eine ungezwungene, dennoch spannende Note in die Szenen.
So wirkt es auch nicht sexistisch, sondern sogar schüchtern, wenn die Jungs versuchen, Kontakt zu den Mädels zu knüpfen. Huch, da darf mal ein Kleidersaum angehoben werden, alles kichert, und wenn sich die Jungs untereinander zufrotzeln, so hat das was von einer ausgelassenen Party-Stimmung.
Als sich dann Paare gefunden haben, gibt es bald den ersten Höhepunkt in diesem Ballett, und Cranko hat ihn dem Corps gegeben, zusammen mit der schönsten Musik, zu der Stolze und Tschaikowsky fähig waren: Die beiden diagonalen Reihen mit seriellen Spagatsprüngen der Damen an den Armen ihrer Herren sind bis heute unerreicht in der Ballettgeschichte – und sie emanzipieren den Gruppentanz zum Highlight-Geschwader.
Während sonst der Spagatsprung Ausdruck der edlen Individualität ist und zumeist den willensstark verliebten Hauptrollen vorbehalten bleibt, verwendet Cranko ihn hier für den aufbrausend-heroischen Ausdruck des Kollektivs. Was für ein Coup!
Die meisten Zuschauer applaudieren hier nicht nur spontan (in Berlin stets in der ersten Hälfte der zweiten Diagonale), sondern sind auch zutiefst ergriffen und gerührt. Was für eine Menschheit wäre das, deren Jugend sich so fantastisch aufführen würde! Es scheint hier keine Big Egos zu geben und keinen Neid, keine Rücksichtslosigkeit und keine plumpe Aggression. Keine Dummheit und kein Mobbing, keine Grausamkeit und keine Ungerechtigkeit. Sondern nur Liebe und Solidarität, Respekt und Bewunderung füreinander! In wenigen Sekunden entwirft Cranko solchermaßen ein utopisches Dasein, das der Gesellschaft als Vorbild dienen sollte. Schließlich müssen die Älteren auch was dafür tun, damit die Jüngeren so schön tanzen können!
Das Staatsballett Berlin wiederum erweist sich dieser Szene vollauf würdig und begeistert ein ums andere Mal mit der hingebungsvollen, dennoch präzise getimeten Aufführung dessen.
Da haben es die Solisten fast schwer, ebenfalls aufzutrumpfen. Aber sie haben ja ihre Figuren, die sie vorstellen dürfen, hier, im ersten Akt, als alles noch ungetrübt von negativen Gedanken ist.
Ballettmeisterin Barbara Schroeder überzeugt als herrschaftliche Madame Larina, die das Ländliche mit dem Vornehmen zu verbinden sucht. Sie hat so einen gönnerhaften Charme dabei, dass man es versteht, dass Tatjana, ihre älteste Tochter, es mit der Eheschließung gar nicht eilig hat. Im Haus dieser Frau Mama lässt es sich nämlich sehr angenehm leben!
Birgit Brux als versierte Gesellschafterin und Amme trägt auch dazu bei: verschmitzt schmunzelt sie, errät sie doch nicht selten die Gefühle der jungen Leute.
Schließlich sind da die Liebhaberrollen: Tatjana, die hier ganz in der Liebe zu ihrer Familie und zu Büchern (jawohl!) aufgeht. Elisa Carrillo Cabrera ist ein göttlicher Anblick, wenn sie bildschön am Boden liegt und bäuchlings in die Lektüre vertieft ist.
Mit ihrer Schwester Olga, sehr adrett und sprühend vor Lebenslust getanzt von Evelina Godunova, versteht sich Tatjana blendend. Bei ihr sieht sie auch, wie wohl man sich als Liebespaar fühlen kann. Denn Lenski – Olgas Verlobter – hat endlich auch in der Besetzung mit Daniil Simkin den richtigen Schmelz, um mit lyrischer Geste und sportlichen Sprüngen zu begeistern.
Daniil Simkin, ein in Deutschland aufgewachsener und in New York zum Weltstar gewordener Ballerino, ist neu in der Riege der Ersten Solisten in Berlin. Sein Debüt als Lenski vor einigen Wochen war noch zu steif, um zu begeistern, zu sehr dem rein technischen Stil und dem Schwerpunkt mit der Beinarbeit verpflichtet. Der zarte Simkin hat aber ganz offensichtlich hart an sich gearbeitet – und zeigt nun jene erbaulichen, weich fließenden, niemals übertriebenen, dennoch schön pointierten Ports de bras, die für die Seelengestaltung des Lenski unerlässlich sind.
Als Partner hebt und lenkt er zunehmend sicher, und sein mimisches Spiel hat endlich auch jene temperamentvolle Hingabe, die ein Lenski haben muss. Bravo!
Für Kenner wichtig: Auch das Cambré in Lenskis Mondschein-Solo, das voller Todesahnung, ja sogar Todessehnsucht ist, stimmt jetzt bei Daniil Simkin. Statt schlangenmenschartig mit einem Brückenbogen bis zum Boden beeindrucken zu wollen, setzt er jetzt auf die Akkuratesse der Choreografie: Der Oberkörper beugt sich stark nach hinten, nicht um Biegsamkeit zu demonstrieren, sondern um die Last der Gefühle zu verdeutlichen, die Lenski bewegt.
Er ist ja ein Dichter und ganz und gar nicht der harmonische, smarte Kerl, der er zunächst zu sein scheint. Unter der glücklich-einfältigen Oberfläche des Lenski brodeln düstere Abgründe… und weil seine Olga im zweiten Akt bedenkenlos mit Onegin flirtet und tanzt, ganz so, als sei er ihr neuer Herzensgefährte, flippt er aus. Er ohrfeigt Onegin – in den sich Tatjana unsterblich verliebt hat – und fordert ihn zum Duell heraus.
Diese Szene ist der dramatische Höhepunkt des zweiten Akts, in dem Tatjana ihren Geburtstag feiert und auf einen Antrag Onegins hoffte.
Zuvor hatte sie ihm in einem Brief ihre Gefühle eröffnet. Ach, der Pas de deux, den sie in Gedanken mit Onegin tanzte, war so beflügelnd! Da erhebt der Mann die Frau weit über sich, sie anbetend und beschützend und ihr die Welt präsentierend!
Dabei entstieg Onegin dem Wandspiegel, um mit der erregten Tatjana nächtens in ihrem Schlafzimmer bei Kerzenlicht zu tanzen… welch Teenager-gerechte Fantasie!
Doch die Realität sieht ganz anders aus. Der Dandy Onegin, der vor allem seine eigene Freiheit und Unabhängigkeit liebt, denkt gar nicht daran, Tatjana ernsthaft den Hof zu machen. Ja, er hat ihr auf einem tänzerischen Spaziergang den Kopf verdreht. Richtig. Ja, er hat sie emporgehoben und dann auch mit ihr synchron getanzt, wie es sicher noch nie ein Mann mit ihr getan hatte. Aber heiraten? Daran denkt ein Onegin nicht.
Ihr Liebesbrief bewirkt darum die schlimmste Entscheidung, die sich Tatjana hätte vorstellen können. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle zerreißt Onegin das Schreiben und gibt es ihr in Fetzen gerissen zurück.
Ihr Herz hat er zugleich mit zerrissen!
Dabei wirkt Mikhail Kaniskin, dieser fantastische Meistertänzer und großartige „Onegin“-Könner, dem man seine Erfahrungen aus dem Bolschoi ebenso wie die vom Stuttgarter Ballett anmerkt, nicht mal wirklich bösartig. Sein Onegin ist nicht plump-arrogant oder gar elitär-dümmlich. Im Gegenteil: Er ist so schön und wild wie ein Tiger, wie ein Raubtier, das man nicht einfangen darf, ohne sich Blessuren zu holen.
Aber eine verliebte junge Frau gibt nicht so schnell auf. Es ist ja ihr Geburtstag, ihr Ehrentag, zu dem er kam – und als er sich gelangweilt eine Patience legt, versucht sie, ihn mit einem Solo zu beeindrucken.
Es ist so entzückend, wie Elisa Carrillo Cabrera sich hier als Tatjana um seine Aufmerksamkeit bemüht! Der Balztanz eines verknallten Mädchens, das an seinem Ehrentag auf die große Liebe hofft… alle Gäste zollen ihr Respekt dafür, aber ausgerechnet der Mann, dem ihr Begehren gilt, fühlt sich nur belästigt und genervt von ihr. Welch Malheur!
Onegin desavouiert Tatjana, er springt von seiner Patience auf und knallt mit der Hand auf die Tischplatte. Jetzt reicht’s! Die zarte Tatjana entweicht, oh weh, und es ist gut, dass sie so viele liebe Menschen in ihrer Familie hat, die um ihr Wohl besorgt sind.
Und wäre da nicht das Ensemble, wären wir im Zuschauerraum nicht auch mächtig bedripst?
Doch die Stimmung der mehrere Generationen umfassenden Gäste auf der Bühne reißt auch weiterhin mit… es gibt kein anderes Ballett, in dem Tanten und Onkels, Omas und Opas zwar einerseits putzig-klamaukig deutlich auf alt geschminkt und zurecht gemacht sind, andererseits aber eben ganz realistisch auch mitmachen und mittanzen dürfen. Eine ältere Dame wackelt dabei stetig mit dem Kopf, ganz so, so wie manche Menschen einen solchen Alterstremor haben. Dennoch tanzt sie hier Walzer und nimmt auf dem Knie eines Kavaliers Platz. Ein anderer älterer Teilnehmer wird manchmal angerempelt – und nimmt das mit der gebotenen, keinesfalls aber übertriebenen Entrüstung hin.
All die Figuren auf der Bühne spiegeln eine Gesellschaft, die optimiert, aber keinesfalls perfekt ist. Es ist eine Utopie, auf die sich John Cranko hier eingelassen hat: Man kümmert sich umeinander, die Jüngeren fächeln den vom Tanz früh erschöpften Älteren Luft zu, man betuttert sich, begutachtet ein schmerzendes Bein oder ein Ziehen im Kreuz.
Das Corps hat hier viele Einzelpartien zu verkörpern, und im Grunde könnte man allen Gästen Tatjanas einen Namen geben.
Da gibt es auch drei junge Paare, die sich hier versöhnen und damit die Betriebsschienen ihrer Beziehung festlegen. Und siehe da: Die Fräuleins haben dabei jeweils die Oberhand, auch wenn eines der Mädchen fröhlich mit den Beinen zappelnd von seinem Kavalier davon getragen wird.
Namen haben sie im Stück zwar nicht, aber der Programmzettel verrät uns, wer vom SBB in dieser fabelhaften Vorstellung das Corps verkörperte:
Amy Bale, Maria Boumpouli (sehr anmutig), Yoko Callegari, Yuria Isaka, Cécile Kaltenbach (sehr aufrecht), Aeri Kim, Vivian Koohnavard, Yuka Matsumoto, Jordan Mullin, Katherine Rooke, Alicia Ruben, Tabatha Rumeur (sehr elegant), Eloise Sacilotto, Alizée Sicre, Chinatsu Sugishima, Aoi Suyama, Clotilde Tran, Georgeta Varvarici (sehr toll) bei den Damen und Marco Arena, Giacomo Bevilacqua, Taras Bilenko, Alexander Bird, Shahar Dori, Gregor Glocke (sehr fein), Tyler Gurfein, Cameron Hunter (auch sehr toll), Yevgeniy Khissamutdinov, Konstantin Lorenz, Christian Krehl, Artur Lill, Tommaso Renda, Ulian Topor, Wei Wang (sehr schön), Dominic Whitbrook und Mehmet Yumak – und sie alle haben den häufigen Szenenapplaus für die Ensemble-Tänze definitiv rundum verdient!
Wie hier Komik und Schönheit zusammen gebracht werden, ist aber auch unbedingt und immer wieder sehenswert.
Denn ein Onegin tanzt niemals alleine – gerade das Miteinander macht den Zauber des Stücks aus.
Während des heißen Flirts von Onegin mit Olga heizt sich die Tanzstimmung immer weiter auf. Was für ein Fest, durchdrungen von so viel erotischer Power!
Nach der Ohrfeige und der Forderung zum Duell schlägt die Stimmung allerdings um. Ein Eklat ist geschehen, und die festliche Atmosphäre lädt sich mit Spannung und Unbehagen auf. Auch das ist aufregend zu sehen.
Es ist ja auch ein gesellschaftliches Indiz, das hier gezeigt wird: Unausgesprochene Probleme – wie die Eifersucht Lenskis auf Onegin, die in der Oper „Eugen Onegin“ ja auch noch zusätzlich homoerotisch motiviert ist – kulminieren und verschaffen sich wahnhaft einen Ausbruch.
Die Wut des jungen Lenski seinem erfahrenen Freund Onegin gegenüber wird sein eigenes Leben nicht nur zerstören, sondern sogar beenden.
Am Ende des zweiten Akts stehen Onegin und Tatjana wie Feinde nebeneinander. Er schlägt die Hände vors Gesicht – aus Scham, denn er hat seinen Freund erschossen. Eine andere Wahl hatte er nicht, wollte er selbst überleben. Tatjana aber ist die moralische Siegerin, schon hier: Er, den sie liebt und der sie verschmäht, ist jetzt der tragisch Schuldige. Sie wirft ihm einen Blick zu, der all das benennt – und dazu ballen sich ihre Hände zu Fäusten, unauffällig, aber bereits als Anklang und Auftakt zum dritten Akt.
Hier tanzt das Ensemble noch einmal großartig auf. Es handelt sich um einen Ball, zehn Jahre später.
Jetzt ist es Zeit für Rüschen und Volants bei den Mädchen, für Spitzen am schulterfreien Dekolleté und für Blumenkränze im raffiniert hochgesteckten Haar.
Die Jungs tragen Festuniformen mit Stehkragen und breiten Revers – der Gatte Tatjanas, der Fürst Gremin gibt schließlich einen Ball.
Man nennt diesen Tanz die GRANDE POLONAISE, und in der Tat wirkt es mächtig, was hier im Stil eines Salontanzes geboten wird.
Die feinen, kleinen Schritte sind nicht spektakulär, aber im Einklang des Ensembles getanzt, bezaubern sie die Sinne. Dazu spicken Hebungen und kurz über dem Boden vorgestreckte Füße die Polonaise mit Eleganz und Anmut. Wenn die Herren sich freier fühlen wollen, laufen sie mit auf Brusthöhe verschränkten Unterarmen – eine aus dem russisch-folkloristischen Bewegungsvokabular stammenden Haltung – durch die Mädchenschar. Hui, das macht Spaß! Erst recht, wenn man sich dann wieder zu Paaren findet und weiterhin gemeinsam dem Ballvergnügen frönt.
Polka, Walzer, Polonaise – all dieses steckt im „Onegin“, und die Erinnerungen der Titelfigur werden einerseits vom Duell mit Lenski und andererseits von tanzenden Paare sowie auch von wohl geformten einzelnen Damen beherrscht.
Mit diesen liefert er sich sogar synchron getanzte Spagatsprünge, ohne dass er sie sieht – Onegin, der Einzelgänger, tanzt hier mit dem Rücken zu den Damen.
Denn er ist – mal wieder – seines Lebensstils überdrüssig. Mal wieder plagen ihn Weltschmerz und Fernweh, und er reist zu seinem alten Freund Gremin, den er so lange nicht gesehen hat.
Wie ein Schlag trifft ihn da der Anblick von Gremins schöner Gattin: Es ist Tatjana, das Mädchen, das ihn vor zehn Jahren so eifrig umwarb. Onegin kann es kaum fassen – jetzt ist sie so eine Schönheit! Warum wollte er sie damals nicht? War er denn blind? Sah er nicht, dass diese Tatjana alles zu geben hat, was ein Mann sich nur wünschen kann?
Eifersucht brennt in Onegin, dieses Mal ist er ihr Opfer, nicht ihre Ursache.
Als er sich später Zutritt zu ihr verschafft, will er sie verführen. Um jeden Preis. Reumütig legt er ihr sein Herz zu Füßen. Und fast, beinahe gelingt diesem Berserker der Liebe das Unmögliche, nämlich die loyale Tatjana vom Pfad der redlichen Ehe abzubringen.
Wenn er sie auf die Schultern küsst, sie anhebt, sie umgarnt, ihr den siebenten Himmel der Lust verspricht und seine eigenen Bedürfnisse scheinbar ganz hintenan stellt – ja, dann ist sie fast seine Beute, die schöne, stolze Tatjana, die schon so viel um ihn gelitten hat.
Aber sie lässt ihn gehen, sie befiehlt ihm sogar, ihr Haus zu verlassen – und sie weint und quält sich dann doch, als sei ihr Leben ohne die Amour fou zu diesem irren Kerl wertlos.
Wird sie ihm nachlaufen?
Sie muss sich selbst besiegen, um sich selbst treu zu bleiben.
Elisa Carrillo Cabrera schildet diesen inneren Kampf der Tatjana mit jeder Faser ihres Seins, sie sehnt sich nach Onegin, doch sie muss ihn meiden – und langsam senkt sie die Unterarme, die Hände zu Fäusten ballend…
Der orkanartige Beifall gilt ihr – und allen, die an dieser erschütternd schönen Vorstellung mitwirkten. Er ist mit Dankbarkeit und Begeisterung angefüllt.
Gisela Sonnenburg