Die Natur entspringt dem Klang Klaus Florian Vogt begeistert als Siegmund, der spektakuläre Tomasz Konieczny verunfallt, aber Cornelius Meister kitzelt am Pult die Natur heraus: in der „Walküre“ der Bayreuther Festspiele 2022

"Die Walküre" in Bayreuth 2022

Der hier sensationell singende Klaus Florian Vogt als reifender Held Siegmund in „Die Walküre“ auf dem Grünen Hügel. Foto von den Bayreuther Festspielen: Enrico Nawrath

Endlich dürfen sie wieder! Sie singen und spielen den „Ring“ von Richard Wagner, nachdem dieser wegen der Corona-Pandemie seit 2020 ausfallen musste. Die unfreiwillig mehr an Comedy als an Netflix erinnernde Arbeit des sich blendend selbst verkaufenden Regisseurs Valentin Schwarz sorgte zwar an beiden bisher zu hörenden Premierenabenden für kräftige Buh-Chöre – aber die in diesem Jahr dafür wirklich besonders brillierenden Sänger:innen werden denn auch entsprechend vom Publikum vor Ort geliebt. Dem „Rheingold“ am Sonntag folgte gestern „Die Walküre“. Das Orchester ist in Bestlaune, und der für die erkrankte Urbesetzung eingesprungene Cornelius Meister am Pult kitzelt höchst interessante, authentisch nach der Wagner-Zeit klingende Wogen und Wellen aus der Partitur. Wohl nie ist Wagner so scheinbar naturnah präsentiert worden! Donner und Blitze, peitschende Winde, stürzendes Wasser, zwitschernde Waldvögel – Meister holt aus jeder instrumentalen Passage nachgerade meisterlich das raus, was Wagner inspirierte. Er glättet nicht und er verzichtet auf übermäßige Eleganz und Harmonie. Er nimmt spröde Küstenkliffe und herbe Sturmböen musikalisch in Kauf. Die Natur entspringt dem Klang, sozusagen: Manches klingt sperrig und wild, die Instrumentengruppen und Melodiebögen sind oft stark voneinander klanglich separiert. Aber genau das hat so vorzüglich expressives Flair. Und Meister führt uns dadurch tief hinein ins Reich der Naturgewalten. Geht es nicht letztlich um sie?

"Die Walküre" in Bayreuth 2022

Patriarchaler Auswuchs: Geschwisterliebe zwischen Siegmund und der schon von Wotan, ihrem Vater, schwangeren Sieglinde in Bayreuth 2022. Foto der Bayreuther Festspiele: Enrico Nawrath

Leider fehlt eine Regie, die dazu passend die Götter und Menschen als triebgeplagte, aber auch bildschöne Geschöpfe der Natur gezeigt hätte. Manch ein interpretierender Künstler hat die Zeit der letzten Monate aber für sich zu nutzen gewusst und offenbar hart an sich gearbeitet: Klaus Florian Vogt – in der Titelrolle des „Lohengrin“ bereits vielfach auch in Bayreuth erprobt – bot einen erfrischenden, begeisternden Siegmund vom Allerfeinsten: mit klarer, ausdrucksstarker Intonation zunächst im ersten Akt, in dem als ein Held agiert, der – ähnlich wie Parzival – auf der unermüdlichen Suche nach sich selbst, nach der Liebe und dem Höheren überhaupt ist. Man versteht diesen testosteronüberschüssigen Mann, der doch am liebsten ein sanfter Schlaffi wäre, nur zu gut. Er ist ein Prototyp von Held, Vorläufer von Siegfried und allen, die nach ihnen kommen. Noch nie hat Vogt seine Stärken so gut in den Dienst der Rollendarstellung einbringen können. Anrührend und mitreißend verfällt er in Liebe zu seiner Schwester Sieglinde. Deren Darstellung durch Lise Davidsen ergibt mit ihrem fast dunklen Timbre eine schillernde Mischung mit Vogts wunderbar hohem Tenor. Unbezahlbar, die beiden.

"Die Walküre" in Bayreuth 2022

Keine gewöhnliche Vater-Tochter-Beziehung: Brünnhilde und Papa Wotan, der ihre Halbschwester gewaltsam schwängerte. Die Extra-Fantasie stammt nicht von Wagner, sondern von Regisseur Schwarz. Foto von den Bayreuther Festspielen: Enrico Nawrath

Im zweiten Akt dann die vornehme stimmliche Zurückhaltung, eine Facette, die bei Klaus Florian Vogt in dieser Form neu anmutet. Siegmund muss einsehen, dass sein Leben nicht so verläuft, wie er es geplant hat.

Sein langsames Sterben ist ein Abschiednehmen… es beginnt nicht erst mit dem Kampf, bei dem er unwissentlich als Todgeweihter ins Duell geht, weil der Göttervater Wotan es so beschloss.

Es beginnt bereits mit dem zweiten Akt, als die Stimmung gekippt ist und sich die realen Probleme zeigen. So ist das, wenn die Liebe noch so stark sein mag – sie ist von der Obrigkeit nicht erwünscht.

"Die Walküre" in Bayreuth 2022

Ein frustriertes Ehepaar und Kumpel Hunding in der Mitte: „Die Walküre“ mit der Originalbesetzung 2022 in Bayreuth. Foto der Bayreuther Festspiele: Enrico Nawrath

Inzest ist ja nun auch nicht schön, und dass der Regisseur Schwarz den Bruder-Schwester-Sex noch durch einen gewaltsamen Vater-Tochter-Inzest ergänzt hat, indem Wotan hier Sieglinde schwängerte, bevor sie ihrem Zwillingsbruder Siegmund in die Arme fallen kann, ist eine Tautologie, die eigentlich niemand braucht.

Jedenfalls verlangt die Hüterin der Ehe, Fricka, zufällig Wotans Gattin, Sühne für die Geschwisterliebe. Siegmund muss darum sterben, Wotan hilft mit.

Der Held scheint aber zu ahnen, dass zumindest sein Elixier aus Liebeslust ihn nicht weiter wird retten können. Vogt singt hier so ergreifend und doch unpathetisch (soweit das bei Wagner möglich ist), dass sich schon dafür diese Aufführung lohnt.

Auch seine Gefährt:innen auf der Bühne erhalten keinerlei Vorwürfe, sondern Lob: Es ist schon wahr, dass erzwungene Abstinenz die Freude an der Wiederkehr des ewig Gleichen steigert.

Insbesondere Tomasz Konieczny als lüsterner, dennoch auch herrschsüchtiger Wotan ist spektakulär. Tragischerweise erleidet er einen Bühnenunfall, als sein thronartiger Sessel bricht und der Göttervater nach hinten auf den Rücken knallt. So etwas darf eigentlich nicht passieren.

Die Werkstätten für Bühnenbilder und Kulissen sind mit Profis bestückt und müssten im Regelbetrieb eher noch sorgfältiger arbeiten als normale Möbelbauer, als dass ihnen so etwas unterlaufen darf. Lag es an der Konstruktion des Stuhles oder an den Bühnenarbeitern, die ihn zusammenbauten? Wer hätte kontrollieren müssen, dass das Ding hält?

Wer hat hier nicht aufgepasst und das Leben eines Künstlers gefährdet?

Lacher im Publikum bezeugen, dass die Situation zunächst als Regie-Gag verkannt wurde. Faktisch ist Konieczny verletzt. Höchst tapfer – und darin an so manche Ballerina, so manchen Ballerino erinnernd – singt er den zweiten Akt zu Ende.

Dann obsiegt der Schmerz. Im dritten Akt springt Michael Kupfer-Radecky für ihn ein, er hat nicht nur die Gesangspartie parat, sondern wurde auch durch Bühnenproben vorgeschult. Seine Stimme hat nicht denselben Glanz, nicht dieselbe Tiefe, aber auch er würzt die Rolle des Wotan mit männlich-mächtiger Rasanz und einem hohen Grad an Präzision.

"Die Walküre" in Bayreuth 2022

Mittlerinnen zwischen den Sphären als Kundinnen einer Schönheitsklinik – wäre das Konzept von Regisseur Valentin Schwarz nur besser durchdacht. Die Walküren 2022 in Bayreuth singen jedenfalls viel stärker als sie szenisch wirken dürfen. Foto von den Bayreuther Festspielen: Enrico Nawrath

Die Walküren singen derweil alle erhebend edel und dennoch kreischend-feminin, so wie es sein soll. Die musikalische Leitung ist dafür zu loben, dass die wilden Frauen hier auch wirklich wild brüllen dürfen, wenn sie nicht gerade singen. Und auch in ihre Arien ist das Nach-oben-Reißen des Tones eingeflochten, so dass sie eben nicht wie domestizierte Singvögel wirken. Schließlich sind sie Mittlerinnen zwischen den Sphären, zwischen dem Diesseits und Walhall.

Iréne Theorin als Ober-Walküre Brünnhilde und Christa Mayer als Wotan-geplagte Gattin Fricka verdienen Extra-Zuspruch, ebenso Georg Zeppenfeld als Hunding. Dass Mayer in dieser Besetzung auch noch die Walküre Schwertleite singt, adelt ihre Vielseitigkeit und auch ihren Fleiß.

"Die Walküre" in Bayreuth 2022

Die Göttin Fricka 2022 am Sarg des Helden… die Kostüme von Andy Besuch sprechen von Stil, allerdings ist die Bühne zu sehr zugeräumt, als dass die Mode darin gut zur Geltung käme. Foto von den Bayreuther Festspielen: Enrico Nawrath

Bleibt, dem verletzten Opfer dieses Abends alle guten Wünsche für die Heilung zu übermitteln. Möge jene göttliche Kraft immer bei ihm sein, die ihn einst zur Kunst brachte.

Uns möge sie hold sein für weitere, vielleicht auch mal etwas weniger blutige, dafür psychologisch durchdachte Wagner-Abenteuer in Bayreuth.
Gisela Sonnenburg

Direkt zur Aufzeichnung vom BR

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