Hauchzarter Klangnebel steht am Anfang. Wenn der russische Meisterdirigent Valery Gergiev den Taktstock für eine Oper von Richard Wagner hebt, dann darf man Außergewöhnliches erwarten. Erstmals dirigiert er Wagner an dessen Lieblingsort, im Bayreuther Festspielhaus. Der Graben hier, also der Orchestergraben, ist berühmt-berüchtigt, nicht wenige Dirigenten erleben ihr blaues Wunder, wenn sie während der Proben – und während das Orchester spielt – erstmals in den Zuschauerraum wechseln, um die Akustik zu überprüfen. Man darf aber davon ausgehen, dass ein Gergiev weiß, was er macht, wenn er die Ouvertüre zum „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen 2019 so zart und so leise beginnen lässt, dass es nur ein Hauch von Tönen ist. Man muss die Ohren spitzen, um die ersten Klänge überhaupt zu genießen! Und wie stark deren Wirkung dann ist! Zum Ausgleich steigert Gergiev später die Crescendi enorm, lässt sie bei aller Präzision mächtig und übermächtig werden, um dann den Klang wieder aus dem vollen Rauschen heraus fein und ganz sachte zurückzuschrauben. All das nicht zügig, nicht dynamisch, sondern betont zögerlich. Was für ein Wunder an Emotionen erlaubt diese Darbietung! Nicht jede und nicht jeder hat für diese Raffinesse allerdings Verständnis. Aber wer für solche magischen Manöver – die anmuten, als wären sie aus einem Kuss der himmlischen Stille mit dem höllischen Lärm geboren – Sinn hat, dem geht bei Gergievs „Tannhäuser“-Dirigat das Herz auf! Bei der sehr guten Radio-Live-Übertragung auf BR Klassik war das übrigens viel besser nachzuempfinden als bei der leider viel zu ebenmäßig ausgesteuerten Fernsehaufzeichnung durch 3sat. Zusätzlich eine Vorstellung vor Ort zu erleben, war indes der Königsweg, auch für das Ballett-Journal. Und die Aufregung hält an: Nach dieser ersten Sensation folgt mit dem dieses Jahr wieder aufgenommenen „Lohengrin“ in Bayreuth eine zweite.
Sie ist zwar keine Überraschung, übertrifft aber alle (hohen) Erwartungen: Klaus Florian Vogt scheint als Schwanenritter Lohengrin nachgerade geboren zu sein, in jeder Hinsicht übertrifft er viele berühmte Tenöre, die diese Partie schon verkörperten. Fritz Wunderlich mag da noch ein Markstein sein, ansonsten aber toppt Vogt das überhaupt Vorstellbare! Jede Nuance, jede Silbe wird hier verständlich und ergreifend, klar und doppelbödig zugleich. Und dabei war er in diesem Jahr sozusagen nur der Ersatz, für den indes von vielen ebenfalls gepriesenen Piotr Beczala, der terminlich erst für die August-Vorstellungen zusagen konnte und der dann an der Seite von Anna Netrebko auftreten wird. Vor allem aber ist Vogt als Lohengrin eine Erbauung und eine Bereicherung, die schwerlich ihresgleichen finden können.
Die dritte und vierte Sensation des kürzlichen Wagner‘schen Saison-Auftakts waren indes nachgerade berechenbar: Chor und Orchester in Bayreuth sind nun mal vom Besten, nein vom Allerbesten – und an sich schon jede Anreise wert. Die Akustik vermittelt zudem den Eindruck, die gespielten Instrumente würden um einen herum geführt.
Da werden die jeweiligen Inszenierungen zur Nebensache, und das ist in einem Fall auch gut so.
Der „Tannhäuser“, von Tobias Kratzer als makaber-buntes Antimärchen inszeniert, müsste wirklich nicht so banal sein, wie er geraten ist. Viele Konzeptansätze, kein einziges schlüssiges Bild sind zu sehen – und man kann Elisabeth nicht einfach zur heiligen Selbstmörderin machen. Das ist inszenatorischer Schwachsinn, der sich mit „wildverrückt“, wie ein Kritiker formulierte, deutlich überbewertet befindet.
Doch der Reihe nach: Kratzer lässt Venus als schlanke Lebenskünstlerin im schwarzen Glitter-Body gern und rücksichtslos Auto fahren. Sie braust mit einem Truck durch die Gegend, was wir als filmische Projektion auf der Bühne sehen. Auf ihrem Beifahrersitz: ihr Liebhaber Tannhäuser, der als Clown mit orangelockiger Perücke und roter Nase, mit großen Karo-Klamotten und fetter Schminke im Gesicht einher kommt, was keinen Sinn macht, denn er ist ja ihren Reizen mit seiner Männlichkeit verfallen und keineswegs ein geschlechtsneutraler Zirkusnarr.
Vielleicht könnte man den ganzen „Tannhäuser“ ins Zirkusmilieu verlegen – aber einfach nur die Titelfigur entsprechend zu verkleiden, wirkt reichlich flach.
Venus hat hier auch kein Ballett – an sich gehört das getanzte Bacchanal zu den frühen Höhepunkten der Oper – aber zwei seltsame Gefährten an Bord: eine kitschig aufgezäumte, dabei vollbärtige Drag Queen (Le Gateau Chocolat) und einen Kleinwüchsigen, der Oskar Matzerath aus dem Roman und gleichnamigen Film „Blechtrommel“ darstellt (Manni Laudenbach). Die beiden Stummen sollen wohl das Rauschhafte und Immergeile verkörpern, wirken aber einfach nur fade und unerotisch. Hier merkt man schon, wie wenig Regisseur Kratzer von Sinnlichkeit und Kommunikation versteht.
Als sich ein Security-Mann der nachts auf dem Parkplatz eines Fastfood-Restaurants herumkurvenden Venus in den Weg stellt, überfährt sie ihn einfach. Mit vollem Vorsatz. Diese seelische Verrohung ist es, die Tannhäuser anekelt und dazu bringt, Venus zu verlassen.
Auf den ersten Blick scheint das plausibel. Aber auf den zweiten ist es nachgerade frauenfeindlich. Venus steht für das Sinnliche, Erotische – warum soll sie da eine Mörderin sein? Die Verbindung von Sex und Gewalt ist nun wirklich nicht typisch weiblich. Das Frauenbild, das Kratzer hier zeigt, ist ein wirklich schlimmes, zudem falsches Klischee.
Venus ist bei Richard Wagner übrigens auch nicht böse. Sie ist sündig im Sinne von lüstern – aber ganz gewiss nicht bösartig. Die Verteufelung der weiblichen Sexualität, die Kratzer hier vornimmt, ist äußerst rückschrittlich.
Als wäre es nicht möglich, dass ein Mann, der täglich und allnächtlich den geilsten Fick haben kann, davon irgendwann genug hat, weil Sex als Konsum nun mal allein nicht glücklich macht.
Wenn man das Libretto verändert, so sollte das inhaltlich Sinn machen – und nicht platte Küchenpsychologie vorschieben. So wird man das Gefühl nicht los, einer drittklassigen Inszenierung aufzusitzen.
Das Bühnenbild (Ausstattung: Rainer Sellmaier) setzt um, was die Regie vorgibt: auf der Bühne stehen Fragmente eines nächtlich verlassenen Märchenparks herum, Frau Holle aus Plastik, riesige Zwerge, keine Touristen. Hier rasten Venus und ihre Leute, und hier steigt Tannhäuser aus ihrem Tross aus.
Stephen Gould singt die Titelpartie mit Verve, er ist nicht mehr jung, aber ein geübter Wagner-Interpret, der aus seinem seltsamen Aufzug als Clown das Beste macht: Er ignoriert, dass er zugeschminkt wurde und vertraut auf die auch darstellerische Kraft seiner Stimme.
Elena Zhidkova (die für Ekaterina Gubanova einsprang) singt und spielt die Venus mit dem Charme einer bohemien lebenden Außenseiterin. Warum auch nicht? Nur als Liebesgöttin kann sie in dieser Inszenierung nicht punkten, denn Erotik scheint für Kratzer ein Fremdwort. Das ist schade, denn hier werden wichtige Vorzüge der Oper verspielt.
Was für eine sinnliche Kraft müsste von dieser Femme fatale ausgehen, die es vermag, Männern sämtliche Lebensziele zu entziehen, um sie in sexuelle Abhängigkeit zu bringen.
Wagner schickt seinen Tannhäuser punktgenau zu einem bestimmten Termin, nämlich zu einem Gesangsturnier, aus dem Venusberg. Raus der lasterhaften Lust-Höhle der Venus, zurück in die Welt, geht es, zugleich zurück in die Heimat, wo die keusche, süße, liebliche, ihn liebende Elisabeth auf Tannhäuser wartet. Sie ist das Gegenstück zur sexy Venus: Madonnengleich und mit durchaus mütterlichen Qualitäten begabt.
Ein Künstler zwischen zwei Frauen… welcher Mann hat an dieser Figurenkonstellation keinen Gefallen? Richard Wagner war schon schlau als heimlicher Erfüller bestimmter Fantasien.
Nicht zufällig ist auch Tannhäuser ein Künstler, von Beruf Sänger, und darum heißt die Oper mit vollem Titel ja auch: „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“. Denn mit seinen Konkurrenten sich zu messen, ist des Sängers wichtigstes Begehr, als er Venus verlässt – dass mit Elisabeth eine schöne Frau seiner harrt, scheint ihm zunächst gar nicht mal so wichtig. Echte Männer geben ja nicht zu, was sie wirklich bewegt und nach vorne bringt.
Der herzliche Empfang, den Tannhäuser dann genießt, findet bei Kratzer vorm Festspielhaus statt, das als Kulisse fotorealistisch aufgemalt ist. Wagners Denkmal mit vorgestreckten Armen steht klein als Kopie unter einem riesigen Baum, und der grün bewieste Hügel entlockt einem ironisches Schmunzeln. Das Festspielhaus als Wartburg – immerhin gab es das noch nie.
Innen gibt es dann einen mittelalterlichen Saal zu sehen – der Zeitensprung ist heftig, zumal die wettstreitenden Sänger wie fetischisierte Bühnenarbeiter in schwarze Lederkluft gekleidet sind. Stilbrüche bilden nun aber noch keine neue Welt.
Unter den Sängerkollegen des Tannhäuser in Bayreuth muss aber jemand erwähnt werden, der stimmlich über Gebühr erfreut: Markus Eiche singt als Wolfram von Eschenbach so energiegeladen, dennoch nuancierend, dass es einem Ohrenschmaus gleichkommt, ihm zu lauschen.
Und auch Daniel Behle als Walther von der Vogelweide beglückt, zumal Valery Gergiev das Orchester stets den Sängern dienen lässt (und nicht umgekehrt). So kommt auch er hier sehr gut zur Geltung: Man könnte sich Behle sogar glatt als den nächsten Tannhäuser in Bayreuth vorstellen.
Tannhäuser indes langweilt sich mit diesen in seinen Augen zu „normalen“ Gefährten. Ihm klingt all das, was sie singen, nicht sinnlich genug. Es ist ihm, als wüssten sie nicht, was die körperliche Liebe ist und wie sie sich gestaltet. Also schwärmt Tannhäuser vom Innern des Venusbergs, von der Tiefe der Lust, die er dort erfahren hat – und somit verrät er sich vor der prüden, heuchlerischen Society, die dem Sängerwettstreit lauscht.
Oh weh! Nicht nur, dass Tobias Kratzer den Chor als Opernhausbesucher kostümiert. Er lässt jetzt – was für ein plumper Gag – die Festspielchefin Katharina Wagner in einem eingespielten Filmchen die Polizei anrufen. Mit entrücktem Blick steigen alsbald auf der Leinwand Polizeibeamte aus ihren Dienstwagen, stürmen das Festspielhaus und nehmen Tannhäuser fest.
Arme Elisabeth!
Man fühlt mit ihr, vor allem mit ihrer Darstellerin, denn Lise Davidsen ist eine hervorragende Wagner-Interpretin, und man hätte ihr so sehr eine rundum gelungene, in sich schlüssige Inszenierung gewünscht.
Jubilierend sind ihre stimmlichen Höhen, guttural ihre Tiefen, stark ist ihr mittleres Feld.
Sie und Gould und Zhidkova hätten ein spannendes, heterogenes Trio abgeben können… hätte nur die Regie das zugelassen.
Ihrem Tannhäuser muss Elisabeth hier jedoch ihren vernarbten Unterarm hinhalten, als Vorwurf und moralische Erpressung gleichermaßen. In dieser Inszenierung hat Elisabeth nämlich aus Liebeskummer, als Tannhäuser sie verließ, einen Selbstmordversuch hingelegt.
Aber ist das Hinhalten der Narben die normale Reaktion einer liebenden Frau, wenn ihr Antiheld wieder auftaucht? Zumal einer katholischen Gläubigen? Dass der Sängerwettstreit außerdem darüber entscheidet, wer sie heiraten darf – natürlich hat nur der Sieger das Recht dazu – erschwert Elisabeths Situation. Würde sie da dem aussichtsreichsten Kandidaten solche Angst vor der Ehe machen? Wohl nur, wenn sie ihn loswerden wollte. Aber auch in dieser Inszenierung muss Elisabeth ihren Tannhäuser weiterhin lieben, bis zum Tod. Da passt also was nicht zusammen.
Als moralische Erpresserin ist Elisabeth zudem ihrer hehren moralischen Unbeflecktheit ziemlich heftig beraubt. Oje.
Es geht ja auch nicht, aus dieser starken Frau eine Selbstmörderin zu machen, zuerst nur dem Versuch nach, später dann mit Tatvollendung. Spannender wäre es doch gewesen, ihr Verhältnis zu Tannhäuser zu untersuchen. Liebe ist nicht gleich Liebe – und das gilt nicht nur für Männer.
Weiß Elisabeth denn überhaupt, wer Tannhäuser ist, was er für einer ist?
Tannhäuser, das ist ein Mann, der zwischen zwei Frauenmodellen hin- und hergerissen ist. Der eine Grenze überschritten hat, als er sich in den Venusberg einschlich, und er ist dank dieser Erfahrung vermutlich der mit Abstand sexuell erfahrenste Macker, der in Elisabeths Umgebung zu finden ist. Sie, die zarte Unschuld, hat sich also den Supermacho ausgesucht. Keine gute Wahl, im übrigen, denn Erfahrung kann auch Abgestumpftheit bedeuten – aber vermutlich ist es genau Tannhäusers Verwegenheit, seine erotische Vielseitigkeit, die sie fasziniert.
Er hingegen ist etwas simpler gestrickt. Bei ihm geht es um die gute alte männliche Zerrissenheit, einerseits eine Hure, andererseits eine Heilige zur Frau haben zu wollen.
Venus und Elisabeth verkörpern genau diese beiden Typen. Aber sie stehen damit nicht nur für sich, sondern vor allem für die Frauenbilder, die Tannhäuser in seinen sexuellen Fantasien entwickelt. Das wird in dieser Inszenierung leider überhaupt nicht klar.
Man kann Venus als Puffmutter oder als Supernutte inszenieren, als elegante Schönheitskönigin oder als beeindruckende Domina. Als laszive Verführerin oder sogar als naive Nymphomanin, die selbst vom Sexus besessen ist. Was man nicht machen kann: Sie als blutarmes Hippie-Girl zeigen, das sich wahrscheinlich mehr für den Tierschutz interessiert oder für „Freie-Fahrt-für-freie-Bürger“-Parteien als für Sex.
Insofern ist Zhidkova nur zu bedauern… Außer ein bisschen Girlie-Spiel erlaubt die Inszenierung ihr keinerlei Weiblichkeit. Nur einen Trumpf lässt ihr die Regie, der ist allerdings kommunikationstechnisch viel zu wenig umgesetzt: Venus und ihre Combo folgen Tannhäuser hier, sie verfolgen ihn regelrecht, er wird sie nicht so richtig los.
Und Elisabeth? – Sie darf hier ein märchenhaft-mittelalterlich aufgepimptes Prinzessinnenkostüm tragen, eine fette Zopffrisur protzen lassen und vor allem stimmlich ohne Einschränkung brillieren. Aber eine Beziehung zu Tannhäuser oder auch zu ihrem Vater, dem Landgraf Hermann (mitreißend in seiner väterlichen Fixierung auf die Tochter, stimmlich gut passend: Stephen Milling) scheint die Regie zu verbieten.
Hingegen ist es eine gute Idee, Venus als krassen Gegenpol zu Elisabeth in Erscheinung treten zu lassen. Nachdem Tannhäuser erfolglos in Rom um Vergebung bat, taucht Venus nebst dubioser Eskorte auf.
Auf der einen Bühnenseite stehen – in Tannhäusers Fantasie – die drei Kumpels aus dem LKW, auf der anderen Seite die hehre Elisabeth.
Das wäre ein guter Moment, ihn seine innere Zerrissenheit zeigen zu lassen. Doch leider obsiegt mal wieder der Aktionismus in dieser Inszenierung.
Später kann Oskar Matzerath in seinem Matrosenanzug Elisabeth auch nicht trösten, obwohl er es mit dem Einflößen von Dosensuppe, die er in seiner Blechtrommel garte, versucht. Sie bringt sich demonstrativ langsam ausblutend um, damit ihr Herzensheld nicht zu Venus zurückkehrt – und eine filmische Projektion zeigt Elisabeth und Tannhäuser glückselig im Truck im Jenseits, ganz ohne Venus, dieses Mal lenkt er selbst den Wagen. Ja, so stellen sich Männer das vielleicht vor, das mit dem Seelenheil.
Aber ist es schlüssig genug, um eine abendfüllende Oper damit zu illustrieren?
Am meisten schmerzt, wie sehr die Figur der Elisabeth hier missverstanden wird.
Diese Frau stirbt nicht aus Langeweile und auch nicht aus Vergnügen. Weder leidet sie an einer Depression noch an Geltungsdrang. Die Figur der Elisabeth steht für das Pathos der Madonna, die in Keuschheit liebt und ihre übersteigerte Passion für einen sündhaften Mann mit dem Tod bezahlt. Sie stirbt an gebrochenem Herzen, nicht an Suizid.
Das ist nicht einfach zu inszenieren, aber das heißt noch lange nicht, dass man es sich so leicht machen darf wie Kratzer.
Die Sühne, die Tannhäuser in Rom ableisten soll, und die ihm vorerst als Erfolg verwehrt wird, rückt hier in den Hintergrund. Dass ihm am Ende doch vergeben wird, ist bei Kratzer allzu selbstverständlich – dafür soll das lächerliche LKW-Glück im Jenseits bezaubern. Der Hades als Landstraße, das Paradies als Road-Movie… na, da hätte man dann aber wenigstens einen streunenden Kerberos erwartet.
Im übrigen ist so eine paradiesische Idee vom Autofahren in Zeiten wie den unsrigen schlichtweg total out.
Die heftigen Buhs für die Regie von Tobias Kratzer kamen denn auch von verschiedenen Seiten, und auch Valery Gergiev wurde bei der Premiere nicht geschont. Immerhin gab es für beide Künstler auch viel, viel Beifall – und für die weiteren Ausübenden den verdienten Applausregen.
Weniger umstritten, vielmehr zu Recht stark umjubelt, obwohl mindestens genauso „modern“ ist die wieder aufgenommene Inszenierung vom „Lohengrin“, die von Yuval Sharon stammt und die letztes Jahr premierte.
Hier durften der in Leipzig ansässige Kunstmaler Neo Rauch und seine Gattin Rosa Loy die Ausstattung besorgen, und der delikate Farbsinn der beiden garantiert eine hoch poetische Szenerie in Blau.
Puderblau, Dunkelblau, Graublau, Preußischblau – wie gemalt erscheinen die Figuren in der Guckkastenbühne, und dass die Menschen hier ebenfalls blau gefärbte Insektenflügel auf dem Rücken tragen, erscheint ganz natürlich, ganz so, als sei die Menschheit solchermaßen fortschrittlich.
Christian Thielemann ist zudem genau der richtige Wagner-Dirigent, wenn man kein Risiko eingehen möchte, sondern eine frische, flott getragene, zugleich aber auch weiche und flexible Interpretation zu hören wünscht. Und Thielemann enttäuscht nicht, sondern als sehr Bayreuth-erfahrener Dirigent entlockt er dem Orchester große Klarheit, gepaart mit regelrecht ausströmender Gefühligkeit.
Es zirpt, es surrt, es säuselt in der Gralsmusik, langsam steigen die Bässe empor – alles mischt sich, bis es an den dramatischen Passagen stürmisch und aufpeitschend wird.
„In der Musik wird aller Begriff Gefühl“, schrieb Richard Wagner…
Und die Streicher klingen nachgerade alarmierend, die Bläser hingegen so leichtfüßig wie nie. In den Details liegt die Würze!
Thielemann betonte im Interview, dass ihm die Assistenten in Bayreuth sehr wichtig seien, die hilfreiche Dienste beim Überprüfen der Akustik leisten. Denn was nützen alle guten Absichten, wenn die physikalischen Gegebenheiten der Schallwellen andere Wege vorschreiben?!
Um Physik und Technik geht es auch auf der Bühne. Elektrische Leitungen, Propeller, Turbinen schmücken das Gefilde, und zeitweise hat man den Eindruck, dass sich vor allem die böse Energie, die Macht des Dämonischen, über diese technischen Leitungen ausbreitet.
Der Kampf zwischen Gut und Böse ist im „Lohengrin“ ja ganz klar zu bezeichnen.
Auf der einen Seite stehen der Titelheld und die von ihm geliebte Elsa, auf der anderen Seite stehen der neidische, machtgierige Telramund und dessen ihn stetig anstachelnde Gattin Ortrud (eine andere Lady Macbeth).
Friedrich von Telramund wird von Tomasz Konieczny sehr stark gesungen und dargestellt, an seinem Akzent könnte der Künstler allerdings noch arbeiten. Sein böses Weib Ortrud findet in Elena Pankratova eine exzellente Stimmlichkeit und eine sehr feminine Figur; das Mephistophelische könnte in ihrem Spiel allerdings noch stärker aufblitzen.
Wenn sie ihren Mann endgültig zum Bösen bekehrt, findet Regisseur Sharon für diese Szene ein einleuchtendes Bild: Ortrud umgarnt Telramund wörtlich, umwickelt ihn, fesselt ihn.
Nachgerade begeisternd: Georg Zeppenfeld als Heinrich der Vogeler. Er singt stattlich, souverän, beruhigend, dennoch anregend – absolutes Bayreuth-Niveau.
Die Höhepunkte aber kommen unbestreitbar vom Liebespaar Lohengrin und Elsa.
Da Camilla Nylund für die Vorstellung am 29. Juli 2019 absagen musste, sprang Annette Dasch als Elsa ein – sie sang diese Partie schon früher sehr erfolgreich in Bayreuth, und ins Konzept von Sharon, Rauch und Loy passt sie sich ebenso vorzüglich ein wie als stimmliche und schauspielerische Partnerin von Klaus Florian Vogt.
Mädchenhaft und energetisch und mit viel Anmut ist Dasch als Elsa in gewisser Weise eine Idealbesetzung. Mit Vogt gemeinsam klingt sie beinahe spirituell, die beiden teilen Hoffnungshöhe und das Fundament des Vertrauens.
Vogt. Ja, was soll man da noch sagen? Klaus Florian Vogt, der seine berufliche Laufbahn als Hornist an der Hamburgischen Staatsoper begann, ist eine Ausnahmestimme, eine Ausnahmeerscheinung – und sowohl in klassisch-romantischen Partien als auch in modernen Opernstücken eine Erbauung (siehe auch hier).
Gerade als „Lohengrin“ feierte er bereits so viele und so große internationale Triumphe, dass man glatt einen Preis speziell für ihn erfinden könnte, als mutmaßlich bester Lohengrin aller Zeiten. Dass er bereits seit 17 Jahren diese Partie singt und spielt, sieht und hört man ihm überhaupt nicht an; nach wie vor hat seine Stimme einen knabenhaften Touch, und sein Schauspiel macht ihn zu einem Ritter mit besonderen Aufgaben bis in die Fingerspitzen.
Vor allem aber gibt es keine Spur Routine in Vogts Kunst. Jede Geste, jeder Ton sind frisch und von innen heraus motiviert. Die Klangfarbe seiner Stimme ist zwar einerseits unverwechselbar, andererseits aber so variabel, dass es ihm möglich ist, jedwede Gefühlsmischung damit auszudrücken.
Wo andere Sänger mit Vibrato nerven, in den Höhen quieken oder in den Tiefen schlapp machen, klingt Vogt ungebrochen geradlinig und warmherzig. Wenn er Elsa seine Liebeserklärungen macht, so schwingt starke Entschlossenheit mit. Wenn er sie ermahnt, nicht an ihm zu zweifeln, wirkt er fast autoritär, zugleich aber flehend. Was für ein mysteriöser Traummann!
Es ist ja eine verzwickte Sache mit den beiden.
Sie wird zu Unrecht angeklagt, ihren kleinen Bruder, den Thronfolger in Brabant, ermordet zu haben. Er kommt als Ritter der Gralsrunde von weit her, aus einer anderen Welt, mit der Mission, sie zu retten.
Als Preis für ihre Rettung – er besiegt Telramund im Duell (hier schlägt er ihm einen Flügel ab) – verlangt er, dass sie ihm trotz avisierter Ehe stets das Schweigen über seine Identität erlaubt.
Wer möchte mit jemandem sein Leben verbringen, der nicht sagt, wie er heißt, wo er her kommt, was für ein Elternhaus er hat, was er früher so gemacht hat?
Es ist ein starkes Stück, was Lohengrin von Elsa verlangt… Und das machen sich ihre Feinde, das böse Paar Telramund und Ortrud, zunutze.
Schlau und gerissen bringt Ortrud Elsa dazu, ihr und Telramund zu verzeihen – und schließlich lässt Elsa sich von ihr auch noch verunsichern und verliert das Vertrauen in ihre Liebesgefühle für Lohengrin.
Da glänzte das Paar noch so berückend beim Hochzeitsmarsch, doch jäh stürzen die beiden ab, als Elisabeth gegen das Leitmotiv („Nie sollst du mich befragen…“) verstößt, also gegen das oberste Gebot im „Lohengrin“ – und somit zwar die Wahrheit erfährt, nämlich, dass ihr Gemahl Lohengrin und der Sohn von Parzival und somit ein Gralsritter ist, sie ihren Mann aber im selben Moment für immer verliert.
Der Trost für alle: Elsas kleiner Bruder schlüpft aus der Schwanenhaut, mit der Lohengrin angereist kam… in Sharons Inszenierung gibt es allerdings weder eine Schwanenhaut noch einen ganzen Vogel, es gibt keinen eindeutigen Schwan hier, was insofern etwas befremdlich ist, als dieses Tier ja ständig besungen wird („Mein lieber Schwan“, „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan“) und außerdem der verzauberte Junge ist.
Die Thronfolge ist somit aber gesichert, auch wenn Elsas Ehe sozusagen den Bach runter ist und sie darum – statt zu sterben – ihre Heimat verlässt.
Yuval Sharon lässt allerdings listigerweise auch das Böse in der Welt bleiben: Bei Wagner stirbt Ortrud, hier jedoch wird sie weiterhin wirken und in gewisser Weise sogar Elsas Platz einnehmen.
In Graublauschwarzbleu wirkt diese pathetische Geschichte allemal poetisch, und das Licht von Reinhard Traub lässt keinen Gedanken daran aufkommen, dass Parzival und sein Sohn sich vielleicht besser hätten tarnen sollen. Die Regie hat jedenfalls getan, was sie konnte, um dem patriarchalen Drive der Story einen feministischen Impetus entgegen zu setzen. Dafür ein großes Extra-Bravo!
Zum Schluss hält Wagner zudem noch einen Trost bereit, den auch Christian Thielemann zu schätzen weiß: Wie alle Opern von Richard Wagner endet auch der „Lohengrin“ in Dur. Die Hoffnung also lebt… und lebt… und lebt.
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg