Der zärtliche Blick Klein und fein und durchaus tänzerisch: Die Hommage „Mein Liebermann“ ehrt den Impressionisten Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

Mädchen in arbeitsamer Atmosphäre: Die „Amsterdamer Waisenmädchen“ (Studie) malte Max Liebermann 1876. Foto aus der ANG Berlin mit Lichtspiegelung oben links: Gisela Sonnenburg

Konzentriert arbeiten die jungen Mädchen an einer Näharbeit. Vielleicht sticken sie Monogramme in die Tisch- und Bettwäsche – „Aussteuer“ nannte man das früher – für eine Hochzeit. Unter ihren Händen blitzen die weißen Tücher auf. Eine Lehrerin, in blauviolettes Schwarz gewandet, stickt mit. Abseits der Gruppe erhält ein Mädchen bei einer anderen Vorsteherin sogar Einzelunterricht. Obwohl die jungen Damen sitzen, erinnert ihre Konzentration an das eifrige Training von Ballettelevinnen. Weiter links sitzt eine zweite Gruppe junger Näherinnen, und auch sie arbeiten ruhig und diszipliniert. Dazwischen wuchert fröhlich die Stadtnatur: ein hoher Baum und sommerliche Büsche, denn wir befinden uns outdoor, im Hof eines großen Gebäudes. Wie zufällig hüpft auf dem von Holzbohlen durchzogenen Sandboden auch noch eine Familie zwitschernder Spatzen umher. Ob sie arg hungrig sind? Wie so viele Menschen auch damals in Amsterdam, wo das Bild 1876 entstand? Die Details sind mit soviel Liebe zum Sujet, mit voller Hingabe an die Stimmung, mit Sinn für das sonnige Flair und die fleißig werkelnden Hände gemalt, dass man meint, man könne, ohne zu stören, hinzutreten. Max Liebermann malte diese „Amsterdamer Waisenmädchen“ nur als Studie, mit Öl auf Leinwand. Aber noch heute wirkt das Bild so cineastisch wie ein Standbild aus einem Kinofilm. Das Licht, das darin schimmert wie auf weichem Samt, schmeichelt der Szenerie – und dennoch ist auf den ersten Blick erkennbar, dass es hier um äußerste Mühe und Anstrengung geht. Fraglos ist das Werk, womöglich einst als flüchtige Vorlage gedacht, eines der reizvollsten Gemälde des sehr produktiven, großen deutschen Impressionisten Liebermann. Dreizehn solcher Pretiosen vereint nun die Ausstellung „Mein Liebermann“ anlässlich des 175. Geburtstag des Malers. Der Titel der Schau, die sich als Intervention versteht, referiert auf die Menschen, von denen man einige zu ihrem persönlichen Bezug zu Liebermann befragte. Darunter sind wissenschaftliche Fachleute, Fans, aber auch Kinder, der Schauspieler Tom Schilling (nicht der Choreograf) und auch Museumsbedienstete. In Videos, die auch auf YouTube stehen, kann man sich ihre Ansicht erklären lassen. Die Ausstellung selbst befindet in einem etwas versteckt liegenden Saal im ersten Obergeschoss in der Alten Nationalgalerie in Berlin (ANG Berlin). Denn zu deren Bestand zählen die gezeigten Meisterwerke des jüdischen Kunstgroßmeisters.

Es gibt nun keinen direkt gemalten Tanz auf diesen Bildern. Und dennoch schwebt hier soviel Tänzerisches mit, dass man ins Schwärmen darüber kommt. Die Haltungen und Gesten der gezeigten Menschen sind ausdrucksstark und prägnant. Die Pflanzen neigen sich hoheitsvoll im Wind, das Licht spielt oftmals in sonnigen Fetzen auf schattigem Grund. Hier ist nichts Tanz – oder alles.

Und das liegt an dem zärtlichen Blick, mit dem Liebermann – wenn auch ohne Beschönigung – die Welt ins Visier nahm.

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

Max Liebermann mit neugierigem Blick im Selbstbildnis von 1925 – das Licht spiegelt sich zusätzlich darin. Foto: Gisela Sonnenburg aus der ANG Berlin

Max Liebermann wird 1847 als Fabrikantensohn in Berlin geboren. Als Teenager erhält der Hochbegabte nach langem Drängeln privaten Zeichenunterricht.

Er soll Jura studieren, strebt aber weiter zur Kunst. Und setzt sich durch, landet an der Kunstschule in Weimar und in Paris, und sein erstes vorgezeigtes großes Gemälde wird gleich ein Knaller: Die „Gänserupferinnen“ des 24-Jährigen verströmen eine ähnlich konzentrierte Arbeitsstimmung wie die „Waisenmädchen“, aber das Bild ist statt in dur in Moll grundiert.

In „Mein Liebermann“ ist es der düsterste Blickpunkt, gleichwohl faszinierend.

Die Frauen sitzen darin in einem düsteren Schuppen oder Keller, im Akkord Gänse quälend. Denn die armen Vögel werden bei lebendigem Leib gerupft. Bauch- und Brustdaunen werden so qualvoll entnommen. Manch eine Gans wehrt sich denn auch, versucht, davon zu flattern. Es ist eine grauenvolle Arbeit, es ist stundenlange Folter an der lebendigen Kreatur. Was Liebermann wohl nicht dachte, was seine Kunst aber antizipiert: Das Bild zeigt, wie destruktiv der Mensch mit seinen Nutztieren umgeht, es ist also ein Grund, überwiegend vegetarisch zu leben und Gänsefedern auf jeden Fall zu meiden.

Bereits bei seiner ersten öffentlichen Ansicht wurde das Gemälde denn auch kontrovers diskutiert. Es war eine Provokation, schon weil das Thema nicht mal bürgerlich, sondern „schmutzig“ war. Es wurde wohl auch gerade deshalb auch gleich gekauft, war es doch damals eine Seltenheit mit diesem Thema. Und man kann es nicht abstreiten: Trotz seines realistischen Gehalts wirkt das Bild wie ein Gleichnis, ganz so, als wolle es zeigen, wie grausam die von Armut gequälte Arbeiterschicht mit denen ihnen nochmals untergeordneten Lebewesen umgeht.

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Übrigens gibt es auch heute noch Länder, in denen Gänsen bis zu vier Mal vor ihrer  Schlachtung auf diese Weise gequält werden. Rupfen ist ja kein Scheren wie bei Schafen, wobei auch die Schur für ein Naturwesen viel Stress bedeutet. Aber die Federkiele eines Vogels sind organische Anker im Nervengeflecht, und solange die Natur sie nicht selbst abstößt, etwa bei der Mauser, sind sie fest mit der Haut verbunden.

Der Schmerz ist in etwa so, als würde man Menschen die Kopfhaare einzeln ausreißen. Das lebendige Tier zu rupfen, ist also eine Schweinerei.

Im Bild von Max Liebermann sieht man den männlichen Aufseher mit selbstzufriedenem, sogar sadistischem Grinsen im Gesicht. Er ist ein grober Gesell, dessen ungepflegter Bart in Zipfeln auf sein Brustplateau fällt. Aber er fühlt sich den Arbeiterinnen überlegen, den Gänsen sowieso.

Nur von wenigen Gänserupferinnen sieht man die Gesichter. Es wird klar: Glücklich sind sie nicht. Sie haben sich in ihr Schicksal als Tierfoltermägde ergeben. Mitleid haben sie nicht mehr. Sie sind abgestumpft, leiden mehr am eigenen Leid als an dem der Tiere. Sie bemühen sich wohl, die grausige Sache so schnell wie möglich zu erledigen.

„Irre“ nennt der Direktor des Hessischen Landesmuseum Darmstadt, Martin Faass, der ein ausgemachter Liebermann-Kenner ist, dieses Bild. Aber irre ist vor allem, was Menschen alltäglich anderen Lebewesen antun.

Und schade ist es, wenn Kunst nicht verstanden wird.

Es geht bei Max Liebermann immer um brisante Inhalte, nie um reine Ästhetik.

Auch wenn er im Laufe seines Lebens eine Entwicklung von sozial schweren Themen hin zum frohgemuten bürgerlichen Leben nimmt: Es ist immer etwas dahinter in seinen Gemälden. Nie genügt einem Liebermann die Oberfläche an sich. Es ist ein krasser Fehler, das zu glauben.

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

„Die Gartenbank“ allein ist es nicht, was hier fasziniert – vielmehr ist es die junge Dame, als die vermutlich die Tochter von Max Liebermann Modell saß. 1916 entstand dieses Bildnis, das den Garten des Künstlers am Berliner Wannsee zeigt. Foto: Gisela Sonnenburg in der ANG Berlin

Er war nicht umsonst einer der bedeutendsten Maler seiner Zeit, zumal er den Stil des Impressionismus aus Frankreich importierte und in Deutschland etablierte. Die Widerstände dagegen waren teilweise stark. Kaiser Wilhelm II., dessen Wort in Kunstfragen damals noch Gewicht hatte – ungeachtet seines wenig aufgeschlossenen Geschmacks – ließ Liebermanns Kunst als „Rinnsteinmalerei“ brandmarken.

Aber 1918 kam die Novemberrevolution, und die schlechte Meinung des abdankenden Kaisers wurde bedeutungslos.

Liebermann konnte sich sowohl dank seines Talents und Fleißes als auch dank guter Verbindungen schon vorher durchsetzen – und er propagierte seine Auffassung von Kunst nicht nur in zahlreichen eigenen Werken, von denen er nicht wenige auf Auftrag hin schuf, sondern auch als international tätiger Kunstsammler sowie als Kunstfunktionär in Deutschland. So war er Präsident der von ihm mit gegründeten „Berliner Sezession“ und ab 1920 sogar Präsident der Akademie der Künste in Berlin.

Seine Kontrahenten von der Front der Moderne waren jüngere Expressionisten wie Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff und Otto Müller – und manche von ihnen beschwerten sich, dass die Clique, die Liebermann um sich scharte, die Türen des Erfolgs nicht für jeden offen hielt. Da schwang manchmal auch ein antisemitischer Unterton mit, gerade bei dem politisch überhaupt nicht zurechnungsfähigen Nolde. Aber das konnte dem starken Max zunächst nicht viel anhaben.

Doch so erfolgreich Liebermann nach außen auch war: Ganz bei sich war er als schaffender Mensch oft unsicher, brauchte den Zuspruch, die Bestätigung. Er wusste denn auch, was Bescheidenheit in der Kreativität wert ist: Ohne die Demut des Schöpfenden der künstlerischen Intention gegenüber wird Kunst zu bloßem Dekor.

Liebermann steckte viel Kraft in diesen Kampf mit sich selbst, dem all seine Werke zu verdanken sind.

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

Im Hintergrund ist das „Landhaus in Hilversum“ von 1901 zu sehen, vorn wird am Tablet demonstriert, wie man das Online-Angebot der Alten Nationalgalerie Berlin vor Ort nutzen kann. Foto: Gisela Sonnenburg aus der ANG Berlin

Privat machte er es sich hingegen stets so einfach wie möglich. So heiratete er mit Martha schlicht die Schwägerin seines Bruders. Und als seine Tochter aus Liebe einen Katholiken ehelichte und ihr Kind mit dem christlichen Namen „Maria“ bedachte, fand er als Jude das auch in Ordnung. Private Komplikationen interessierten ihn nicht. Und Toleranz gehörte sowieso zu seiner Lebensart.

Sein Stolz aufs Enkelkind manifestiert sich in zahlreichen rührenden Bildern.

Aber nie wirken seine Bilder privatistisch, auch dann nicht, wenn sie im eigenen Garten, am Wannsee gelegen, entstanden. Immer hob Liebermann etwas hervor, das man als etwas Allgemein-Gültiges erkennen kann.

„Die Gartenbank“ von 1916 ist eines dieser rundum gelungenen Meisterwerke. Es zeigt von fern eine schlanke Frau in Weiß, deren Gesicht nur mit der Lupe oder dem Close-up erkennbar ist. Große Augen hat sie und einen hübschen Mund. Aber wie sie da so entrückt auf dem sanft geschwungenen Hügel auf einer weißen Bank logiert – mit weißem Hut und weißen Schuhen bildet sie eine einzige Silhouette in Weiß – hat sie die Anmutung einer Skulptur.

Über ihr und zu ihren Füßen flirrt das Sommerlicht, und die Erhabenheit ihrer Statur mag nicht nur, aber auch von der leichten Anhebung rühren, die das saftige Rasengrün dort bildet.

Wahrlich ein Idyll, ein purer, paradiesischer Blick auf das Ewig-Weibliche gelang ihm damit.

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

„Die Gartenbank“ noch einmal: Sie allein ist es nicht, was hier fasziniert – vielmehr ist es die junge Dame, als die vermutlich die Tochter von Max Liebermann Modell saß. 1916 entstand dieses Bildnis, das den Garten des Künstlers am Berliner Wannsee zeigt. Dennoch ist hier kein Detail zufällig. Foto: Gisela Sonnenburg in der ANG Berlin

Und doch wird auch die Vergänglichkeit des sommerlichen Glücks offenbar. Unheilvoll-düster rücken von rechts Gebüsch und Sträucher heran, lassen keinen Lichtstrahl hindurch, wirken soghaft-finster, fast wie große schwarze Löcher. Die Frau auf der Bank ist scheinbar schon unauffällig auf der Flucht vor ihnen – sie ist, so weit wie es möglich ist, auf die andere Seite der Bank gerückt. Und so gelassen sie dort zu sitzen scheint, es ist auch Anspannung in ihrer kerzengeraden Haltung und in ihren schönen Füßen. Sie hat die Beine so übereinander geschlagen, dass sie innerhalb des Bruchteils einer Sekunde aufstehen und weglaufen könnte. Oder wegtänzeln, denn ihre ganze Art ist anmutig. Der rechte Arm, der auf der Armlehne der Bank ruht, könnte diese Bewegung sogar noch stützen. Sie könnte sich dort abdrücken und kraftvoll entfliehen.

Ist sie überhaupt ein Mensch aus Fleisch und Blut? Oder eher eine Chimäre, ein in der Sommerhitze halluziniertes, auch herbei gesehntes Geisterbild?

Das ist, was ich mit „da ist immer etwas dahinter“ meine. Es gibt kaum einen Künstler, der so viel Tiefsinniges in seine Bilder packen konnte und sie doch so leicht erschienen ließ wie Max Liebermann.

Er malte die Szene der weißen Frau auf der weißen Gartenbank öfters, aus verschiedenen Perspektiven, auch in verschiedenen Jahren. Aber die großen Kastanien, die links und rechts vor der Bank standen, fehlen auf dem Bild hier. Dafür ist die gezeigte junge Dame mit dem eleganten Hut – es könnte sich beim Modell um Liebermanns Tochter Maria handeln – unbestreitbar die Hauptattraktion im Bild.

Als des Malers Gartenbank-Schönheit betont sie zudem wie nebenbei das Liebliche und Liebenswerte. Das ist etwas, das Liebermann, seinem Namen sozusagen durchaus alle Ehre machend, niemals übersah. Die Dame in Weiß verkörpert es geradezu, dieses Gefühl gelassener Liebe, dem erwachsene Menschen zustreben.

Der Exzess, der Rausch, der Konsum von Liebe oder auch Sex, also die faszinierenden Lebenselemente der Expressionisten, waren eher keine Themen für Liebermann. Er legte Wert darauf, ein solider Bürger zu sein und kein außer Rand und Band geratener Bohemien.

Hätte man ihn sonst so ernst genommen, wie man es tat?

Zu seinem 80. Geburtstag erlebte Liebermann es als den Gipfel der gesellschaftlichen  Anerkennung, als  man ihm die Ehrenbürgerschaft Berlins verlieh.

Und doch stürzte er 1933 so tief, als sei er nie Deutschlands einflussreichster Maler gewesen.

Es ist erschütternd zu erkennen, zu welchem Hass und zu welcher Willkür Menschen immer wieder fähig sind.

Die Nazis servierten ihn ab, Liebermann legte unter großem Druck seine Ämter nieder, seine Bilder wurden verfemt. Er wurde fortan in Deutschland totgeschwiegen: als Mensch, als Künstler. Seine Wannsee-Villa wurde beschlagnahmt, er wurde gesellschaftlich geächtet, seine Tochter war zum Glück früh mit Mann und Kind in die USA geflohen.

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

Das „Haus am Wannsee“ strotzte 1926 nur so vor lebendigem Grün: der anscheinend besonders weiche Rasen dort begeistert noch heute so manche Bildbetrachter:in. Foto aus der ANG Berlin: Gisela Sonnenburg

1935 starb er, ließ seine Witwe im Nazi-Horror in Deutschland allein zurück. Martha Liebermann blieb in Berlin, ein Fehler, sie brachte sich 1943 um, als ihre Deportation kurz bevor stand.

Was bleibt, ist die Kunst.

Allerdings dauerte es, bis die Kunstgeschichte ihn wieder für sich entdeckte. Erst seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es wieder große Liebermann-Ausstellungen.

In jeder Ausstellung mit seinen Werken darf man ihn neu entdecken, seine Facetten neu zum Schillern bringen, die Hintergründe und Besonderheiten seiner Bilder heraushebend.

Die aufgezeichneten Bekenntnisse, die dem Titel der Ausstellung geschuldet sind und die auf YouTube und auch direkt vor Ort im Museum online abrufbar sind, bezeugen die verschiedenen Zugehensweisen zu Liebermanns Werk. Manche Menschen begeistern sich für Liebmanns stilsicheren Pinselstrich, andere für ein bestimmtes Sujet. Manche finden ganze Landschaften in den von Liebermann gemalten Gesichten, andere fühlen sich in die gezeigten Szenerien so stark ein, als seien sie zu Besuch darin.

In Vorbereitung befindet sich in der Alten Nationalgalerie zudem eine umfassende Ausstellung zu den Sezessionen, mit Werken von Gustav Klimt, Franz von Stuck und eben Max Liebermann. Man darf gespannt sein.

Die Rettungskunstpakete, die Liebermann aus dem Dritten Reich in die Schweiz schickte, enthielten übrigens die Lieblingsbilder seiner Sammlung: Werke von französischen Impressionisten.

Zahlreiche Portraits schuf Liebermann selbst mit scheinbar lockerem Schwung. Aber dabei ist genau austariert, wo der Pinselstrich dick aufträgt und wo er zart bleibt. In der Ausstellung sind das Portrait von AEG-Gründer Emil Rathenau zu sehen und auch das von Wilhelm Bode, dem wichtigen Berliner Museumsmann. Etwas selbstgerecht wirkt Rathenau unter seinem weißgrauen Bart. Verträumt und doch verbittert wirkt hingegen Bode, der, nimmermüde arbeitsam visionierend, ein Buch in der Hand hält.

Und da ist ein Selbstportrait von Liebermann, aus dem Jahr 1925, auf dem er sich glatt  als Linkshänder zeigt, weil ihm das Spiegelbild, nach dem er sich malt, die Rechte als Linke zeigt. Er hält den Pinsel mit dieser Hand, mit der anderen die Palette, graubraun sind dennoch die hier überall vorherrschenden Farben, und auch die Sportlichkeit der Mütze, die Liebermann trägt, kann und soll ihn nicht jünger machen, als er ist.

Sein Blick verrät: Er schaut genau hin, ganz genau, bei anderen wie bei sich selbst.

Er ist neugierig, fast begierig zu erfahren, was ein Sujet alles in sich bergen und preisgeben kann. Und er will das zeigen, was er sieht, er will loben, was lobenswert ist, will fördern, was ihm förderungswürdig erscheint. Er ist nicht hartherzig oder heuchlerisch. Liebermann ist authentisch und hat sich doch den zärtlichen Blick auf diese Welt, die er so tief erkannte, bewahrt.

Solche inspirierten Macher:innen fehlen heute oft. Auf welchem Gebiet auch immer, ob in der Kunst, im Tanz, in der Musik, im Theater, in der Oper, in der Literatur und erst recht in der Wirtschaft und in der Politik – das Profitstreben scheint zuzunehmen und die Utopie verschwindend klein zu werden.

Manche Menschen machen sich darüber Sorgen.

Aber dann sehen sie sich ein Bild näher an, zum Beispiel das „Stevenstift in Leiden“, das Liebermann 1889/90 in den Niederlanden malte. Und da ist sie wieder: diese charmante Augenzwinkerei, mit der Liebermann auch traurige Themen zu vermitteln wusste.

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

Dr. Ralph Gleis, Direktor der Alten Nationalgalerie Berlin und Kurator der Ausstellung „Mein Liebermann“ vor dem Bild „Stevenstift in Leiden“ von Max Liebermann. Auch in diesem Bild ist etwas dahinter… Foto aus der ANG Berlin: Gisela Sonnenburg

Die private Einrichtung in Leiden, der hier sein Augenmerk gilt, ist nämlich das Pendant zu einem Waisenhaus, wie er es mit den „Amsterdamer Waisenmädchen“ malte. Es ist ein Stift für Alte und Bedürftige, und die Damen, die hier im Hof handarbeitend und palavernd in der Sonne sitzen, haben den größten Teil ihres Lebens hinter sich.

Sie arbeiten denn auch nicht konzentriert, sondern zur Zerstreuung – routiniert, wie aus Langeweile, um dem eintönigen Stiftsalltag auf kurze Zeit mit Schwatzen und Nähen zu entkommen.

Vor ihnen wuchert in einem umzäunten Beet die Natur ­­­– ein schimmernder Hain aus verschiedenen Stauden und Büschen.

Im dem Zuschauer gegenüber liegenden Hintergrund des Bildes türmen sich allerdings in fast expressionistischer Manier schiefe Dächer und Dachluken, auch die Schornsteine sehen mehr nach Schmidt-Rottluff aus als nach der typischen harmonischen Eleganz in Liebermanns Gemälden. Das ist in Liebermanns Werk ein seltenes, nachgerade experimentell anmutendes Detail.

Sogar die „Gänserupferinnen“ und die ebenfalls arbeitsreiche „Flachsscheuer in Laren“ von 1887 hatte Liebermann mit einem Flair ästhetischer Theatralik versehen. Bei den Stiftsdamen aber verzichtet er darauf, den Hintergrund – wie sonst – mit geraden Linien in der Vertikalen und der Horizontalen in Form zu bringen. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass das Leben, das hinter den Damen hier liegt, nicht immer glorios war.

Dabei besteht das Dasein als alternder Mensch meistens aus Erinnerung. Das Bild schildert also auch das Eintauchen in jenes Paradies, aus dem uns, frei nach Jean Cocteau, nur die Demenz vertreiben kann.

Ralph Gleis, Direktor der Alten Nationalgalerie und Kurator der Ausstellung, bewundert an diesem Frühwerk Liebermanns die Vielseitigkeit, vor allem den Umgang des Künstlers mit Helligkeit und die daraus resultierende Dichtigkeit an Atmosphären: „Das Bild fängt mit seiner reliefhaft gespachtelten Farbe unterschiedliche Lichtstimmungen ein.“

Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin

Die Stiftsdamen im „Stevenstift in Leiden“ – atmosphärisch dicht ist das Bild mit den unterschiedlichen Lichtspielen darin. Foto aus der ANG Berlin: Gisela Sonnenburg

Tatsächlich: Wirklich hell ist nur der blassblaue Himmel. Ein Plateau aus sanftgrünem Gebüsch reflektiert das Licht, ihnen gegenüber fangen die Stiftsdamen das Sonnenlicht für ihre Handarbeiten ein, während über ihnen die sandfarbene Hausfassade mit vielen Fenstern ein starkes Licht-Schatten-Spiel aufweist. Ein Vogelkäfig mit gelben Kanarienvögeln steht dort auf den geöffneten Fensterläden – ein Sinnbild für die Frauen hier, die wohl nie in ihrem Leben wirklich frei waren.

Dafür blühen ihnen zu Ehren die rosaroten Azaleen auf den Fensterbänken.

Der Weg hier ist gepflastert und von Holzbohlen umrandet. Man könnte darauf tanzen, einen Wiener Walzer etwa, vielleicht auch Langsamen Walzer mit ausladenden Linksdrehungen. Aber es sind zwei Wege, die hier aufeinanderstoßen, und wenn man das dramatisch deuten will, ist es so: Die Frauen, für die es doch schon spät geworden ist, sitzen zwischen den Wegen des Lebens und des Abschieds.

Ihre Erinnerungen dürften verklärend sein und ihnen Kraft geben. Ach, wenn die jungen Girls aus dem Amsterdamer Waisenhaus das wüssten…
Gisela Sonnenburg

Statt Katalog erschien ein nützliches kleines Begleitbuch.

Bis zum 13.11.22 läuft diese Ausstellung.

Zur Museumshomepage geht es hier.

Zu den subjektiven Ansichten einzelner Bilder von Liebermann auf YouTube geht es hier.

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