Da steht die Braut, verschleiert, sie schaut in den Spiegel – und ist sich nicht recht sicher. Am liebsten würde sie wohl wieder heim gehen. Statt am Herzogshof ihres Bräutigams an seiner Seite zu herrschen. Ksenia Ryzhkova vermag als Hippolyta beim Bayerischen Staatsballett – in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier – in wenigen Sekunden all die Zweifel und gemischten Gefühle auszudrücken, die dieses ungewöhnliche Mädchen empfinden muss. Zwangsehen waren vor einigen Jahrhunderten aber an der Tagesordnung. Was nicht heißt, dass die Frauen weniger darunter gelitten hätten als heute. Dieser Beginn eines Balletts (zumal von 1977) ist ungewöhnlich genug – und gehört zu den vielen einzelnen Zutaten, die die Ballettkomödie vor traurigem Hintergrund zu einem der besten der gesamten Tanzgeschichte machen.
Im Verlauf des Abends entwickelt sich die unglückliche Braut über einen aufschlussreichen Lusttraum zu einer verliebten werdenden Gattin – und Ksenia Ryzhkova, die die Doppelrolle der Hippolyta / Titania jetzt zum ersten Mal interpretierte – überzeugt auch hierin.
Mit Charme und Eleganz trippelt, klettert, wuchtet, pirouettiert und liebt sie sich vom verzweifelten Mädchen, das sich im Traum als dominante Elfenkönigin sieht, zur glücklichen Geliebten des Gatten.
Keine Spur mehr von Eifersucht, Alleingelassensein, Fremdheit!
Aber ohne die Elfenwelt, ohne deren Zauber und Sinnlichkeit – wer weiß, was aus der zweifelnden Hippolyta geworden wäre…
Eine Heerschar hübscher Mädchen stickt ihr an der Brautschleppe, als der Bräutigam Theseus erscheint und erstmal alle anderen anwesenden Damen aufregend findet.
Hier liegt der Schwachpunkt der A-Besetzung: Theseus wird von Erik Murzagaliyev getanzt, den man getrost als wandelnde Altlast des früheren Ballettdirektors Ivan Liška bezeichnen kann.
„Muckibuden-Erik“ wäre vielleicht ein passender Spitzname für ihn, denn eine wunderbare, vor überviel Muskeln nur so strotzende Figur, die jeden Nackedeikalender allerbest zieren würde, kann und will man ihm wirklich nicht absprechen.
Aber dass Tanzen eine Kunst und kein Sport ist zudem und mit Rollengestaltung zu tun hat, sagte ihm in seiner gesamter Karriere offenbar noch niemand.
Erik Murzagaliyev stammt aus Kasachstan, hat zweifellos eine gute Erziehung genossen – und steht dennoch, egal, in welcher Rolle, immer wieder ziemlich anteilslos und mit der Ausstrahlung eines Kühlschranks auf der Bühne herum.
Er tanzte im „Sommernachtstraum“ auch schon den Demetrius, und dieser Soldat, der so gerne zackig und pflichtbewusst erschienen möchte, passte sogar noch ein wenig besser zu Eriks Naturell als jetzt der Theseus / Oberon, der nun mal unbedingt männlich und markant, lüstern und leidenschaftlich zu sein hat.
Vorübergehend war Erik Murzagaliyev übrigens nur noch Gasttänzer beim Bayerischen Staatsballett, und schon das war eigentlich zuviel. Jetzt aber ist er anscheinend wieder als Halbsolist integriert. Warum nur?
Man hat schon das mulmige Gefühl, hier würde irgendeine schützende Hand aus der Politik oder Verwaltung über ihn gehalten. Künstlerisch ist er jedenfalls eine Pleite auf voller Linie.
Man muss also bei dieser A-Besetzung den ganzen Abend übersehen, dass die männliche Hauptfigur eher ein Kostümständer als ein Darsteller ist.
Das ist schade, aber zu ändern ist es jetzt vermutlich nicht mehr.
Dafür brillieren die anderen Solisten hier derart, dass man schon rein an ihrem tänzerischen Duktus alle Freude empfinden kann, die Ballett nur zu geben hat.
Da ist, wie gesagt, allen voran Ksenia Ryzhkova.
Sie ist zwar keine neue Lucia Lacarra (an deren angeborene Geschmeidigkeit und Anmut kommt so rasch keine andere Ballerina heran).
Aber: Ksenia verfügt über sehr viel Sexiness, Intelligenz, Charisma – und hat, neben einer sauberen Technik, geschmeidigen Bewegungen und schönen Füßen, eine so starke Ausstrahlung und Bühnenpräsenz, dass man die Augen gar nicht von ihr lassen mag.
Freud und Leid der Hippolyta, aber auch die Unzufriedenheit, den Verliebtheitswahn und das pure Glück der Titania gehen einem mit einer solchen wunderbaren Tänzerin besonders nahe.
Ksenia Ryzhkova tanzt Hippolyta fein und psychologisierend, die Titania hingegen dominant und selbstbewusst. Eine Rechnung, die aufgeht!
Ihr Posen und Drehungen, Arabesken und Attituden sind von großer Schönheit. Und wenn sie sich im Liebeswahn auf den Rücken des zum Esel verzauberten Handwerkers stellt – dann wackelt sie nicht einen Millimeter. Balance ahoi!
Nun ist Ksenia hoch talentiert und auch schon ein Stück weit erfahren.
Sie tanzte ja auch in Moskau schon große Partien. Aber die Arbeit am „Sommernachtstraum“, die Neumeiers Erster Ballettmeister Kevin Haigen als Gastcoach leitete, tat ihr offensichtlich besonders gut, was sie uns auch selbst mitteilte:
„Die Zusammenarbeit mit Kevin Haigen war und ist einfach genial. Er ist ein superguter Coach, er erklärt sehr viel. Man spürt, wie sehr er die einzelnen Partien vom ‚Sommernachtstraum’ verinnerlicht hat. Ich habe viel von ihm gelernt – und habe viele für mich neue Seiten an meiner Rolle entdeckt.“
Ähnlich äußerte sich auch ihr Kollege Osiel Gouneo, der in der Doppelrolle des Philostrat / Puck vom Publikum am Ende der ersten Wiederaufnahme-Aufführung den stärksten Applaus erntete: „Kevin war ein Segen für mich.“
Und Osiel ist einer fürs Münchner Publikum!
Mit Witz und allem gebotenen Schabernack, mit einer geschmeidigen Aura und sinnenhaften Lustigkeit betört er als Puck seine Elfen ebenso wie das Publikum. Was für ein liebenswertes Schlitzohr ist dieser Kobold!
Als Zeremonienmeister Philostrat ist Osiel dann so rechthaberisch und großmannssüchtig, dass man meint, einen Charakter aus der ruhmgeilen Realität der Gegenwart auf der Bühne anzutreffen. „Ich schmeiße hier die Party!“, scheint er mit Verve bei jeder Bewegung zu brüllen. Auch das: ein vorzügliches Vergnügen!
Eine weitere Zutat im Erfolgsrezept von John Neumeier, das sich hier strikt nach William Shakespeares dramatischer Vorlage richtet, sind die Irrungen und Wirrungen der vier Liebhaber im „Sommernachtstraum“.
Sie wirken auflockernd im Bühnengeschehen, verströmen jene Leichtigkeit und Abenteuerfreude, die dem Hauptpaar zunächst eher abgehen muss.
Lovers (Liebhaber) – so werden sie in Kurzform genannt, aber hinter diesem unverfänglichen, nach Glück und Frohsinn duftenden Begriff verbergen sich hier die raffiniert miteinander verstrickten Beziehungsgeflechte zweier Paare.
Da sind Demetrius und Helena.
Er ist ein Offizier und Gentleman, aber vor allem hat er wohl irgendwie Komplexe und versucht, diese durch übertrieben zackige Haltung zu kompensieren. Eine rechte Figurenvorlage für eine Komödie!
Javier Amo – der diese Rolle bereits des öfteren in den letzten Jahren tanzte – verkörpert den Demetrius mit so viel Lust am Spiel, mit solcher technischen Finesse und Grandezza, aber auch mit rückhaltlos gezeigtem Talent zur Komik und zur Lächerlichkeit, dass man ihn dafür schlussendlich umarmen möchte.
Seine Helena ist die junge Maria Shirinkina, die als neue Primaballerina für alle nur möglichen Rollen manchmal in München überfordert scheint, die in dieser Liebhaberinnen-Rolle hier – und das mag auch ein Verdienst von Kevin Haigen, dem einstudierenden Ballettmeister aus Hamburg, sein – aber aufblüht und vollends zu überzeugen weiß.
Mit Brille und rotem Bustier ist die Partie der Helena seit jeher – seit Neumeier sie 1977 choreografierte und Jürgen Rose ihr Outfit ersann – eine Spezialität im Rollengefüge der Ballerinen. Marianne Kruuse, die muntere, in jeder Hinsicht aufrechte Dänin, war damals die Erstbesetzung – und Maria Eichwald, die große Primaballerina mit dem natürlichsten Charme, den man in der Ballettwelt je sah, war eine ihrer herausragenden Interpretinnen.
Da hängt die Messlatte natürlich hoch. Aber Shirinkina weiß, wie sie ihre eigene Persönlichkeit, dieses Mädchenhaft-Niedliche, mit der verzweifelt-naiv um Liebe ringenden Helena vereinen kann.
Da klammert sie sich im Wald an Demetrius, der sie loswerden will, sie besteigt ihn, hängt sich kopfüber an ihn ran, streichelt seine Wange – und er versucht nur, genau das zu unterbinden.
Es ist so komisch. Dann verliert sie, als er sie abgeschüttelt hat, ihre Brille, und der stets zu Scherzen aufgelegte Puck findet sie und setzt sie auf.
Helena tanzt dann verzweifelt wie eine Erblindete, während Puck wie ein Besoffener durch die Gegend torkelt und das offenbar als spaßhaftes Experiment begreift. Bis ihm Oberon die starken Brillengläser abnimmt und ihn zur Ordnung ruft.
Aber wenn Helena, weil ihr Demetrius sie verstoßen hat, frustriert ihr Bustier öffnet und zeigt, was sie darunter hat, dann hegt sie hier kaum noch die Hoffnung, dass der Begehrte ihre weiblichen Reize attraktiv finden und ihnen erliegen könnte. Sie macht sich nur Luft, unternimmt einen letzten Versuch – und scheitert, bis der Liebeszauber einer Wunderblume des nächtens für sie arbeitet.
Da sitzt sie dann auf den Schultern zweier Männer, die sie durch den Wald tragen, und jeder liebkost eines ihrer Beine. Allerdings ist es mühsam, den falschen Verehrer wieder loszuwerden…
Und erst, als Puck die erschöpft im Wald eingeschlafenen vier Liebhaber zur richtigen Zwei-und-zwei-Formation zusammenlegt, dann den Blumenzauber anwendet und ansonsten dem Schicksal vertraut, gelingt das Werk der glücksvollen Paarbildung.
Das zweite Paar hier besteht aus dem romantischen Gärtner Lysander und der huldvollen Hermia.
Jonah Cook lässt nichts zu wünschen übrig, wenn er in prachtvoller, schmachtender Liebhaberhaltung den Lysander gibt. Was für ein Liebender! Floras Lieblichkeit passt in der Tat zu diesem vorzüglichen Lyriker der Körperkunst.
Und Ivy Amista ist nahezu überqualifiziert als seine Hermia. Sie, die auch schon die Hauptrolle der Hippolyta / Titania tanzte, hat all das Staksig-Prinzessinenhafte, das die Rolle der Hermia – im Gegensatz zur komischen Helena – haben darf.
Bei Shakespeare, nach dessen Drama aus der Renaissance das Ballett ja entstand, ist Hermia die „Bohnenstange“, die hoch gewachsene Schlanke, während Helena die süße „Puppe“ ist. Wenn die beiden sich solchermaßen beschimpfen, ist das ein Zickenkrieg vom Feinsten – und auch im Ballett dürfen sie (ohne Worte, aber körperlich beredet) einander fleißig nieder machen. Hach!
Man muss einfach darüber lächeln. Ist doch die Stutenbissigkeit hysterischer und herrschsüchtiger Weiber das größte Problem emanzipierter Frauen…
Aber die Liebhaber beginnen mir ihren Geschichten bereits im ersten Bild vom „Sommernachtstraum“.
Das Pärchen Lysander-Hermia verabredet sich da für ein nächtliches Stelldichein im Olivenhain.
Hippolyta belauscht sie dabei, findet dann auch den Liebesbrief Lysanders an sein Mädchen. Was für Sehnsüchte dieser verliebte Brief in ihr weckt!
Und sie schläft darüber ein, wolllüstig daran denkend, wie es wäre, wenn sie selbst Begierde empfinden und begehrt würde…
In der Elfenwelt in ihrem Traum herrscht der erotische Zauber von Wesen, die im silbrig glänzenden Ganzkörpersuit dem Nebel entsteigen.
Der rechthaberische Philostrat hat sich in Hippolytas Traum zum schelmisch-magischen Puck verwandelt.
Wie ein Panther entert Osiel Gouneo auf leisen Zehen die Bühne. Mit beschwörenden Gesten tanzt er sein erstes Solo, versteigt sich in eine komplizierte Abwandlung der gymnastischen „Kerze“ – und versagt allerdings jenen Handstand aus der Rücklage, der in der Hamburger Version vom „Sommernachtstraum“ so schön die übernatürliche Befähigung des Puck versinnbildlicht.
Schließlich ist Puck schnell wie der Wind und zudem mit allen Wassern der Weltmeere gewaschen.
Aber den Handstand aus Rückenlage beherrscht nicht jeder Tänzer. John Neumeier setzte diese überraschende Akrobatik in zwei Balletten ein (beide Male kreiert mit Kevin Haigen): beim Puck im „Sommernachtstraum“ und in den „Petruschka-Variationen“, einem flippigen, abstrakten Stück nach der Musik von Igor Strawinsky.
Osiel Gouneo schafft es immerhin auch ohne diese tänzerische Delikatesse, den Puck glaubhaft und facettenreich darzustellen.
Zu seinem Chef, dem Elfenkönig Oberon, hat dieser gern sich biegende Gnom ein gespaltenes Verhältnis. Zum Einen betet er ihn nachgerade an, er verehrt ihn, er schmeichelt ihm und leiht ihm nur zu gerne seine Arbeitskraft.
Zum Anderen äfft er den Boss auch gern mal nach, er spielt das Teufelchen, treibt Unfug, lästert und narrt den hehren Oberelfen.
Der trägt, wie seine Gattin Titania, keine silbrig schimmernde Kappe auf dem Kopf (wie das Elfenvolk), sondern eine, die mit fett glitzernden Pailletten besetzt ist. Auch die Bodysuits von Oberon und Titania glitzern, während die der übrigen Elfen ohne Pailletten auskommen.
Es gibt eine Fotografie von 1928, die Jürgen Rose und John Neumeier zu ihren Elfenoutfits inspiriert haben könnte. Sie stammt von Georg Hoyningen-Huene, der 1900 in Sankt Petersburg geboren wurde und mit progressiven Körper-Inszenierungen für schon damals federführende Medien wie die „Vogue“ arbeitete. Das besagte Bild zeigt das Ballett „Ode“, das Leonide Massine für die Ballets Russes kreiert hatte.
Puck trägt allerdings keine Kappe, sondern darf wuschelige Haarpracht mit Glitzerelementen zeigen. Der hautfarbene Bodysuit der beiden Solisten lässt die Brustwarzen frei – inspiriert ist das von jenen mit Schulterträgern versehenen Strumpfhosen, die die klassischen Ballerinos unter ihrem langämeligen Wams tragen, etwa in „Schwanensee“ oder „Giselle“.
Als Helfershelfer wird Puck von Oberon geschätzt und benutzt, als kleines Teufelchen auch mal versohlt. Allerdings mischt sich in die Herr-und-Knecht-Schablone hier auch ein Hauch von Homoerotik.
Das ist gewitzt – und knüpft an Shakespeare an, der – im Gegensatz zu Neumeier – auch einen von Oberon begehrten Lustknaben im Libretto kennt.
Als Puck schließlich seine Fehler bei der Anwendung des Liebesblumenzaubers wieder wett macht und die Liebhaber wie gewünscht zueinander finden lässt, erntet er Streicheleinheiten von Oberon. Oh, diese erscheinen ihm viel wert!
Die Verzauberung der streitsüchtigen Titania übernimmt hingegen Oberon selbst.
Und dann braucht es einen starken Darsteller des Zettel, damit Titania sich gebührend unpassend verliebt.
Damit ist die dritte Handlungsebene im Stück angesprochen: die der Handwerker, die als Pantomimen ein an „Romeo und Julia“ angelehntes tragisches Stück proben und dabei (sowie gen Ende bei der Aufführung auf Hippolytas Hochzeit) jede Menge komischen Zündstoff loswerden.
Es ist aber auch zum Piepen!
Zockelnd tänzeln die Handwerker-Jungs in einer Polonaise hinter ihrem Leierkastenmann durch die Gegend. Ihr Musiker wiederum dudelt schmissige Opernmelodien etwa aus „La Traviata“ von Giuseppe Verdi im Straßenmusikformat.
Als Kontrast zu den romantisch-feierlichen Akkorden von „Ein Sommernachtstraum“ von Felix Mendelssohn Bartholdy für die höfische Welt (wie immer wunderbar zart und rauschend von Michael Schmidtsdorff dirigiert) und den tragend-schwebenden Orgelklängen von Györgi Ligeti für das Elfenuniversum ist die Musik für diese dritte Welt der Handwerker in Neumeiers Stück köstlich trivial.
Dabei entsprechen die Handwerker ganz den Regeln der Slapstick-Komödien.
Ihr Anführer Zettel – mit Robin Strona hervorragend besetzt – sieht sich als Allroundtalent und kann seine hohe Selbsteinschätzung beim besten Willen nicht verbergen. Er ist schon an sich ein komisches Unikum.
Im bürgerlichen Beruf Weber – der „Zettel“ benennt das Weberschiffchen – spinnt Meister Zettel auch als Schauspieler bevorzugt feine feste Fäden.
Im Wald mit seinem Elfenzauber mischt sich Puck – für die Handwerker unsichtbar – unter die Bande. Und auf Oberons Geheiß wird aus Zettel ein Esel, einer, der mit großer Potenz und starkem Glied in den Volkslegenden für geile Männlichkeit steht.
Streifenhose, Hosenträger, Stiefel und lange, hochstehende Fellohren – Neumeiers verzauberter Zettel ist so simpel, aber geschmackvoll gestaltet, dass er einem hochkarätigen Kindertheater entstammen könnte.
„Zettels Traum“ nannte der Dichter Arno Schmidt sein 1970 entstandenes Anti-Buch, das aus über tausend DIN-A-3-Seiten besteht und im dreispaltigen Layout mehrere Ebenen innerer Handlungen gleichzeitig schildert.
Psychoanalyse und Erotik, Gedankenstrom und Literaturinterpretation spielen hierin eine Rolle. Man könnte zudem schlussfolgern, dass Hippolytas Traum, in seiner weitere Träume umfassenden Verschachtelung, ebenso der Traum des verzauberten Handwerkers ist.
Denn auch ihm geschieht hier eine Magie und eine Liebesnacht, die mit den normalen Maßstäben ihrer Bühnenrealität nicht zu erklären sind.
So verliebt sich die schöne Elfenkönigin in den tumben, eselshaften Handwerker. Der wähnt sich im siebenten Himmel, wird er doch von der süßen Titania umgarnt und begehrt, angelockt und – nach den Regeln akrobatischer Ballettkunst – genussvoll vernascht.
Als Zettel aufwacht, meint er, einen Traum hinter sich zu haben – dieser Selbstbetrug hilft ihm, das Geschehene und vor allem auch die Rückkehr aus diesem Paradies zu verarbeiten.
Er umarmt seine Handwerker-Kumpels – und kann sich weiter auf seine Karriere als Laien-Schauspieler konzentrieren.
Dabei hängt es an einem seidenen Faden, ob die Truppe beim Hochzeitsfest des Herzogs Theseus überhaupt auftreten darf. Denn Philostrat, der pingelige Zeremonienmeister, befindet sie für nicht genehm und auch nicht vornehm genug.
Aber Hippolyta, die die bemüht halbgebildeten Handwerker von Beginn an mochte, kann sich gegen Philostrat durchsetzen. Die Handwerker treten auf – und evozieren Lachsalven auf Lachsalven beim Publikum.
Zettel tanzt also den edlen alten Römer Pyramus, einen gar finster entschlossenen Liebhaber. Er strebt zu seiner von ihm fern gehaltenen Thisbe – die, was zu Shakespeares Zeiten üblich war, von einem Mann verkörpert wird.
Ein Tänzer mit ausgebreiteten Armen bildet die „Wand“. Auf die eine Seite des von ihm gehaltenen Paravents ist ein anachronistisches bürgerliches Idyll aus dem Biedermeier aufgemalt, aus Tischchen und Stühlchen bestehend, und Thisbe (entzückend komisch mit Zöpfen und in Spitzenschuhen: Dustin Klein) stickt hier im Takt an ihrem Schal.
Die Stilbrüche sind so derb und so munter durcheinander purzelnd, dass schon allein der Anblick der Szene zum Lachen hinreißt.
Tragischerweise vereitelt dann ein Löwe (hinreißend: Marco Arena), über den Thisbe stolpert, ihre Liebschaft. Denn Pyramus tötet sich mit dem Schwert – Hauruck! – weil er angesichts des Löwen und des Schals von Thisbe glaubt, dieser habe seine Geliebte gefressen.
Ist das ein schadenheiliges Weh und Ach! Man ist gerührt und gereizt zugleich, möchte weinen wie lachen. Meist gewinnt das Zwerchfell…
Diese Szenen sind großartig choreografiert, einstudiert und dargeboten – und wer sie nicht als große moderne Tanzkunst zu schätzen weiß, der kann kein Herz für die Kunst überhaupt haben.
Der Hochzeitstanz auch des Ensembles – das in der Elfenwelt wie am Fürstenhof absolut überzeugt – setzt da noch jenes Quäntchen erhabene Festlichkeit drauf, das man im Ballett ohnehin erwartet.
Die Liebe zwischen Theseus und Hippolyta entstand ja morgens, als er sie aus ihrem wilden, schönen Traum weckte – und sie, noch ganz im Liebestraum befangen, sich rückhaltlos ihm anvertrauen konnte.
So tanzen sie auch später auf ihrer Hochzeit ganz verliebt-verlobt-verheiratet miteinander, sie bilden ein schönes Port de bras zusammen und allerfeinste Hebungen (wobei der Darsteller des Theseus fehlt und durch einen Kleiderständer ersetzt ist, was aber dank der Könnerschaft der jungen Ksenia Ryzhkova und auch dank der aussagekräftigen Choreografie gut auszuhalten ist).
Von Erik Murzagaliyev mal abgesehen, funkelt und flittert und flirtet das Bayerische Staatsballett hier im zweiten Akt so schön, dass man eigentlich sofort nochmal in eine, ach was, in jede Vorstellung gehen möchte.
Künftige weitere Besetzungen des „Sommernachtstraum“ beim Bayerischen Staatsballett werden vermutlich den Vorteil haben, dass entweder Matej Urban oder Tigran Mikayelyan, die beide schon öfters jeweils ein guter Theseus / Oberon waren, oder auch Vladimir Shklyarov (der über die notwendige Mackerhaftigkeit verfügt) diese männliche Hauptrolle tanzen werden.
Und am Ende hält der Puck noch einmal die Zauberblume in den Händen, damit Theseus seine Titania – sie haben sich rasant schnell umgezogen – nochmals in sich verliebt machen kann. Was ist nun Traum, was Wirklichkeit? Sie scheinen ganz und gar real jetzt, der Elfenkönig und seine widerspenstige Gattin.
Weshalb er sie sanft kopfüber empor hebt und eng an seinen Körper presst – und dann, ja, dann weiß man, dass man hier immer richtig sein wird: in diesem unendlich poetischen Gewirr aus Liebe, Triebe und Heiterkeit.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“
Weitere Texte zum „Sommernachtstraum“ im Ballett-Journal unter „Bayerisches Staatsballett“