Der berühmteste Sprung des großen Nurejew „Rudolf Nurejew – Der Sprung in die Freiheit“: arte zeigt eine spielfilmartige Doku, die den Wechsel des Stars aus der damaligen Sowjetunion in den Westen beleuchtet

Noch eine gute Doku über Rudi Nurejew.

Vornehm, aber streng: Konstantin Sergejewitsch klatscht mal wieder ein Probe ab. Rudolf Nurejew pariert da nur höchst ungern. So zu sehen in „Rudolf Nurejew – Der Sprung in die Freiheit“ von Richard Curson Smith. Demnächst auf arte zu sehen! Foto: Videostill / Gisela Sonnenburg

Man könnte glauben, über den großartigen Rudi sei schon alles gesagt. Er schrieb ja selbst seine Memoiren, andere schrieben Biografien von ihm, und nicht wenige Fernsehfilme versuchen immer wieder, sein Profil zu erfassen und neu zu entschlüsseln. Aber ganz unverdrossen geben manche Wahrheitssucher nicht auf, weiterhin Neues zu entdecken – und Richard Curson Smith, einem eher verbissenen Exemplar der Spezies aus der Regie, gelang es nun, mit „Rudolf Nurejew – Der Sprung in die Freiheit“ nach einem Drehbuch von Alexander Schwarz den Wechsel des Weltstars aus dem Osten in den Westen dramatisch nachzustellen. Arte sendet den einstündigen Film mit Kult-Potenzial am späteren Abend, aber hoffentlich nicht zu spät, um alle verfügbaren Ballettfans vor die Bildschirme zu locken.

Wer bislang geglaubt hat, Nurejew sei ein unkomplizierter Zeitgenosse gewesen, wird hier nun von Anfang an eines besseren belehrt. Natürlich war „Rudik“, wie man ihn in der Sowjetunion mit Spitznamen nannte, immer kooperativ, wenn es um seine Kunst ging. Aber wer ihm zuviel Vorschriften machen wollte, ging baden. Schon seine Lehrer mussten mit dem willensstarken Außenseiter irgendwie zurecht kommen und deckelten so manches, seines Talents wegen, das eigentlich einen Verweis aus dem Ballettsaal zur Folge hätten haben können. Aufsässigkeit und Ungehorsam waren Nurejews bestentwickelte Tugenden, könnte man glauben, gepaart mit äußerstem Fleiß und einem starken Willen zur Individualität.

Noch eine gute Doku über Rudi Nurejew.

Rudolf Nurejew in echt – so manche Fotografie wird eingeblendet in die Doku „Rudolf Nurejew – Der Sprung in die Freiheit“, die demnächst auf arte zu sehen ist. Foto: Videostill / Gisela Sonnenburg

Alexander Iwanowitsch Puschkin, sein legendärer Ausbilder in Leningrad (heute Sankt Petersburg), und Konstantin Sergejewitsch, Chef vom dortigen Kirov Theater (heute Mariinsky), förderten ihn dennoch, so stark es im Rahmen ihrer Möglichkeiten ging. Auch wenn Sergejewitsch das Jungtalent recht häufig maßregelte – wenn es hart auf hart kam, hielt er zu Nurejew. Zeitzeugen erinnern sich daran – und der bildhübsche Bolschoi- Star Artem Ovcharenko spielt und tanzt Rudolf Nurejew hier in spielfilmartigen nachgestellten Szenen, als sei ihm die schicksalhafte Rolle auf den Leib geschrieben.

Die Obrigkeit in der SU war ja oft genug brüskiert vom jungen Nurejew. Er war unberechenbar und hielt sich längst nicht an jede Regel, die als unantastbar galt. Die hervorragende BBC-Dokumentation „From Russia with Love“ (2007), die arte bereits vor Jahren gesendet hat, weist bereits ausführlich darauf hin. Manche Zeitzeugen, wie Pierre Lacotte, Ghislaine Thesmar und Tamara Zakrzhovskaya, tauchen in beiden Dokus auf – hier, im „Sprung in die Freiheit“, sind sie freilich um fast zehn Jahre älter.

Artem Ovcharenko aber ist eine Sensation. Tatsächlich hat er Ähnlichkeit mit Rudi, weniger in der Figur, aber im Gesicht. Und er vermag es vorzüglich, das große Vorbild wohl aller Berufs- und Hobbyballerini zu spielen.

Noch eine gute Doku über Rudi Nurejew.

Zeitzeugin Tamara Zakzrhovskaya macht auch im „Sprung“ von Smith und Schwarz mit: Sie fotografierte den jungen Nurejew in der Sowjetunion, und sie war eine Freundin von ihm. Foto. Videostill / Gisela Sonnenburg

Nun hat er tänzerisch einen weniger kraftvoll-gedrungenen, dafür stärker lyrisch-eleganten Körper. Aber das kompensiert die Kameraführung ganz gut, und weil man ja weiß, dass es sich hier um einen anderen Primus handelt als um Nurejew selbst, kann man die Unterschiede der Darbietungen sogar genießen.

Nichtsdestotrotz stürzt man sich nach Ende des Films gierig auf youtube, um sich ein paar Nurejew-Tänze im Original anzusehen. Und das ist ja nun nicht der schlechteste Effekt, den ein solcher Film haben kann!

Dass die Protagonisten oft russisch, manchmal englisch sprechen und auch ein Beschreibungstext mit Untertiteln eingeblendet ist, erhöht den authentischen Effekt der Doku.

Es handelt sich hier aber nicht um ein Portrait von Rudi, sondern um eine Dramatisierung seines Konflikts mit der Sowjetunion. Was indes komplett fehlt, ist die Benennung der politischen Hintergründe. Denn natürlich war Nurejew die wichtigste Beute im Kalten Krieg, die eine der beiden Seiten anhand von einem Künstler überhaupt machen konnte.

Noch eine gute Doku über Rudi Nurejew.

Der schöne Artem Ovcharenko vom Bolschoi – er hat im Gesicht durchaus Ähnlichkeit mit Nurejev, den er im „Sprung in die Freiheit“ spielt und tanzt. Foto: Videostill / Gisela Sonnenburg

Er wurde ja nicht nur wegen seiner Qualitäten als Tänzer so weltberühmt, sondern auch wegen seines Schicksals, das ihn vom bevorzugten und geförderten Sowjet-Künstler zum internationalen Star des Westens werden ließ. Damals, zu Anfang der 60er Jahre, gab es noch nicht so viele Prominente, die von Ost nach West wechselten. Rudik ging im Juni 1961 – also zwei Monate vor dem Bau der Berliner Mauer – einerseits spontan, andererseits nach allerhand Vorspielen diesen Weg.

Liebreizend erzählt der Film von den Vorbereitungen zur Tournee der Kirov-Truppe nebst Rudi in den Westen sowie vom Gastspiel in Paris, wo Nurejew sich dann absetzte.

Er traf dort zunächst (pikanterweise in seiner Garderobe) nach einer Vorstellung die junge Clara Saint, die mit einem Sohn des französischen Kulturministers verlobt war. Sie verknallte sich auf den ersten Blick in Rudi – und zeigte ihm ihr Paris. Perücken ausprobieren inklusive!

Als Claras Verlobter bei einem Autounfall ums Leben kam, tröstete Nurejew sie. Doch von einer etwaigen Heirat war zwischen den beiden nie die Rede – so Clara Saints Stimme in einem Exklusiv-Interview aus dem Off.

Aber die Freundschaft zwischen beiden war innig. Nurejew suchte ohnehin offensiv Anschluss in Paris, ging mit Clara und Pierre Lacotte oftmals aus, ließ sich auf Partys feiern. Der KGB folgte ihm auf Schritt und Tritt, mehr oder weniger unverhohlen. Als Provokation ließ Nurejew einer ihn hartnäckig bespitzelnden Agentin mal ein trockenes Brötchen vom Kellner überbringen – das war seine Art, sich zu wehren.

Als man ihn aber am Flughafen vor dem Weiterflug des Kirov-Ensembles nach London unter Druck setzen und nach Moskau zurückschicken wollte – unter der Vorgabe, man wolle ihn im Kreml tanzen sehen – bekam er es mit der Angst zu tun. Er flehte Lacotte an, ihm zu helfen, man werde ihn, wenn er nach Moskau fliege, wohl nie wieder tanzen lassen.

Noch eine gute Doku über Rudi Nurejew.

Die Silhouette gehört unverkennbar einem Tänzer: Artem Ovcharenko als Nurejew im Zwielicht… so zu sehen im Beinahe-Thriller „Der Sprung in die Freiheit“, demnächst auf arte zu sehen. Foto: Videostill / Gisela Sonnenburg

Mit einem Brieföffner hantierte er pathetisch, markierte sogar eine Selbstmordandrohung – was die Wirkung nicht verfehlte. Lacotte war alarmiert und rief vom Flughafentelefon Clara Saint herbei, mitten in der Nacht. Sie wiederum inspizierte die Lage vor Ort, vertraute sich der Flughafenpolizei an – und riet Nurejew, „wie im Ballett“ zu den französischen Beamten zu springen.

Nach einigem Gerangel mit seinen sowjetischen Bewachern sprang Nurejew den Franzosen nachgerade in die Arme – darum ja auch der Titel hier vom „Sprung in die Freiheit“.

Pierre Lacotte erzählte die Geschichte übrigens noch etwas anders in „From Russia with Love“, als sie hier von Clara Saint erzählt wird. Wobei Lacotte aus mehreren Gründen glaubwürdiger ist, zum Einen, weil er damals jünger und weniger senil klingt als Clara Saint jetzt, zum Anderen, weil Saint in Paris damals als Mitglied der regierungsbefreundeten Oberschicht sehr gute Verbindungen in alle möglichen Richtungen hatte und möglicherweise darüber nicht so gerne spricht.

Jedenfalls lud sie den somit Geflüchteten umgehend in ihr Auto ein, wo sie ihn auf der Rückbank liegen ließ, damit etwaige sowjetische Verfolger ihn nicht sehen konnten. Das klingt wie ein Krimi und schaut sich auch genauso an!

Noch eine gute Doku über Rudi Nurejew.

Wer hätte ihn nicht gern da gehabt: Rudolf Nurejew, gespielt von Artem Ovcharenko, auf dem Rücksitz in Clara Saints Privatwagen. So zu sehen auf arte! Foto: Videostill / Gisela Sonnenburg

Das ist denn auch der große Vorteil dieser Doku: Sie ist spannend und wie ein Thriller aufgebaut – und auch, wenn sie außer einigen schön fotografierten Ballettsaalszenen nur wenig Tänzerisches zeigt, so richtet sie doch den Blick fest auf den berühmtesten aller Tänzer, ja, man kann sagen: auf das wandelnde Symbol für männliches Ballett überhaupt. Fein!
Gisela Sonnenburg

www.arte.tv

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