Weltschmerz in Scherenhänden Die Ausstellung „Selbstkritik 2“ im Berliner Sprechsaal widmet sich der DDR

Bertolt Brecht und andere beim Weltschmerz.

Bertolt Brecht ist der Vater zwar nicht aller Dinge, aber doch des Weltschmerzes in der DDR. So ist es jedenfalls nachzuvollziehen in der Galerie Sprechsaal in Berlin-Mitte. Foto: Gisela Sonnenburg

Der Weltschmerz befällt seine Opfer etappenweise. Er ist sozusagen das Gegenstück zur euphorischen Olympia, die sich ja nur alle vier Jahre blicken lässt. Im Sprechsaal, der Berliner Galerie für Ungesagtes in Berlin- Mitte, regt eine Ausstellung mit Fotos und Bildern sowie mit einem Lese- und Performance-Programm dazu an, sich einem ganz bestimmten Weltschmerz zu widmen: dem in der DDR. Bertolt Brecht und Sibylle Bergemann, Fritz Cremer und Christoph Meyer scheinen dafür ihr Herzblut gespendet zu haben. Benannt ist die Schau aber nach einem Motto von Thomas Brasch. Der schrieb im letzten Jahrhundert eine Reihe von „Selbstkritik“-Gedichten. In „Selbstkritik 2“ – dem für die Ausstellung titelgebenden Poem – heißt es: „Ich gebe alles zu. Ich sehe den Mond über dem Warenhaus / aufgehen, aber: Es fällt mir kein Vers dazu ein.“ Es dürfte kaum möglich sein, so viel Konsumkritik in noch weniger Worte hineinzupacken.

Brasch, der hoch begabte Dichter, zudem ein Regisseur, Übersetzer und Flugblattheld in der DDR, wusste viel vom Weltschmerz. Vielleicht etwas zu viel und dafür zu wenig von Olympia. 1945 im englischen Exil seiner jüdischen Eltern geboren und in der DDR sozialisiert, zog Brasch, wie einst sein Vater, im besten Mannesalter aus der Heimat aus: um westwärts das Fürchten zu lernen und zu lehren.

Denn der Poet, als Intellektueller häufig Opfer, unterschrieb 1976 die Resolution gegen die Ausbürgerung des politischen Geschreisängers Wolf Biermann. Später verließ Brasch wegen all der Schwierigkeiten, die er dadurch bekam, selbst die DDR, auf eigenen Wunsch. Im Herzen aber wurde er den deutsch-deutschen Konflikt niemals los, setzte sich mit seiner Zeit und ihren Phänomenen in seiner Dichtung auseinander.

Seine Shakespeare-Übersetzungen sind legendär, wahre Neuvertonungen des alten Briten in neuer deutscher Sprache. „Die ganze Welt ist Bühne“ – so fasste Brasch, ohne den sonst üblichen unbestimmten Artikel („Die ganze Welt ist eine Bühne“) zu benutzen, den doppelten Boden der Shakespeare’schen Theaterphilosophie phänomenal schlicht und doch trefflich zusammen.

Bertolt Brecht und andere beim Weltschmerz.

Der Dichter Heiner Müller, auferstanden in einem Gemälde von Christoph Meyer, zu sehen im Sprechsaal in Berlin-Mitte. Foto: Gisela Sonnenburg

Brasch, der sich 2001 tötete, der aber in seiner Dichtkunst unsterblich ist, erhält durch die von Lars Dreiucker hervorragend kuratierte Ausstellung eine Hommage an sein melancholisch-wütendes, störrisch-tiefgründelndes Naturell. Die Selbstkritik, die bis zur Selbstzerfleischung geht, die unter die Haut ins Hirn kriecht und wieder vom Hirn in die Haut und so fort, sie hätte ja eine Erfindung der DDR sein können. Zumindest legen die Werke im Sprechsaal das nahe.

Die Selbstbeschuldigung, die Selbstanklage, sie ist darin gedanklich zentral, ohne dass sie direkt thematisiert würde. Aber da sind rotlastige Zeichnungen von 2007, von Christoph Meyer, die Brechts „Flüchtlingsgespräche“ zum Anlass haben. „Ein Mensch kann überall zustand kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals“, heißt es darin. Das von Meyer gezeichnete Gesicht zeigt Erstaunen. Ja, darüber denken viele sonst nie nach.

Ein Gemälde Meyers von 2015 zeigt zudem einen der wichtigsten geistigen Nachfahren von Brecht: Heiner Müller. Dass zehn Deutsche dümmer seien als ein Deutscher – dieser freche Spruch von Müller würde zum Thema der Selbstkritik passen wie die Faust aufs eigene Auge. Dabei ist Selbstverletzung keineswegs beabsichtigt, auch nicht im metaphorischen Sinn. Vielmehr geht es um Effekte des Beichtens, des Sich-Erleichterns, der Reue. Und damit auch: des Strebens nach Vervollkommnung.

Wie edel wirkt das im Vergleich zu den Regeln des Turbokapitalismus heute, in einer Zeit, die nur noch Effizienz und Wahnsinn, Profit und die Gier danach kennt! Aber damals in der DDR war es durchaus en vogue, mit sich selbst hart ins Gericht zu gehen. Das war auch im Westen so: Man durfte Selbstkritik äußern, ohne als Schlappschwanz oder Niete dazustehen. Man musste sich in gewissen Kreisen sogar selbstkritisch äußern, wenn man nicht als dümmlich dastehen wollte. Die Intellektuellen sahen hochnäsig auf die Sportler herab, die immer nur das Vorwärts und nie das Daneben sehen wollten.

Arbeiter spielten in diesem Weltbild eine besondere Rolle. Das Foto „Arbeiter. Schichtwechsel in Berlin-Schöneweide“ von 1972 stammt von Sibylle Bergemann, die damals noch keine Starfotografin, sondern eine außenseiterisch Strebsame war. Arbeiter und Bauern sollten damals die Bevölkerung symbolisieren, und im „Palast der Republik“ (ein Foto von 1987) bespiegelt sich diese im Lichterschein des Lampenwalds, der übrigens gen Westen ausgerichtet war.

Fritz Cremer, als agiler Bildhauer, ist auf Fotografien gleich drei Mal bei der Arbeit zu sehen. Norbert Bunge lichtete ihn in den 80er Jahren ab. Auf Usedom, im Atelier, an der Brecht-Plastik hantierend. Mit einem Spachtel streichelt Cremer da Brechts Ohr – produktiv und zärtlich sieht das aus.

„Der vom Kreuz Gestiegene“ zeigt hingegen eine Abrechnung Cremers: mit der vermeintlichen Selbstbefreiung von Intellektuellen, die sich gottgleich über das Volk stellen. Jesus, der da vom Kreuz steigt, hat die Hände derweil weiterhin in Fesseln, auch wenn die Füße wieder frei laufen können. Surrealistisch wirkt diese Skulptur, als sei sie die Antwort des Ostens auf die Fantasien von Salvatore Dalí.

Portraits von Arno Fischer zeigen den Schriftsteller Günter de Bruyn und den Filmregisseur Konrad Wolf. Aug’ in Auge steht man hier mit ihnen, und es nervt kein bisschen, dass Wolf ohne seine Pfeife nicht denkbar wäre. „Ach Johnny, nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund“ – Marlene Dietrich sang einst diese satirisch-liebkosende Aufforderung von Brecht mit dem ihr eigenen lasziv-authentischem Schmelz. Der würde es vorzüglich in diese Ausstellung passen.

Bertolt Brecht und andere beim Weltschmerz.

Noch einmal Bertolt Brecht, hier ganz in Rot… ganz à la Sprechsaal in Berlin-Mitte. Foto: Promo

Mode passt auch. Sibylle Bergemann wurde vor allem mit Prenzlauer- Berg-Underground-Mode-Fotos bekannt, so mit „Allerleirauh“, einem in den 80ern jungen Designerlabel. Es war die letzte Avantgarde der DDR: mit einem Mantel, der scheinbar in Fetzen am Körper klebt; mit ledernden Handschuhen, die an den Johnny-Depp-Film „Edward mit den Scherenhänden“ erinnern. Der Depp-Film ist aus den USA, lief damals nicht in den Kinos der DDR. Aber dass der Depp wirklich ein Depp ist, weiß man erst seit kurzem: seit sein Scheidungskrieg ihn als Selbstverstümmeler outete. Oder war es veritable Selbstkritik im Suff, als Johnny sich die Fingerkuppe absägte? Ach, Johnny…

Wir werden es nie erfahren und wollen es auch nicht. Aber die Poetik der Selbstkritik in der DDR ist es allemal wert, immer wieder neu erfahren zu werden.
Gisela Sonnenburg

Bis 21. Oktober 2016 im Sprechsaal, Marienstraße 26, Berlin- Mitte, mit Rahmenprogramm

www.sprechsaal.de

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