Ein Mann, zwei Männer, drei Männer Polina Semionova tanzt mit Jason Reilly aus Stuttgart beim Staatsballett Berlin den „Onegin“ – eine Gewissensprüfung

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Die Blumen werden feierlich überbracht: eine gute Berliner Tradition, die hier Polina Semionova (links) und Krasina Pavlova (rechts) nach der „Onegin“-Vorstellung am 27. November 2015 im Berliner Schiller Theater betrifft. Foto: Gisela Sonnenburg

Kann man seinen Lieblingsstar in einer Rolle so leichthin aufgeben? Zumal, wenn er nicht mehr darin auftritt? Wieslaw Dudek, der kein Weltstar des Balletts war, sondern eigentlich nur ein grundsolider Solist, war in der Titelrolle des „Onegin“ eine Offenbarung. Er, der privat ein so liebevoller, netter Mensch ist, konnte den arroganten Schnösel Onegin, der sich als Lebemann von Welt sieht und doch sein Lebensglück aus Hochmut verpasst, tänzerisch darstellen wie sonst niemand. Als sei er speziell für diese Rolle Tänzer geworden! Im April 2015 feierte Dudek mit dieser Partie seinen Bühnenabschied – aber in unseren Herzen wird er immer damit lebendig sein. Doch das Leben geht weiter, die Genesis des „Onegin“ von John Cranko wächst, andere Stars übernehmen die Titelpartie, in immer neuen Kombinationen mit immer anderen Ballerinen. Jetzt tanzen Jason Reilly vom Stuttgarter Ballett und Polina Semionova vom American Ballet Theatre mit dem Staatsballett Berlin das hochkarätige Ballettstück – und das phänomenale Ergebnis ist ein veritabler Grund, Ballett nochmals mehr zu lieben.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Schlussapplaus mit Blumen: eine tolle „Onegin“-Vorstellung war das, mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Dabei ist gerade dieser so versierte Onegin an sich gar kein typischer Held. Onegin, wie der gebürtige Kanadier Jason Reilly ihn tanzt, ist zwar vornehm bis aufs Blut, aber im selben Ausmaß auch von vornherein schwer arrogant. Mit Messerschärfe abgemessen, stimmt in dieser Hinsicht bei Jason jede Mimik, jede Geste, jedes Augenbrauenhochziehen, jedes Naserümpfen. Jason ist ein Onegin wie aus dem Bilderbuch von Choreograf Cranko, wenn der denn eines gehabt hätte. Im Unterschied zu Wieslaw Dudek ist der gelernte Stuttgarter allerdings ein opernhafter Onegin, einer, der viel Stilistik braucht und noch mehr Distanz. Und während bei Wieslaw noch das dickste Make-up irgendwie natürlich wirkte, braucht Jason Reilly die ganz große Geste – aber auch das passt himmlisch zu dem romantisch-dekadenten Fluidum des Onegin.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Jason Reilly tanzt den „Onegin“ mit Erhabenheit und der für die Rolle notwendigen zur Schau gestellten süffisanten Arroganz – wow! Foto vom Schlussapplaus aus dem Schiller Theater Berlin: Gisela Sonnenburg

Bei seinem ersten Auftritt ist dieser Onegin sozusagen in Noblesse gehüllt. Seine Aura ist eine einzige Erhabenheit! Man müsste ihm wohl die Füße dafür küssen, dass er sich überhaupt herab lässt, Madame Larina (Barbara Schroeder) und ihre beiden Töchter auf dem Land zu besuchen.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Polina Semionova als Tatjana, hier beim Schlussapplaus im Schiller Theater: Erst ist sie da das introvertierte Mädchen, dann das liebende Vollweib, das sich gegen sein Herz entscheiden muss. Aber bitte – wow! Foto: Gisela Sonnenburg

Polina Semionova, als die ältere Schwester Tatjana, spielt diese Szene noch sehr introvertiert. Ihre Tatjana ist nicht nur von dem Buch begeistert, dass sie erst bäuchlings auf dem Rasen liegend, dann auf einer Gartenbank kauernd, liest. Sondern sie ist überhaupt bestrebt, die Außenwelt um sie herum nicht allzu wichtig zu nehmen.

Ganz anders ihre Schwester Olga, ganz hinreißend getanzt von Krasina Pavlova. Ballerinen sind ja in meinen Augen übermächtig, was Kraft und Ausdauer angeht – Krasina tanzte nur einen Abend zuvor die Hauptrolle in „Der Nussknacker“. Aber jetzt als Olga zeigt sie erneut, wie organisch sie eine Rolle interpretieren und für die Zuschauer tänzerisch aufdröseln kann.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Krasina Pavlova – eine sinnlich-neugierige Olga in „Onegin“, die bedenkenlos mit der großen Liebe ihrer Schwester flirtet… und damit großes Unheil anrichtet. Wunderbar leichtmütig! Hier beim Schlussapplaus mit Marian Walter. Foto: Gisela Sonnenburg

Ihre Olga ist sinnlich, flatterhaft, in alles und in jeden verliebt, ein entzückend leichtherziges Mädchen, das weniger aus Materialismus (wie in der Oper „Eugen Onegin“ von Peter I. Tschaikowsky) als vielmehr aus Lebensfreude handelt. Sie ist aber auch nicht so lyrisch-überirdisch gestimmt wie beispielsweise Iana Salenko in dieser Rolle. Krasinas Olga braucht keine Antenne in andere Sphären, sie kommt sehr gut als quicklebendiges Girlie in ihrer Welt zurecht.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Berlins Bester: Marian Walter, dessen Interpretation des Lenski einfach umwerfend ist, beim Schlussapplaus im Schiller Theater in Berlin. Foto: Marie-Luise von Kunowski

Kein Wunder, dass Lenski, ihr Verlobter, es genießt, ihr den Hof zu machen und mir ihr zu flirten. Marian Walter, Berlins Bester, legt zudem (wie bereits im ballett-journal.de beschrieben) eine bahnbrechende Neuinterpretation der Rolle hin: nicht mehr nur poetisch, sondern auch energisch ist sein Lenski; kein einfacher Melancholiker mit gelegentlicher Todessehnsucht, sondern ein Weltzugewandter aus der Angst heraus, sein Gefühl sonst an die dunklen Ströme in sich zu verlieren. Er ist sozusagen ein um sich selbst Wissender, ein Mensch, der die Klippe der Depression bereits kennt und sie stets zu umrunden sich abmüht. All das mit einem superben Lächeln auf den Lippen, das von leichter Selbstironie kündet… phänomenal, diese Umdeutung der sonst leicht mondsüchtigen Partie.

Wenn Onegin den Urtypus „Mann“ in „Onegin“ verkörpert, dann ist Lenski also ein zweites Modell dieser Spezies.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Ein atmosphärisches Paar auf der Bühne: Krasina Pavlova und Marian Walter mit Ensemble beim Schlussapplaus nach „Onegin“. Foto: Gisela Sonnenburg

Marian Walter holte sich mit diesem Lenski den Zuschlag für den Onegin, den er in der kommenden Saison tanzen wird – und man ist schon ordentlich gespannt darauf.

Erstmal aber gilt es, Jason Reilly in dieser Partie zu bewundern. Was für eine Eleganz, was für eine Nonchalance, was für ein Filou, dieser Mann! Er ist clever, er hat Glück gehabt im Leben, und er weiß das – und er bildet mächtig was drauf ein. Es geht unter die Haut, so intensiv weiß Reilly das darzustellen. Hinzu kommt, dass er technisch sehr virtuos ist – und schlichtweg atemberaubend schöne Oberschenkel hat.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Jason Reilly ist ein unwiderstehlicher „Onegin“, hier mit Sue-Jin Kang, mit der er das Stück oftmals beim Stuttgarter Ballett getanzt hat. Foto: Stuttgarter Ballett

Kurz und gut: Es wäre nicht normal, wenn die Frauenwelt auf der Bühne sich ob seiner Anwesenheit nicht glücklich schätzen würde.

Also becirct er alle ohne große Mühe – aber als Tatjana ihn im Spiegelbild entdeckt, durchfährt ein großer Schrecken sie. Polina Semionova spielt das herzzerreißend, denn ihre Tatjana scheint schon hier all die Qualen der Liebe zu ahnen, die nun auf sie zukommen. Sie flüchtet zu ihrer Mutter, der Larina – aber helfen kann diese nicht, nur Mut zusprechen. Und so tanzen Onegin und Tatjana ihre ersten gemeinsamen Schritte, als Auftakt zu ihrem ersten großen Pas de deux.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Polina Semionova und Wieslaw Dudek – ein Dreamteam als Tatjana und „Onegin“. Foto: Enrico Nawrath

Der findet ebenfalls in freier Natur statt, auf einem Spaziergang. Cranko hält sich ja insofern an die Versromanvorlage von Alexander Puschkin. Aber der Text, den der Choreograf für Onegin und Tatjana erfand, hat einen ganz anderen Charakter. Onegin öffnet sich hier und erklärt, aus der Sicht des erfahrenen Mannes, dem Mädel Tatjana seine Welt und auch sein Leiden an ihr.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

In ihren Rollen lieben sie sich, aber sie entsagen einander dennoch: Polina Semionova als Tatjana und Jason Reilly als „Onegin“. Foto vom Schlussapplaus im Schiller Theater Berlin: Marie-Luise von Kunowski

Jason Reilly tanzt das mit einer Hingabe und Glaubwürdigkeit, die absolut berückend sind. Auch Mikhail Kaniskin hat in Berlin den „Onegin“ schon mit starker Leidenschaft und großer Überzeugungskraft interpretiert. Und von Wieslaw Dudek sprach ich ja schon. Aber Reilly macht nochmals eine eigene Sache aus diesem Maulhelden, der bei ihm gar nicht weltverdrossen, dafür aber weltgeplagt ist. Und es sind nur allerfeinste, hoch edle Tugenden, die Onegin hier anstrebt!

Ja, und es sind auch wirklich nachvollziehbare Dummheiten, die er beklagt. So lautet wohl sein stummer Text, während er sich die Hand an die Stirn führt: Ach, die Leute! Sie sind ja so oft so unverschämt, so taktlos. So dreist und so derb. So unverständig! So banal! – Na! Da muss ihm doch einfach jeder Ballettfreund Recht geben…

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Das Publikum rief sie oft vor den Vorhang, um ihnen zu applaudieren: Polina Semionova und Jason Reilly nach „Onegin“ am 27. November 2015. Foto: Gisela Sonnenburg

Und Reilly gleitet mit einer Schönheit in die Ausfallschritte, die einen in den Bann schlägt. Seine Pirouetten sind auf den Punkt genau, seine Arabesken geradwinklig, alle Balancen stimmen, die gesprungenen Passagen wirken leichtfüßig und sublim – vor allem aber ist der Drive in seinem Solo ungeheuer stark. Ein Sog geht von ihm aus, und es ist unmöglich, diesen Mann in seinem Jammern auf höchstem Niveau abzuweisen.

Nun hat Tatjana das auch gar nicht vor. Ihren Schutzschild vor der männlichen Power von Onegin verlor sie ohnehin, sowie sie ihn sah – oder besser: sowie er sie ansah, voll Lebensgier, voll Erfahrenheit, mit Spott, Süffisanz und gutem Appetit gemischt.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Auch er ein Import aus Stuttgart für „Onegin“: James Tuggle, der in Stuttgart der Ballettmusikchef ist, dirigiert auch im Schiller Theater. Dank an ihn und die Staatskapelle Berlin für preisverdächtige Klänge! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Und jetzt? Jetzt weint er sich bei ihr aus! Bei ihr, der unerfahrenen Landpomeranze, die drauf und dran ist, ein spätes Mädchen zu werden. Ist die jüngere Schwester doch schon verlobt, sie selbst jedoch hat bisher hauptsächlich mit ihren Büchern geflirtet.

Aber das entschädigt sie jetzt, und die liebe Tatjana schmilzt dahin. Ohne Rückhalt geht sie auf ihn ein, ist bereit, ihm zu lauschen wie einer Bergpredigt, um dann liebend gern dem Mann ihres Herzens tröstend Beistand zu spenden.

Ach, und es ist ja so schön, von einem bedeutenden Mann ins Vertrauen gezogen zu werden… Und dass Onegin sie zuvor einigen Hebungen unterzog, die tadellos verliefen und Tatjana das Gefühl gaben, eine Frau und kein Mädel mehr zu sein, nun ja, lässt eine tiefe Bindung von Tatjana an diesen Mann entstehen.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Polina Semionova und Jason Reilly beim Schlussapplaus nach „Onegin“ in Berlin: Ein perfektes Paar und dennoch gibt es am Ende zwei gebrochene Herzen… was für ein Stück! Foto: Marie-Luise von Kunowski

Für ihn aber ist sie nur eine reizvolle junge Dame, an der er seine Wirkung erprobt. Er spielt mit ihr, er hat keine ernsten, schon gar keine redlichen Absichten. Ein Onegin heiratet nicht, sondern bleibt frei und ungebunden – er ist ein Dandy mit vielen heißen Eisen im Feuer.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Man dankt auch seinem Partner: Polina Semionova kniet vor Jason Reilly, der mit ihr wunderschöne Hebungen, Führungen, Arabesken vollführt. Foto vom Schlussapplaus im Schiller Theater: Gisela Sonnenburg

Aber das sieht und spürt Tatjana nicht. Für sie ist er derjenige, der ihr am besten gefällt, unter allen Mannsbildern, die ihr je begegneten. Punkt.

Als sie sich trennen, ist er inspiriert, vor allem von sich selbst, und sie – schwerstverliebt. In ihn. Liebe als Verwundung, die eine Frau machtlos macht gegen das, was ihr Herz sagt – und wenn ihr Verstand da noch so sehr dagegen anredet.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Gemeinsam beim Schlussapplaus: Gastsolisten, Dirigent, Berliner Stars und im Hintergrund das Corps de ballet vom Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Nachts träumt sie von ihm, er käme aus ihrem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer – und wie er sie dann verehrt!

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Die Startänzerin Polina Semionova verbeugt sich – mit Jason Reilly und dem Staatsballett Berlin im dortigen Schiller Theater nach „Onegin“ beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Jason Reilly kommt wie ein Prinz der Lüfte, er erobert sie ihm Sturm, er hebt sie scheinbar völlig mühelos in die kerzengerade stehende Position, er hebt sie weit über sich hinaus – und Polina Semionova residiert wie eine Prinzessin in seinen Armen!

Ein schönes Paar, beide so geschmeidig und schlaksig. Ihre ranke und schlanke Gestalt ergänzt seine trainierte Muskulösität. Polinas Flair ist lyrisch, aber auch pathetisch, dabei immer so leicht und süß wie ein Hauch Zuckerwatte.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Im Takt des Applauses wird sich verbeugt: nach „Onegin“ am 27. November 2015 im Berliner Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Und wäre Onegin so wie in ihrem schwärmerischen Traum, diese beiden wären bald liebende Eheleute.

Fest überzeugt davon, für ihn gemacht zu sein, schreibt sie ihm einen Liebesbrief. Oh, Torheit der Jugend!

Er reagiert, wie ein verwöhnter, eitler Dandy reagieren muss. Er lehnt ab, auf grausam-herzlose Weise. Sie weint. Er tritt nach, indem er ihr den Brief in die Hände zerbröselt.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Krasina Pavlova als Olga und Marian Walter als Lenski – beim Schlussapplaus in Berlin, nach „Onegin“. Foto: Gisela Sonnenburg

Und um sie noch mehr zu provozieren, holt er sich den nächsten Kick von einer jungen Frau. Olga ist dran, Tatjanas Schwester. Und wie gut auch sie zu diesem Schwerenöter passt! Lenski glaubt, nicht richtig zu sehen. Aber Olga läuft zur Hochform auf, als Onegin mit ihr tanzt, sie wild durch den Ballsaal wirbelt, ihr spielerisch alle Avancen und Versprechen macht, die ein hüpfender Galan nur zu machen versteht.

Krasina Pavlova und Jason Reilly – es ist eine Erbauung, die beiden als Olga und Onegin miteinander charmieren zu sehen. Leicht wie eine Feder wirft er sie empor, und ebenso leicht kommt sie am Boden an. Heißa, da pocht das Blut in den Adern! Heimlich erkennen sich hier zwei, die aus demselben Holz geschnitzt sind, der lebensgierige Onegin und die sinnenfreudige Olga.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Krasina Pavlova und Marian Walter nach „Onegin“ beim Schlussapplaus – im Stück stirbt er, weil er wegen ihr ein Duell verlangte… Foto aus dem Schiller Theater in Berlin: Marie-Luise von Kunowski

Nur ihrem Verlobten Lenski gefällt das gar nicht. Er wird eifersüchtig, da hatte sich wohl auch was aufgestaut, das sich jetzt entlädt. Marian Walter lässt keinen Zweifel daran, dass ihm seine Ehre viel wert ist. Zu viel!

Ohne zu zögern ohrfeigt er Onegin, verlangt Genugtuung. Lässt sich davon nicht abbringen. Die Katastrophe ist angerichtet.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Auch Madame Larina barmt, kann das verhängnisvolle Duell aber nicht verhindern… hier Ballettmeisterin Barbara Schroeder als Madame Larina beim Schlussapplaus nach „Onegin“ im Schiller Theater in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Positionen der tanzenden Figuren stimmen, auch der kurze Pas de trois des empörten Lenski mit den beiden Schwestern, die ihn beruhigen wollen, und die dabei an ihm in die Höhe springen, als seien sie George Balanchines Ballett „Apollon musagète“ entsprungen.

Es hilft nichts. Es kommt zum Duell, Lenski fällt, Onegin flieht in eine andere Sphäre. Erst nach Jahren sehen er und Tatjana sich wieder, da hat sie einen anderen geheiratet: den attraktiven, souveränen Fürsten Gremin.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Alexej Orlenco nach seinem Debüt als Fürst Gremin – einen wunderbaren Ehemann gibt er darin ab, mit sanften Hebungen und sicherem Halt für die Dame seines Herzens. Glückwunsch! Foto vom Schlussapplaus am 27.11.15: Gisela Sonnenburg

Alexej Orlenco debütierte just höchst erfolgreich in dieser Rolle – er interpretiert den Retter von Tatajanas Seelenfrieden mit Schmelz und liebender Zurückhaltung. Während Onegin in ihr Stürme und Gewitterdonner auslöste, ist Orlencos Gremin der heilsame Balsam der ruhigen, tragfähigen Zuneigung.

Der „Rote Pas de deux“, benannt nach ihrem Kleid, ist zugleich Ausdruck dieser harmonischen Liebe wie auch Anlass für Onegin, sich in Tatjana zu verlieben.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Der „Rote Pas de deux“ gehört genauso zu „Onegin“ wie die Paartänze mit der Titelfigur. Hier eine Aufnahme mit Nadja Saidakova und Martin Szymanski vom Staatsballett Berlin, die in den Hauptrollen Brillanz und Passion verkörpern. Foto: Enrico Nawrath

Elegant und ohne falschen Zierat tanzen Polina und Alexej dieses Loblied auf die lebenslange Bindung, die John Cranko, ihrem Schöpfer, ebenso versagt blieb wie den vielen glücklichen oder unglücklichen Singles, die es heutzutage gibt. Und ob man es zugeben mag oder nicht: Auch von diesem „gemütlichen“ einfachen Glück träumt man, denn auch dieses Glück ist erstrebenswert und vielleicht sogar das höchste überhaupt.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Alexej Orlenco: ein eleganter Fürst Gremin, der seine Tatjana auf Händen zu tragen weiß! Foto vom Schlussapplaus nach „Onegin“: Gisela Sonnenburg

Und so wirken die Hebungen und Tragemanöver in diesem Paartanz denn auch ans Herz gehend, sie entzücken und begeistern, und Alexej Orlenco vermag es, den Ehemann als vollendeten Kavalier und Beschützer seiner bezaubernden Gattin darzustellen. Sehr fein!

Und auch den kurzen Pas de deux in Tatjanas Salon, der sich anschließt, tanzen die beiden voll Innigkeit miteinander, voll Verständnis füreinander.

Gremin steht somit für den dritten Typ Mann in „Onegin“: zuverlässig statt oberflächlich, berechenbar statt cholerisch. Nicht nur auf der Bühne, auch im wahren Leben machen Männer wie er das Rennen bei den Frauen!

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

„Onegin“, hiet mit Nadja Saidakova und Mikhail Kaniskin beim Staatsballett Berlin, stehen für höchste Leidenschaft – eine amour fou, die auch diese beiden Stars glorios verkörperten. Foto: Enrico Nawrath

Kein Wunder, dass Onegin vor Eifersucht innerlich zerfressen wird. Aber es ist vor allem auch die Einsicht, den eigentlichen Sinn des Lebens verpasst zu haben, die Onegin in der Interpretation von Jason Reilly hier ergreift. Träumte er eben noch von all den hübschen Frauen in seiner Karriere als Liebhaber und Charmeur, so fällt es ihm nun wie Schuppen von den Augen: Tatjana ist eine äußerst liebesfähige, darum auch begehrenswerte Person, und all der Glamour, den er woanders gesucht hat, ist ihr noch dazu in den Schoß gefallen, kaum, dass sie die Geheimnisse der körperlichen Liebe entdeckt hat.

Er meldet sich bei ihr an. Sie empfängt ihn. Er zögert, hinter dem Vorhang aus Gaze, bevor er zu ihr stürmt. Dann kennt er keinen Rückhalt mehr. Und obwohl sie dagegen kämpft, scheint seine Leidenschaft zu gewinnen.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Der Dirigent mit den Stars des Abends beim Schlussapplaus nach „Onegin“ im Berliner Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Jason Reilly spielt den reumütigen Onegin, als hänge sein Leben davon ab. Er umfängt Tatjana, er bekniet sie. Er lockt sie zu sich. Er reicht ihr die Hand, ohne hinzusehen. Er greift in ihr Leben ein, mal wieder.

Und beinahe gibt sie seinen Küssen auf ihre Schulter nach. Beinahe verliert sie wieder den Verstand wegen ihm.

Aber irgendetwas gibt ihr die Kraft, sich von ihm zu lösen. Ist es Stolz, ist es Rachsucht? Sie gibt ihm seinen Brief, in dem er seine Visite angekündigt hat, zurück, auf dieselbe Art, wie er es damals tat: sie zerreißt ihn und drückt ihm die Schnipsel in die Hände.

Sie kann und will nicht vergessen, wer er wirklich ist. Was sich hinter der Fassade des Edelmütigen verbirgt. Welche Kaltschnäuzigkeit, welche Oberflächlichkeit, welche Unverbindlichkeit. Dafür würde sie niemals ihre glückliche Ehe, ihre soziale Integrität, aufs Spiel setzen.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Beim Schlussapplaus ist alles wieder gut, aber vorher brennen die Herzen… nach „Onegin“ mit dem Staatsballett Berlin am 27.11.2015. Foto: Gisela Sonnenburg

Er muss gehen, und er stürmt hinaus.

Sie bleibt allein, sie kämpft noch einmal mit sich, aber das Eheweib in ihr gewinnt. Polina Semionovas Tatjanas bleibt stark. Auch wenn sie den windigen Onegin für den Rest ihres Lebens lieben wird…

Man ist erschüttert und so angetan, als hätte man das Stück noch nie gesehen. Auch wenn Polina Semionova im Zusammenspiel mit Wieslaw Dudek zweifelsohne noch um Einiges ausdrucksstärker war. Es reicht auch so, um einen zu Tränen zu bewegen und zu Bravos hinzureißen.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Fantastische Girls: Das Ensemble vom Staatsballett Berlin beim Schlussapplaus nach „Onegin“ im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Überhaupt sind die „Onegin“-Vorstellung mit dem Staatsballett so stimmig, wie man sie sich nur wünschen kann. Das Corps de ballet, vor allem die jungen Damen, begeistern in jeder einzelnen Vorstellung mit einem Elan und einer Akuratesse, die wirklich vorbildhaft sind.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Sie tanzen, als sei es das Einfachste von der Welt, dabei stecken viel Mühe und auch Talent dahinter! Das Corps de ballet vom Staatsballett Berlin in „Onegin“. Foto: Enrico Nawrath

Die beiden diagonal über die Bühne verlaufenden Serien von Spagatsprüngen der Damen an den Händen ihrer Partner – angeführt von Olga und Lenski – haben denn auch so viel kollektive Poesie und demokratische Kraft, dass man nur sagen kann: Ja, genau so muss Ballett sein!

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Sie machen auch beim Schlussapplaus eine entzückende Figur: Die Künstlerinnen und Künstler vom Staatsballett Berlin nach „Onegin“. Foto aus dem Schiller Theater: Gisela Sonnenburg

Auch die walzernden Paarszenen, ob vom Ensemble oder von den Hauptdarstellern ausgeführt, ach, sie brechen einem das Herz…

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Bis zum nächsten Mal! Gute Laune beim Schlussapplaus nach „Onegin“ mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Da ist jeder Szenenapplaus verdient, da sind jedes Bravo und Beifalljohlen am Ende vollauf berechtigt. Als Verrat an Wieslaw Dudek kann man das indes nicht bezeichnen – Dudek bleibt, zumal gemeinsam mit Polina Semionova, unvergessen, was einen nicht daran hindern sollte, weitere „Onegin“-Abenteuer zu unternehmen. Und ein Abenteuer ist dieses Mammutstück unbedingt, immer wieder aufs Neue!
Gisela Sonnenburg

Weitere Texte zu „Onegin“ bitte hier im ballett-journal.de unter „Staatsballett Berlin“, „Stuttgarter Ballett“,  „Bayerisches Staatsballett“ und „Hamburg Ballett“, etwa hier:

www.ballett-journal.de/staatsballett-onegin/

 

www.staatsballett.de

 

 

 

 

ballett journal