Hoppla! Schwupps, so schnell kann’s gehen: Erst letztes Jahr angedacht und angeplant, wurde heute in Berlin feierlich die Gründung vom Landesjugendballett (LJB) bekannt gegeben. Seine Intendanz liegt in den bewährten Händen von Ralf Stabel und Gregor Seyffert, den Köpfen der Staatlichen Ballettschule Berlin. Politisch zeichnet nicht etwa das umstrittene Kulturressort der Hauptstadt unter Klaus Lederer (Die Linke) verantwortlich, sondern die viel stärker auf Kontinuität und Qualität setzende Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Sandra Scheeres (SPD). Scheeres, seit 2011 im Amt, zeigte sich im Sommer 2016 ad hoc für die Idee einer Balletttruppe aus den Reihen angehender Profis begeistert. Stabel und Seyffert sprachen sie diesbezüglich bei einem Besuch der Senatorin in der „Staatlichen“ an. Denn immer wieder hatten Kritiker, andere Fachleute und auch Zuschauer gesagt, dass die Aufführungen dieser Ballettschule eigentlich die einer Company seien – und keine typischen Schulvorführungen.
Allerdings: Eine feste Company mit festen Arbeitsplätzen ist das neue Ensemble mitnichten. Es gibt auch keinen fest umrissenen Etat für das Ganze. Sondern man definiert sich von Projekt zu Projekt. Insofern könnte man maulen: Etikettenschwindel! Das aufführungsbezogene Konzept der „Staatlichen“ in Bezug auf Tanz erhält jedoch neuen Auftrieb, neue Verstärkung, auch ein neues Ansehen. Das sind Pfunde, mit denen sich durchaus wuchern lässt – und mit denen man für die Zukunft positive Weichen stellen kann.
Gerade erst absolvierte die Schule große Abende vor Publikum (www.ballett-journal.de/staatliche-ballettschule-berlin-contemporaries/ ) sowie den jährlichen Tag der offenen Tür – und schon punktet sie also erneut.
Das Timing ist perfekt und trägt die Handschrift von Ralf Stabel, einem versierten Buchautor, Theater- und Tanzwissenschaftler, der professorale Weihen und praktische Erfahrung leicht zu verbinden weiß. Seit 2007 ist er Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin und Schule für Artistik – und entwickelte die Einrichtung spürbar.
Gregor Seyffert, Tänzer und Choreograf, hat eine Shooting-Star-Karriere auf der Bühne hinter sich und mittlerweile ebenfalls einen Professorentitel. Er ist bereits seit 2002 als Künstlerischer Leiter der Fachrichtung Bühnentanz an der „Staatlichen“ tätig. An welcher er übrigens auch selbst ausgebildet wurde.
„Tradition bewahren, Neues wagen!“ – mit diesem ihrem Motto kommen Stabel und Seyffert gerade dieser Tage weit:
Ihr Landesjugendballett Berlin ist mindestens bundesweit, vielleicht sogar weltweit einmalig, in der Konzeption wie in der Realisierung.
Mit abendfüllenden Balletten auf Profi-Niveau im Repertoire hatte die „Staatliche“ allerdings ohnehin schon längst etwas zu bieten, das anderen, vergleichbaren Ballettschulen abgeht.
Von den über 200 Tanzschülerinnen und Tanzschülern der Schule werden denn wohl auch die meisten vom LJB deutlich profitieren können. Stehen doch manchmal rund 120 Jungkünstler von ihnen an einem Abend auf der Bühne – und das sind dann wahrlich keine Kammertanzveranstaltungen!
Aber auch die Zusammenstellung der Programme der „Staatlichen“ erinnert eher an hochkarätige Ballettabende als an das, was man als typische Kunsthochschul-Gala kennt.
Jetzt ist dieses hohe Niveau sozusagen auch politisch legitimiert worden.
Sandra Scheeres ernannte die Tanzschülerinnen und –schüler beim Eröffnungsakt im Theatersaal der „Staatlichen“ – der zugleich eine Pressekonferenz war – denn auch prompt zu „Kulturbotschafterinnen und Kulturbotschaftern“.
Die frohe Botschaft des Bühnentanzes werden diese Kinder und Jugendliche sicherlich überall hintragen – wohin sie auch kommen, um mit Leidenschaft zu tanzen.
Und wie sieht es mit den Finanzen aus? Diese kommen sowohl aus dem Landeshaushalt als auch aus einzuwerbenden Drittmitteln. Dafür garantiert die neue Einrichtung den Schülerinnen und Schülern noch mehr Auftrittserfahrung als bisher – deutlich mehr, als sie an anderen Ballettausbildungsstätten geboten wird.
„Jeden Tag wird hier die höchste Leistung von euch erwartet“, wandte sich Scheeres mitfühlend an die anwesenden Kinder und Jugendlichen.
Das sei nur möglich, weil die jungen Leute „tief im Herzen den Wunsch“ haben, Tänzerin oder Tänzer zu werden.
Es ist typisch für Ballett, dass auch in Politikerworten das Schlüsselwort HERZ auftaucht.
Die Verbindung von Gefühl und Intelligenz ist ja auch prägend für diese Kunstart, und dass der Körper im Tanz ein Ausdruck der Seele ist, dürfte sich langsam sowieso herumgesprochen haben.
„Wunderschön“ findet Sandra Scheeres denn auch (im Gegensatz zu ihren Kollegen vom Berliner Kultursenat) ballettösen Tanz. Ah! Hier scheint mal eine Berliner Politikerin der SPD Ahnung von Ästhetik zu haben. Eine Wohltat!
Ralf Stabel betont denn auch, dass man sich gegenseitig verpflichtet sei. Wie Scheeres ist er froh, dass es zwischen dem Bildungssenat und der Ballettschule einen so guten, verständnisvollen Draht gibt.
Und er hofft, dass, wo auch immer auf der Welt Menschen sich für eine professionelle Ballettausbildung interessieren, man an Berlin denken wird – mit den neuen Auftrittsmöglichkeiten umso mehr.
Bis nach Asien werden bereits Tourneen für das LJB avisiert. Vorläufig sind Auftritte in der Oper Leipzig (nicht ganz so weit entfernt von Berlin) und im Theater Dessau (ebenfalls in wenigen Stunden erreichbar) gebucht. Auftritte in Berlin wird es selbstverständlich auch geben, auch die Kooperation mit dem Staatsballett Berlin (etwa in Patrice Barts „Schwanensee“) wird weiter laufen – und weitere Orte werden dazu kommen.
Das Kind LJB ist gerade erst geboren, es wird sich im Leben beweisen müssen…
Als Modell ist es immerhin unikat, angepasst auch auf die europäische Förderstruktur. Mit dem Erasmus-Programm der EU gibt es nämlich Möglichkeiten, Tournee- und Übernachtungskosten relativ unkompliziert zu beantragen. Sponsoren werden das Label Landesjugendballett wahrscheinlich auch attraktiv finden – und die politische Rückendeckung gewährleistet immerhin eine Art Grundversorgung.
Die Unterschiede zu den anderen, bereits bestehenden Jugendballetten in Deutschland sind allerdings fasslich.
So ist das LJB kein Arbeitgeber, der junge Tänzer ins Engagement nimmt. Im Unterschied zum Bundesjugendballett, dem NRW Juniorballett und der Münchner Junior Company bietet es keine Anstellungen und hat auch keine fixe Personalstruktur. Sondern Gregor Seyffert plant und organisiert Choreografien, die dann jeweils mit Berliner Schülern und Studenten besetzt werden. Das macht er nun schon seit Jahren, mit viel Erfolg – aber er kann sein Handeln jetzt größer und besser aufstellen.
Dass auch mal junge Künstler von außen oder auch ehemalige StudentInnen zum LJB stoßen, ist nicht ausgeschlossen. Aber es wird wohl überwiegend reine „Schüleraufführungen“ geben.
Oops, da ist es, dieses Wort von den Schüleraufführungen, das passt und doch nicht passt – dennoch täuscht der Name Landesjugendballett nicht darüber hinweg, dass es sich um ein Schulprojekt handelt, um ein Ausbildungsprojekt, und nicht um eine Company für Berufsanfänger.
Immerhin aber, so Stabel stolz, beugt man definitiv dem gelegentlich international beklagten Mangel an Aufführungserfahrung der Tanzstudenten vor.
Mit dem LJB, so die Intention, sammeln sie derartig viele essentielle, auch verschiedenartige Bühnenerfahrungen, dass sie, wenn sie nach dem Abschluss in die Engagements gehen, dort keine der üblichen, von der Theaterpraxis eher unbeleckte Anfänger sind.
Insofern ersetzt das LJB gewissermaßen die zweijährliche Zusatzausbildung in einer Junior-Truppe.
Oder man anerkennt das LJB auch als eine optimale Vorbereitung für eine der Jugendcompagnien, die es ja nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden, in der Schweiz, in England und vor allem in den USA gibt.
Das Niveau im internationalen Ballettbetrieb jedenfalls steigt beständig, die Anforderungen an die hochkarätig ausgebildeten Tanzkünstler ebenfalls.
Da kann ein Projekt wie das Landesjugendballett, das nunmehr fester Bestandteil der Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin ist, nur haushoch begrüßt werden.
Hipp, hipp, hurrah!
Ganz traditionslos ist so eine Unternehmung allerdings nicht. Das private Dänische Kinderballett etwa, in dem der ehemalige Stuttgarter Startänzer Egon Madsen ausgebildet wurde, tourte zu Beginn der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts durch ganz Europa – und zwar weniger aus pädagogischen als vielmehr aus ökonomischen Überlegungen heraus.
Vom Niveau her sollte man die jungen, überwiegend auf Laienlevel tanzenden Dänen der 50er Jahre und das heutige Berliner Landesjugendballett allerdings lieber nicht vergleichen. Da scheinen nicht nur viele Jahrzehnte, sondern ganze Welten dazwischen zu liegen.
Das beweist ein Blick in die 5. Ausbildungsklasse der Jungen in der „Staatlichen“, die Olaf Höfer leitet.
Der Ballettpädagoge, 63 und selbst auch einst an der „Staatlichen“ ausgebildet, arbeitet seit rund 30 Jahren als Lehrkraft an der Schule. Die Erfahrung, die er gesammelt hat, gibt er gern weiter – und sie mehrt sich noch immer tagtäglich.
Sieben junge Herren trainieren unter Höfers Ägide. Diese kleine Gruppe wird er noch jahrelang führen und täglich – sechs Mal die Woche – in klassischem Tanz unterrichten. Schwächen, Stärken, Eigenheiten sollen dabei zutage treten, es geht um die individuelle Optimierung nicht im Sinne von Gleichmacherei, sondern im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung.
Die kleinen und großen Sprünge, die hier auf dem Plan stehen, klappen schon sehr gut, an Details wird hartnäckig gearbeitet.
„Die Virtuosität beginnt in diesem Alter, also mitten in der Pubertät“, sagt Olaf Höfer.
Die meisten „seiner“ Jungs leben schon seit längerem in Berlin. Über 70 Plätze hat das Internat der Schule, und man legt Wert darauf – im Gegensatz zu anderen Ballettprofi-Schulen – die Absolventen nicht nur durch die letzten beiden Jahre gebracht zu haben. So kam ein japanischer Begabter mit 12 Jahren nach Berlin; andere, etwa aus Italien und Frankreich, kommen mit zehn oder elf aus dem Ausland.
Sie wachsen in ihre Aufgaben hinein, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und lernen, wie nebenbei, auch noch deutsch, auch im Ballettsaal. Dafür lockt beim Abschluss der Titel „Bachelor of Arts“.
Bis dahin sind es aber noch vier Jahre… Noch oft wird die Stimme des Lehrers bis dahin die notwendigen Anordnungen geben.
„Der Schlüssel zur Virtuosität liegt in den schnellen Unterschenkeln!“
Höfer ermahnt seine Schüler, beim Battieren, wenn Wade an Wade schlägt, das Tempo nur ja wichtig zu nehmen.
„Sonst wird es Dinge geben, die ihr nie machen könnt!“ – Für das Herz eines echten Ballerini ist das eine unglaublich schreckliche Vorstellung, also wird sich noch mehr angestrengt.
„Ernsthaft, aber nicht ernst“, so sollen sie arbeiten, sagt Höfer. Und die Unterschenkel der Jungs müssen sich schneller, noch schneller in der Luft kreuzen. Das ist kein Jux: Die Vorbereitung auf Leistungskontrollen ist etwas, das dazu gehört – und nicht als unnötiger Druck empfunden wird.
Dafür machen die Studenten Fortschritte – ihre Figuren, Posen, Sprünge werden mit der Zeit immer vollkommener, im Ausdruck aber auch individuell. Und das ist genau die Mischung, auf die es hier ankommt!
Die Lebendigkeit im Ballett ist denn auch das, was seine Anhänger vor allem zu schätzen wissen.
Um den entsprechend hohen heutigen Standard zu erreichen, ist sehr viel Lust an der Arbeit notwendig.
Lust, nicht Drill!
„Es geht den Jungs nie darum, sich zu drücken“, sagt Olaf Höfer: „Im Gegenteil, sie wollen immer von sich aus noch mehr machen.“
Für ihn, den Lehrer, sei es dann wichtig, das richtige Maß zu finden: „Ich muss sie leben lassen und sie dürfen auch ihren Spaß haben, aber was sein muss, muss eben auch sein.“
Der Spaß an der Sache, mit der sie sich vollkommen identifizieren, steht den angehenden Künstlern ins Gesicht geschrieben. Auch wenn das Lächeln manchmal verrutscht – die Begeisterung, mit der sie sich den Regeln der Klassik unterwerfen, hat einen Zauber, der unnachahmlich und absolut einmalig ist.
Das zeigt sich natürlich auch beim Bühnenvortrag.
Während des offiziellen Gründungsakts vom Landesjugendballett im Theatersaal gibt es denn auch zwei tänzerische Darbietungen: Auszüge aus „Far“ von Wayne McGregor und aus „Satanella“ von Marius Petipa.
„Far“ ist ein hypermodernes, anspruchsvolles, dennoch brillantes Stück Tanz; McGregor ist ein weltweit begehrter britischer Choreograf unserer Tage, der mit „Far“ ein Gleichnis auf die Selbst-, Paar- und Gruppenfindung von Menschen ersann.
Petipas „Satanella“ atmet hingegen den Esprit des russischen Balletts des 19. Jahrhunderts. Die Virtuosität, um die Höfer mit seinen Jungens tagtäglich ringt, kulminiert hier in einem erfrischend verlockenden Paartanz.
Auch wenn Teenager die Hintergründigkeit von Petipa womöglich noch nicht ganz verstehen, vermitteln sie dennoch viel von dessen erlesener Raffinesse bei unverstelltem Frohsinn.
Weiblichkeit und Eleganz, Niedlichkeit und Anmut sind auf Seiten des Mädchens, Sprungkraft und Souveränität, Grazie und Stärke auf Seiten des Jungen.
Wenn er dann nach etlichen Hebungen und Pirouetten am Schluss einer Sentenz vor ihr niederkniet und sie mit den Armen umschlingt, den Kopf selig an sie pressend, dann hat man eine Utopie von Liebe und Partnerschaft gefühlt, wie es sie so rein und schön nur in der Kunst gibt.
Am Ende ist man gerührt und so enthusiastisch begeistert, wie es wohl nur Ballett vermag.
Fazit: Das ist nicht nur für die tanzenden Ballettschüler gut. Oh nein, auch das liebende Publikum kann davon einfach nie genug bekommen.
Berlin ist zu seiner neuen Kulturbotschaft aus dem Bildungsressort nur zu beglückwünschen!
Gisela Sonnenburg