Wenn sie kommt, dann geht er „Onegin“ mit Wieslaw Dudek und Shoko Nakamura, mit Marian Walter und Krasina Pavlova in Berlin: eine Abschiedsvorstellung mit Hochkarat

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Nach einer großartigen Vorstellung: Wieslaw Dudek (Onegin) und Shoko Nakamura (Tatjana) verbeugen sich. Zum ersten und letzten Mal zusammen in diesem Stück in Berlin! Foto: Gisela Sonnenburg

Das ist der Optimalfall unter Künstlern: Privat sind sie ein braves Ehepaar mit Kind, sind zärtlich und pragmatisch aufeinander eingespielt, jeder hat zudem seinen Freiraum für sich – beruflich wie privat. Probleme spart man sich da für emotionale Notzeiten auf. Im Beruf aber können beide die Sau rauslassen, auf der Bühne stehend und dramatisch die Gliedmaßen sprechen lassend. Ein klarer Fall: Es handelt sich um eine Tänzer-Ehe – etwa um die der Primaballerina Shoko Nakamura und ihres männlichen Gegenstücks Wieslaw Dudek, die beide in der Vergangenheit beim Staatsballett Berlin tanzten und jetzt erstmals zusammen im genial-modernen Beziehungsballett „Onegin“ im Schiller Theater auftraten.

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Eben waren sie noch Tatjana und Onegin: Shoko Nakamura und Wieslaw Dudek im Berliner Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Es war eine besondere Vorstellung am 10. April 2015. Nicht nur, dass Shoko, die aus Japan kommt und  seit zwei Jahren in Budapest angestellt ist, ihr Berliner Debüt als Tatjana gab – Wieslaw nahm zugleich mit seiner Paraderolle seinen offiziellen Bühnenabschied. Das private Gleichgewicht, das die beiden verbindet, hat mit ihren Partien im „Onegin“ allerdings nichts zu tun: Die komplizierteste und wahrscheinlich auch wichtigste Liebesgeschichte, die die Ballettwelt bis dato kennt, spielt sich mit der Choreografie von John Cranko und zu von Kurt-Heinz Stolze modifizierter Musik von Peter I. Tschaikowski vor allem in tragisch-bewegten, tiefsinnig-paradoxen Gefühlsbereichen ab.

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Ihre Tatjana ist ein vom Landleben gelangweiltes, aber auf das Leben und die Liebe neugieriges Mädchen: Shoko Nakamura, Budapester Primaballerina, als Gast beim Staatsballett Berlin, das früher ihre feste Company war. Foto: Gisela Sonnenburg

Zu Beginn ist Shoko Nakamura als Tatjana ein schlichtes, aber auch ein wenig hochnäsiges junges Mädchen. Sie liest, zur Zerstreuung, weil sie das übliche Damengeplänkel ihrer Schwester Olga (Krasina Pavlova), ihrer Mutter Madame Larina (Barbara Schroeder) und ihrer alten Amme (Birgit Brux) langweilt, bäuchlings im Gras ein Buch. Ohne besondere Hingabe. Das Lesen ist dieser Tatjana nur Ersatz und Ablenkung vom alltäglichen Getändel um schöne Kleider, extravagante Frisuren oder die angesagte Wetterlage.

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Tatjanas Mutter, Madame Larina (rechts: Barbara Schroeder) und einige nette Damen vom Staatsballett Berlin beim Applaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Schon in dieser ersten Pose zeigt jede Darstellerin der Tatjana, wie sie die Rolle anlegt: Mehr oder minder philosophisch, mehr naiv oder mehr schüchtern. Shoko ist zu Beginn keine scheue, sich teenagerhaft-nervös zurückhaltende Tatjana wie Polina Semionova oder auch Alina Cojocaru. Sie ist nur unerfahren, aber bereits auch ziemlich forsch. Das ist ein großer Unterschied zu den meisten überlieferten Interpretationen, die eine jungmädchenhafte Hemmung verlangen. Aber Shokos Darstellung passt tatsächlich auch zum choreografischen Text: So viele Freiräume lässt die ausgeklügelte, von Cranko mehrfach überarbeitete Choreo, die 1967 ihren Abschluss abfand.

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Glamourös und belebt: Das Berliner Schiller Theater bei Nacht, mit dem Werbeplakat für die Vorstellung von „Onegin“ rechts an der Wand… Foto: Gisela Sonnenburg

Die Gäste kommen: zuerst der Verlobte von Tatjanas Schwester, der charmante Lenski (Marian Walter ist hier mit einer ganz neu ausgefeilten Interpretation die große Überraschung des Abends! Doch dazu später mehr). Ihn kann Tatjana fast ignorieren. Es interessiert sie nicht wirklich, was die anderen so an Konversation betreiben. Aber dann tritt der verhängnisvolle Titelheld auf, Onegin, der im schwarzen Frack bereits von Beginn an signalisiert, dass er ein düsteres Temperament hat und mit ihm im Zweifelsfall gar nicht gut Kirschen essen ist.

Wieslaw Dudek als Onegin erntet Szenenapplaus, sowie er die Bühne betritt. Das Berliner Publikum kennt und schätzt ihn, zu Recht – er ist ein Onegin, als sei das ganze Ballett genau für ihn gemacht. Oder als sei er für dieses Ballettstück gemacht!

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Wie gemacht für die Rolle des Onegin: Wieslaw Dudek tanzt den Lebemann, als habe er sich sein ganzes Tänzerleben darauf vorbereitet. EIn Glücksfall fürs Berliner Publikum, das ihm wie hier beim Schlussapplaus im April 2015 denn auch heftige Begeisterungsstürme lieferte. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist schon fast unheimlich, wie sehr der privat-persönlich bescheidene, freundlich-gelassene Wieslaw, der in Polen gebürtig ist und schon seit Jahren auch in seinem neuen Beruf als freiberuflicher Ballettmeister erfolgreich arbeitet, in die Haut des melancholisch-verdrossenen, egomanischen Lebemanns Onegin schlüpft. Man bekommt wohlige Schauer, wenn man Dudeks Onegin beobachtet: wie er mit scharfem Blick die Szenerie sondiert – und jede Gelegenheit, sich nonchalant als etwas Besonderes aufzuspielen, nutzt und auskostet. Was für ein attraktiver Narziss! Er verachtet die anderen und will doch deren Respekt.

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Wieslaw Dudek und Shoko Nakamura beim Verbeugen – war für ein Paar! Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist genau diese Mischung, die Onegin verkörpert, die Tatjana auf den ersten Anblick fasziniert. Sie, die das ländliche Leben in ihrem Elternhaus ohnehin als unzureichend und belächelnswert empfindet. Die sich insgeheim auch als zu gut dafür bewertet. Onegin kommt ihr wie gerufen – er ist für sie der Held, der den Duft der großen weiten Welt mit sich bringt. Er ist der weltmännische Großstädter, der dem kleinen Nest, in dem Tatjana dahin vegetieren muss, endlich eine Stippvisite abstattet. Aufregend.

Kein Wunder, dass sie sich nachgerade an ihn ranschmeißt. Endlich mal ein echter Kerl, endlich mal jemand, der mutmaßlich viel zu erzählen hat!

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Auch auf dem Plakat eine Leidenschaft für sich: Die Beziehung zwischen Onegin und Tatjana, hier beim Staatsballett Berlin im Berliner Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg (Plakatfoto: Enrico Nawrath)

Sie gehen spazieren, er und sie, und er belehrt sie mit besserwisserischer Miene über die Beispiele in der Romanliteratur, ganz so, als sei sie zu dumm und unverständig dafür. Wie nebenbei eröffnet er ihr aber zugleich mit Verführungsspiel und auch Herzausschüttung seinen ureigenen, individuellen Horizont. Es gibt da im „Onegin“ von Cranko so eine typische Pose der Titelfigur: die Hand an der Stirn, mit dem Handrücken dort leicht aufgelegt. Onegin zelebriert diese etwas lebensmüde, nach Weltschmerz aussehende Geste voll Eleganz im ersten Akt: in seinem großen Solo, das er allein für Tatjana tanzt. Und er wiederholt diese Positur erst wieder gegen Ende des Stücks, ganz allein für sich, kurz bevor er beschließt, doch noch um Tatjana zu werben.

Zunächst aber verfehlt die Handgeste ihre Wirkung nicht. Tatjana verfällt Onegin, sie fühlt mit ihm, wittert hinter der Fassade des hochmütigen Besserwissers den empfindsamen Liebhaber. Wird er sie erhören? Diese Spannung beherrscht den ersten und auch den zweiten Akt von „Onegin“, aber es ist nicht diese Geschichte allein, die das Ballett ausmacht.

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Das hervorragend gecoachte Ensemble vom Staatsballett Berlin: in „Onegin“ ein Augenschmaus, wie es ihn international so nicht nochmal geben dürfte. Welch harte Arbeit, aber auch welche Bereitschaft, sich mit der Choreografie zu identifizieren, mögen dahinter stehen! Lob, Lob, Lob! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Das Ensemble des Staatsballetts Berlin tanzt derweil – und gerade in dieser Aufführung im April 2015 – so herrschaftlich-hinreißend, so leidenschaftlich und musikalisch, so anmutig und versiert, dass es eigentlich ein eigenes zweites Drama illustriert. Gerade die Damen haben hier ihren disziplinierten Charme voll aufzubieten, mit großer Synchronizität, dennoch auch mit flirrender Grazie, so dass es wie eine himmlische Erbauung ist, ihnen zuzuschauen.

Denn das ist hier eine in sich schlüssige, harmonische, zudem auch von Frauen bestimmte Gesellschaft, die sich hier zeigt. Ja, es ist eine Utopie, die allerdings ganz leicht und ohne ideologischen Ballast einher kommt – und die es, so glücklich und konfliktfrei, weder im alten Russland des 19. Jahrhunderts noch in den 60er Jahren in Stuttgart gegeben hat. Es ist John Crankos Utopie. Sie ist inspiriert von den sozialistischen Ideen seiner Zeit ebenso wie von den Intellektuellen des vorrevolutionären Russlands. Ivan Turgenjev (Romancier von „Väter und Söhne“) kommt einem in den Sinn: „Man müsste das Leben so einrichten, dass jeder seiner Augenblicke bedeutsam ist.“

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Exzellent springende Damen, die utopische Ideen vermitteln. In der April-Vorstellung noch stärker als hier auf dem Bild. Beim Staatsballett Berlin, in „Onegin“. Foto: Enrico Nawrath

Cranko träumte mit der Kraft des Visionärs von einer sozial gerechten, für jeden auf eine andere, individuelle Weise beglückenden, darum fast paradiesischen Welteinheit. Auch alte Menschen stehen hier mit auf der Bühne, sind als Opa und Altamme putzig, komisch, manchmal auch hilfreich, wenn es um das Knüpfen der Liebesbande unter den jungen Leuten geht.

Und das ist das große Thema im „Onegin“: Wie sollen wir lieben, wen sollen wir lieben, wann sollen wir lieben?

Ist es denn wirklich immer sinnvoll, schon als blutjunger Mensch sein Leben und seine Emotionalität bürgerlich zu verplanen? Es gibt im „Onegin“ zwei Ensemblepärchen, die zeigen, dass es auch schwierig sein kann miteinander. Mal muss der Junge, mal das Mädchen kleine oder auch größere Einschränkungen hinnehmen, damit die Zweisamkeit gewährleistet wird. Cranko zeigt das in lustigen, Slapstick-ähnlichen Einlagen.

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Olga und Lenski, das Gegenpaar zu Tatjana und Onegin in Crankos „Onegin“: Krasina Pavlova (kniend) und Marian Walter (mit Blumen) beim Schlussapplaus. In der Vorstellung im April 2015 boten sie faszinierende Neuinterpretationen, stimmig und überwältigend emotional in Tanz und Ausdruck. Bravoooo! Foto: Gisela Sonnenburg

Und dann sind da noch Olga und Lenski! Marian Walter, der diese Rolle nicht zum ersten Mal tanzt und sie früher stets solide interpretierte, hat offensichtlich noch mal hart daran gearbeitet. Und ein Meisterwerk geleistet! Sein Lenski ist weder bewusst-todessüchtig noch unbewusst-oberflächlich – und das sind die Pole und Extreme dieser Rolle, die sie doch so leicht verflachen lassen. Nein, Walter hat einen neuen Ansatz gefunden: Sein Lenski ist schlicht so hoffnungsfroh, dass er sich aus Lebenslust, ja Lebensgier zu Eifersucht und überschäumenden Affekten hinreißen lässt.

Es ist überraschend. In gefühlten zweihundert „Onegin“-Vorstellungen, die ich gesehen habe, war so eine Lenski-Interpretation nicht vorhanden. Aber: Sie funktioniert! Crankos bestes Stück hat dafür Raum, ja, wenn man Marian Walter so sieht, mein man, diese Darstellungsweise sei sogar die beste und einzig mögliche. Mit Elan zeigt er die hohen Sprünge, die sauberen Cabriolen und die fliegenden Spagatsprünge, und mit sinnlichem Spaß umfasst er seine Verlobte – Krasina Pavlova spielt das mit kokett-verliebter, ebenso auch lebensgieriger Mimik mit. Die zwei haben da etwas ausbaldowert, das meiner Kenntnisse nach bislang einzigartig und dennoch in seiner Überzeugungskraft grandios ist!

EIN FASZINIEREND NEU INTERPETIERTER LIEBHABER

Da ist keine Spur mehr von wehmütiger Seichtheit – die mitunter lyrisch überdrehten Lenski-Interpretationen, die man kennt und sonst auch liebt, sind hier nicht mehr nötig. So viele großartige Startänzer haben diesen Lenski mit poetisch-depressiver Miene zu Tode getanzt. Aber jetzt kommt Marian Walter als Ausbund an Lebensfreude und Vitalität – und zeigt, dass der Lenski sehr wohl ein echter Kerl und kein dummes Bürschchen ist. Es ist zum Staunen und zum Hingerissensein!

Später zeigt sich das auch im großen Solo Lenskis unmittelbar vor seinem Duelltod. Andere tanzen hier die schon eingetretene Nähe zum Tod, das Ahnen des baldigen Dahingehens… und auch das softe Sichergeben in ein unvermeidliches Schicksal.

Anders Marian Walter, der in Berlin ausgebildete junge Thüringer, in dieser historischen Vorstellung vom 10. April 2015. Er stürzt sich da in ein Aufbegehren, er tanzt, tanzt, tanzt – tanzt geradezu kämpferisch seine Lebenslust! Denn er hängt am Diesseits, dieser Lenski, er liebt doch das Leben und die Liebe, und er bereut sogar seine Torheit, Onegin zum Duell gefordert zu haben. Mit allen Sinnen und aller Ballettpower fleht er in diesem – seinem letzten – Solo um sein Weiterleben. Es eine Art Gebet und Selbstgespräch, er weint nicht, sondern er heischt Vergebung, er ringt um sein Leben und um seine Kraft, und er ist keineswegs bereit aufzugeben!

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Absolut verdienter Applaus: Krasina Pavlova als Olga und Marian Walter als Lenski, die man wirklich in diesen atemberaubenden Neuinterpretationen in „Onegin“ gesehen haben muss. Das Berliner Publikum dieses Abends ist beneidenswert! Foto: Gisela Sonnenburg

Man versteht Lenski hier ganz neu. Marian Walters Lenski will das Duell gewinnen, er ist nicht der geborene Verlierer, der sich willig abschlachten lässt; er hat dann nur großes Pech, dass er beim ersten Schuss fällt. All die anderen, jenseitig ausgerichteten Lenskis mit ihrer Todeswut und ihren suizidalen Neigungen sind also ganz und gar nicht zwangsläufig! Später danach von mir befragt, sagt Marian Walter, dass sich seine Interpretation fast instinktiv, aus dem unmittelbaren „Spaß am Tanzen und am Spielen“ entwickelt habe: „Das hat mich dann auf der Bühne frei gemacht.“

Es ist großartig, das Ergebnis anzusehen. Man fragt sich unwillkürlich, warum Männer sich in jedweder Hinsicht so oft tödlich duellieren, gegeneinander Krieg führen und diese Situationen immer wieder herbeiführen. Denn Lenski wird zum Sinnbild für das Opfer männlicher Dualität und Rivalität. So trägt Marian Walter diese berühmte Cranko-Choreografie weit über die isolierte Solosituation des Lenski hinaus! Mit erregend-schönen, die Welt erfassenden und ganz und gar nicht verlassen wollenden, vielmehr kraftvoll ausgestreckten Arabesken. Und mit seinen neuerdings, dank des Trainings durch den Ersten Ballettmeisters Gentian Doda, erstarkten und elegisch-gewichtig aufgeladenen Ports de bras. Marian Walter! Wow! Es ist ein wirklich großes Verdienst von ihm, so existenziell die brisanteren Nuancen der Rolle des Lenski zu zeigen.

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Onegin und seine MittänzerInnen: Die Gesamtleistung des Abends war phänomenal! Foto: Gisela Sonnenburg

Anders als die anderen, traditionell etwas „weicheierigen“ Lenskis, lauerte dieser junge Mann beim Fest im Haus von Madame Larina ganz und gar nicht auf eine Gelegenheit, sich tödlich zu verabreden. Sondern er reagierte beim Streit mit Onegin rein affektiv, rein situativ bezogen. Und gerade weil Lenski das Leben so genoss und liebte, traf es ihn so unvorbereitet, als seine Verlobte plötzlich hemmungslos mit Onegin anbändelte. Was von Onegin ausging: Erst zeigte er ihr die Karten, die er sich schon selbst gelegt hatte – und dann riss er sie aus dem Stehen heraus ungeniert mit, die Lebenshungrige, tanzte einfach los mit ihr, walzerte sie schamlos durch den ganzen Saal, geradezu mutwillig erotisch sah das aus, und Lenskis Olga machte all das auch noch lachend und vor Sexiness nur so strotzend einfach mit!

Krasina Pavlova, die in Stuttgart ausgebildete, feurige und vielseitige Bulgarin, ist hier als Olga, ebenso wie Marian Walter als Lenski, mit einer entsprechenden Neuinterpretation auf den Plan getreten: als ein Ausbund an fast dekadenter Lebensfreude, an arglos-unbedachter, sehr heutig-hedonistischer Emotionalität. – Ha! Wo gibt es noch etwas zu genießen? Her damit! Juchei! – Das ist hier ihre Lebenseinstellung, und diese modern schillernde Seite an Olga, die die Chorografie sehr wohl unterstützt, kommt sonst in vielen Darstellungen des jungen Mädchens schlicht zu kurz. Ein großer Dank gebührt also auch Krasina Pavlova, zumal sie mit ihrer Darstellung zusammen mit dem fabelhaften Marian Walter ein umwerfend glaubhaftes Bühnenpaar abgab. Toll.

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Noch ist auf dem Fest zu Ehren von Tatjana alles in Ordnung: Onegin (links), Olga, Lenski, Tatjana (in anderer Besetzung als im April 2015) beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Ach, und dann Wieslaw Dudek als Onegin! Dieser Schwerenöter! Wer seufzt da nicht, wenn man an ihn auch nur denkt… Er will auf dieser Party zu Ehren von Tatajanas Geburtstag (im Original ist es ihr Namenstag) die junge Naive, die ihn mit ihren unbedachten Liebeserklärungen bis aufs Blut gereizt hat, demütigen und kränken. Er will sie klein kriegen, diese auf ihre verknallten Gefühle auch noch eingebildete Provinztussi. Er will ihr, der unerfahrenen Landpomeranze, mal so richtig vorführen, was für ein supersouveräner Macho er ist, ha, und was für ein überlegener Windhund – er will ihr, schon aus purer Eitelkeit, alle Hoffnungen auf eine Paarwerdung mit ihm nehmen und sich ihr zugleich auch noch als für sie unerreichbarer Leckermann und Frauenkenner präsentieren.

Arme Tatjana! Bei Alexander Puschkin, der die literarische Vorlage, den Versroman „Eugen Onegin“, schrieb, sagt Onegin zu Tatjana frank und frei heraus, er wolle niemals heiraten. Und weil sie ja so ein anständiges Mädchen sei, komme sie für ihn nicht in Frage. Das müsse sie doch einsehen. Oder ist sie etwa eine Kokotte? Natürlich provoziert und verwirrt sie das, und Tatjana ist wohl kurz davor, sich Onegin aus lauter Verliebtheit auch noch anzubieten wie eine Dirne.

Auf dem Fest, vor all den Leuten, geht das aber ganz und gar nicht gut. So hatte Tatjana Onegin nach einer wild von ihm durchträumten Nacht einen Liebesbrief zutragen lassen, den er ihr, hundsgemein und sehr verletzend, nicht nur zurückgab, sondern sogar in ihre Hände hinein zerriss.

Das Publikum ist zu dieser Stunde schon längst auf der Seite von Tatjana. Shoko Nakamura kann fest darauf vertrauen, die Herzen der Zuschauer zu bewegen, wenn sie sich trotz dieser Demütigung nochmals an Onegin herantraut. In einem wunderfeinen Solo versucht sie, seine Liebe zu erregen – mit sorgsam ausgefeilten, von Shoko ganz besonders redlich vorgetragenen Schritten aus Liebe. Sie zeigt hier ihre Seele, will mit ihren weiblichen Tugenden locken!

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Gefühle in Großaufnahme: Passend zur Vorstellung „Onegin“ das Plakat draußen am Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

Da posiert sie, süß und erfrischend wie der Frühling in Person! Da zeigt sie ihre hellen Seiten. Sie pirouettiert, will virtuos sein, auch selbständig, will erwachsen wirken, will zeigen, dass sie dem gestandenen Mannsbild Onegin auf ihre Art gewachsen ist. Sogar ein tadelloses, graziös hingepfeffertes Grand jeté unternimmt sie. Und während andere Tänzerinnen dieses direkt auf Onegin zu springen, leistet sich Shoko die extravagante Variante, mehr Platz dabei in Anspruch zu nehmen: Sie springt das Grand jeté weit zur Seite – und landet darum direkt hinter Onegin.

Ach! Wie ihn das bitterböse aufregt! Was ist diese Tatjana nur für ein hinterlistiges Biest! Da hat sie ihn schon mit ihrem dümmlich-kompromittierenden Brief so stark verärgert. Und jetzt auch noch das: Eine Anmache vor all den Gästen, vor ihrer Mutter Larina, die sie sowieso gern mit Onegin verkuppeln würde, und auch vor all den Bekannten und Freunden, die wohl insgeheim schon Wetten abschließen, wann er, der ewige Playboy, sich endlich an die Kette der Ehe schmieden lassen wird.

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Ballettmeisterin Barbara Schroeder, hoch begabt beim Damen-Stagen, steht auch selbst auf der Bühne: als fürsorgliche Madame Larina in John Crankos „Onegin“ im Berliner Schiller Theater. Die entzückenden Kostüme dieser Inszenierung stammen übrigens von Elizabeth Dalton. Foto: Gisela Sonnenburg

Wie peinlich ist das denn, denkt sich Onegin und springt auf, wütend, erregt, stinksauer – und er schimpft, er wirft Tatjana Blicke zu, die sie fast töten könnten.

Das ist der Anfang vom Ende aller Hoffnungen auf ein Glücklichwerden mit diesem Mann. Aber Tatjana will es nicht so sehen. Sie liebt ihn so sehr!

Als es wegen Olga zum Streit der beiden Freunde Lenski und Onegin kommt, ist Tatjana schon längst auf dem Holzweg, was Onegin angeht – und vorerst nicht mehr davon abzubringen. Ohne das entsetzliche Duell im Morgengrauen – zwischen Onegin und Lenski, das Tatjanas Fastschwager Lenski umbringt und Onegin dadurch auf Jahre von Tatjanas Familie entfremdet – wäre diese junge Frau im 19. Jahrhundert womöglich überhaupt niemals in der Lage, sich einen anderen als Ehemann zu suchen.

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Martin Szymanski, im wahren Leben übrigens der Gatte von Barbara Schroeder, tanzt in „Onegin“ den Fürsten Gremin: ein solider Ehemann, auf den Verlass ist. Auch hier beim Schlussapplaus im Schiller Theater. Foto: Gisela Sonnenburg

So aber ist sie dazu gezwungen, wenn sie nicht als „alte Jungfer“, als unliebsames Anhängsel des mütterlichen Haushalts, enden will. Sie hat keinen Beruf und keine Berufung – außer der Liebe zu Onegin, die nach dem Duell keinerlei Perspektive mehr hat. Tatjana lässt sich also willig von Gremin heiraten, einem solide-anständigen Fürsten, einem guten Freund der Familie, der sie ehrt und respektiert und niemals so teuflische Spielchen mit ihr spielen würde, wie Onegin es tat. Fürst Gremin – einfühlsam getanzt von Martin Szymanski – ist Tatjanas Rettung, in sozialer wie in sexueller Hinsicht. Und als sie mit ihm den berühmten „Roten Pas de deux“ tanzt, erkennt der davon berührte Onegin, dass ihre Liebesfähigkeit kein Witz ist. Sondern eine existenziell schöne, lebensspendende, energetische Angelegenheit. Die ehrbare Liebe einer Frau ist nun mal etwas anderes als das bloße Gefallen, das einem irgendein Flittchen schenken kann.

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Fürst Gremin tanzt mit Tatjana den „Roten Pas de deux“ – Sinnbild einer funktionierenden Zweierbeziehung. Zärtlich. Reich an Schutz und Sicherheit. Und Onegin wird eifersüchtig auf dieses Glück! Hier in anderer Besetzung als im April beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Onegin bereut. Nicht etwa, dass er seinen Freund Lenski totschoss. Das war eine Männersache, und den Zusammenhang seiner eigenen verschiedenen Triebe – Sexualität und Gewalttätigkeit – wird er wohl niemals zugeben wollen. Nicht mal vor sich selbst. Sonst hätte er vielleicht bessere Karten bei Tatjana, zu der er jetzt, viele Jahre zu spät, in heißer Liebe entflammt.

Ist es nicht verrückt mit den Hormonen? Es kommt sicher jedem bekannt vor, dass man ausgerechnet dann, wenn es so gar nicht passt, nicht nur sexuelle Lust empfindet, sondern jemanden wirklich haben will. Aber ach und oje! Da ergeht es dem vermeintlich abgeklärten, welterfahrenen Verführer und Anti-Helden Onegin nicht anders als damals der jungen, naiven Tatjana…

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Leidenschaft. Kommt sie nicht immer irgendwie unpassend? Hier im „Onegin“ im Schluss-Pas-de-deux zwischen der Titelfigur und Tatjana. In anderer Besetzung als im April beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Wieslaw Dudek spielt und tanzt diese Passage köstlich vielfarbig. Da ist dieses Hin-und-hergerissen-Sein in Onegin: Einerseits weiß er ja, dass der diese damalige Pomeranze Tatjana, die ihm regelrecht hinterher lief, rigoros abgelehnt hat. Und er weiß weiterhin, dass sie jetzt nicht mehr frei ist, sondern dem Fürsten, einem alten Freund von Onegin, gehört.

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Zu spät: Als Tatjana (Shoko Nakamura) endlich Onegin bezaubern kann, da tut sie es durch ihre Liebe zu einem anderen… verrückte Liebeswelt… Foto. Gisela Sonnenburg

Aber was ist alles Wissen gegen die Macht der Gefühle? Eben. Onegin entschließt sich, angestachelt von erwachender Eifersucht – ein tödliches Gefühl – Tatjana zu verführen.

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Tatjana gehört jetzt einem anderen… Der „Rote Pas de deux“ aus „Onegin“ in anderer Besetzung als im April beim Staatsballett Berlin. Foto: Enrico Nawrath

Doch jetzt hat er Pech damit. Zwar versetzt er sie in helle Aufregung, als er ihr einen Brief schickt, in dem er seine Visite ankündigt. Aber sie läuft nicht davon, sie duldet, dass er kommt. Und er ringt mit sich – soll er eintreten oder nicht? Soll er sich die Blöße geben? Soll er ein Entdecktwerden und somit ein zweites Duell riskieren? Er tut es. Mit der Angst, von Tatjana abgewiesen und verraten zu werden, diese steht ihm im Gesicht. Es ist so spannend: Dudeks Onegin ist kein siegessicherer Macho mehr, als er Tatjanas Salon betritt, um sie allein zu treffen. Er ist ein von seiner eigenen Lust getriebener Unglückseliger, jemand, der hier eine Art von Erlösung sucht, obwohl er ahnt, dass er sie niemals finden wird.

Und sie? Die jetzige Fürstin? Sie versteckt sich zunächst hinter der Etikette, wähnt sich dort in Sicherheit. Stocksteif stellt sie sich. Wo Polina Semionova bereits alle Facetten des Für-und-Wider austanzt und ihre, also Tatjanas Emotionen sich langsam hochschaukeln lässt (ein unvergessliches, wunderschönes Spektakel!), wählt Shoko Nakamura die schlichte, dennoch auch wirksame Variante.

Erst als Onegin sie von hinten auf die Schulter, an den Hals küsst – so wie damals, vor Jahren, in ihrem lüsternen Jungmädchentraum – wird Shokos Tatjana langsam weich wie Wachs in seinen Händen. Er bemerkt das und greift ihr weiter unter die Arme, ganz wörtlich, und dann spießt er sie mit seinen gestreckten Armen nah ihren Achselhöhlen auf, nachdem er sie weit empor warf – jetzt ist er es, der er ihr etwas beweisen will. Nämlich dass er, der früher Unberechenbare, sehr wohl ein zuverlässiger Partner sein kann. Jemand, der sie beglücken, auffangen und halten kann!

Tatjana will das indes nicht glauben, sie wehrt sich dagegen, flüchtet in Développés und Tendus. So einfach kann sie es ihm nicht machen.

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Kurz nach Vorstellungsende: Wieslaw Dudek und seine Gattin Shoko Nakamura sind ja gar nicht wie wilde Tiger! Sondern hervorragende Künstler und liebende Eheleute! Foto. Gisela Sonnenburg

Aber er gibt nicht auf, fräst sich hartnäckig immer wieder ganz nah an sie heran. Es ist ein Spiel wie unter Raubkatzen.

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Das waren ein Bühnenabschied und ein Berliner Debüt: Wieslaw Dudek und Shoko Nakamura nach „Onegin“ am 10. April 2015. Foto: Gisela Sonnenburg

Als sie ihn wegschickt, unter Qualen, sind sie beide zugleich hoch erregt und dennoch wie am Boden zerstört. Er wankt von dannen wie ein weidwund gebissener Tiger. Shoko Nakamura als Tatjana überlegt nicht lange – anders als die in dieser Partie übermächtig großartige Polina Semionova – ob sie ihrem Onegin doch noch nachläuft. Shokos Tatjana ist, als die etwas simplere Ausgabe dieser Rolle, nur unendlich traurig über ihre eigene Entscheidung. Bis ein fast trotziger Stolz sie erfasst – immerhin hat sie ja ihr Leben und ihre Ehre gerettet. Vorerst.

In Onegin verschmelzen Leidenschaft und unwegbares Timing.

Großartige Leistungen: Shoko Nakamura und Wieslaw Dudek nach ihrer ersten und letzten gemeinsamen „Onegin“-Vorstellung… rührend! Foto: Gisela Sonnenburg

Bis zum letzten Ringen Tatjanas mit sich selbst braust dazu die schwelgerische Musik der fantastisch beprobten Staatskapelle Berlin unter Paul Connelly.

Für alle: Applaus! Ein wahrhaft großer Abend.
Gisela Sonnenburg

Für weitere Texte über „Onegin“ geben Sie in die „SUCHE“-Schlagwortsuche „SEARCH“ hier im Ballett-Journal (auf der Home-Seite in der Spalte rechts oben) bitte den Titel des Stücks ein: Onegin. Danach bitte viel scrollen!

Die nächsten „Onegin“-Vorstellungen in Berlin in der kommenden Spielzeit, ab 8. Oktober 2015!

www.staatsballett-berlin.de

 

 

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