Mehr als ein Überraschungsei Die Gala zum Bühnenabschied von Nicolas Le Riche aus Paris: ein Highlight des Jahrzehnts – arte sendet es zum Jahresausklang

Nicholas Le Riche

Nicolas Le Riche tanzt auf seiner eigenen Gala. Foto: arte / freie Bearbeitung: Gisela Sonnenburg

Was für ein feuriger Generationenwechsel steckt hinter diesem Programm, von dem man zunächst denkt, es sei womöglich so unberechenbar wie ein Überraschungsei: Mit Glanz und Glamour, mit Charme und Contenance wartet Paris hier auf die fernsehsehende Ballettgesellschaft. Voll Herz, voll Demut, voll Wissen um die Geheimnisse der Tanzkunst… So etwas passiert nur, wenn Alt und Jung zusammen gehen, auch im Ballett.

Die wenigsten Ballerinen und Ballerinos bekommen allerdings auch nur annähernd die Möglichkeit zu so einem exquisiten Event zum Abschied ihrer aktiven Tänzerkarriere. Meistens müssen ganz normale Repertoire-Vorstellungen genügen, um den Bühnenabschied eines Tanzstars zu zelebrieren, und auch das kann sehr festlich sein.

Die Pariser Oper gönnte Nicolas Le Riche am 9. Juli 2014 jedoch ein filmreifes und tatsächlich auch Film gewordenes Ade. Dank dem internationalen Kultursender arte und dem in Tanzangelegenheiten ebenfalls bereits bewährten Ballettregisseur François Roussillon ist somit ein Höhepunkt ballettöser Leistungen dokumentiert.

Le Riche, dem Titel nach Étoile, also Stern (Star) des Balletts der Pariser Oper, ging nicht freiwillig. Er musste, den Statuten des Pariser Opernballetts gemäß, mit 42 Jahren sein Engagement dort beenden. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es nicht Zeit wird, solch starre zeitliche Grenzen, wie sie auch an vielen anderen Häusern, auch in Deutschland, der Fall sind, aufzuweichen und je nach Einzelfall individuell zu entscheiden. Zumal Le Riche überraschend ungeliftet und „natürlich“ und dennoch höchst bühnenwirksam ist. Gerade seine Reife macht ihn zum unverwechselbaren Typ. Was für ein interessanter Mann in einer Branche, die sonst an Eitelkeit und Mainstream-Schönheitsidealen doch mitunter zu ersticken droht! Man kann ihn sich wirklich noch einige Jahre als Ballettstar vorstellen.

Le Riche dans le ballet

Le Riche wirkt natürlich und dennoch erfahren. Ein Traumtänzer! Foto: arte / freie Bearbeitung: Gisela Sonnenburg

Andererseits ist so ein Abschied auf der Höhe des Könnens ein ganz besonders furioser Abgang. Die „Ballettgala aus der Pariser Oper für Nicolas Le Riche“ stellt das unter Beweis: Sie feiert ihren Star und lässt ihn tanzen, tanzen, tanzen – mit dem eleganten Gestus des gereiften Bühnenkünstlers, der auch mit 42 Jahren noch den Körper eines Tanzgottes und die tänzerische Mimik eines Erleuchteten hat.

Zu Ehren Le Riches bemühen sich denn auch alle um Bestleistungen. Stars und Corps der Oper, aber auch Eleven der Ballettschule zeigen gemeinsam, warum Tanzen so wichtig und so gut ist. Vom sensiblen, vom Tänzer selbst choreografierten Geschmeidigkeitssolo in Jeans (zu einem E-Gitarren-Chanson, live auf der Bühne: der Rockstar Matthieu Chedid) bis hin zum fast klassischen Jungmannballett „Le Bal des Cadets“.

Genau so sollte der Abschied eines großen Tänzers von der Bühne sein! Im Ausdruck sowohl jung und ungebändigt als auch weise und erfahren.

Arte sendet dieses Highlight, das in den zehn Jahren zuvor nicht übertroffen wurde, passenderweise in der Jahresendzeit. Dann hat man Zeit und Muße – oder sollte sie zumindest haben – über Werden und Vergehen nachzudenken. Hierbei hilft dieses Ballettgala-Programm: Es sind über eineinhalb Stunden wahrhafte Liebe zum Tanz, die zu sehen sind, tanzgewordene Momente höchster Kunst. Und doch schwebt über allem das Motto: Es ist zum letzten Mal! Die Melancholie, die sich daraus ergibt, verliert sich auch in der Aufzeichnung mitnichten. Dabei triumphiert hier das moderne Ballett: Roland Petit, Maurice Béjart, Mats Ek sind die bedeutendsten Choreografen des Abends.

GROSSARTIG AUCH MIT KÜMMERNISSEN UND SELBSTZWEIFELN

Besonders ergreifend: „Le jeune homme et la mort“, diese Geschichte des jungen verzweifelten Künstlers, der in seiner Dachstube in Paris rauchend auf dem Bett liegt, Besuch von einer schönen, aber bösen Frau bekommt und sich dann umbringt. Ein wirklich junger Tänzer kann das jedoch meist nicht so stark darstellen wie eben ein Nicolas Le Riche im Jahr 2014.

Wie Le Riche hier die Kümmernisse und die Selbstzweifel, die Depression und auch die Erotik der Todessehnsucht tanzt, ist sehr bewegend. Zwischendurch flackert immer wieder sein Lebenswille auf, in hellen, lichternen Bewegungen und Blicken. Aber diese Frau im gelben Kleid, ein Vamp mit schwarzem Pagenkopf, ist stärker als er. Immer wieder lockt und umgarnt sie ihn, geleitet ihn auf einen Stuhl, holt die Galgenschlinge aus dem Schnürboden. Sie präsentiert ihm das Sterben als vermeintlich erlösendes Ende seiner Qualen.

Im Hintergrund zeigt der Prospekt die Dächer von Paris, auch den Eiffelturm. Als der Mann sich erhängt hat – erst hing er zappelnd, dann totenstill am Seil – sorgt die Frau, die der personifizierte Tod ist, für eine Art Wiederauferstehung. Sie trägt jetzt eine Totenmaske, nimmt diese ab, setzt sie ihm auf. Er geht mit ihr hinaus Richtung Eiffelturm, und er wird sich selbst ein Opfer suchen, das er in den Tod locken kann.

Die philosophische Idee dieses berühmten Balletts von Roland Petit zu trompetenreicher, pathetisch-barocker Musik von Bach berückt, und zwar auch und gerade in Le Riches intensiver Interpretation: Jeder Verstorbene wird selbst zum Tod und wird einen anderen ins Totenreich holen. Was für ein Lehrstück durch die Kunst. Le Riche wirkt hierin so glaubwürdig, dass man fast gefährlicherweise geneigt ist, mit ihm zu gehen, in Gedanken…

Überwältigend sind entsprechend die Ovationen! Und schon um dieses begeisterte Publikum zu erleben, lohnt die Show. Das ist keine Allerweltsclaque. Sondern man spürt die ehrliche, ungehemmte, zwanglose Begeisterung der Menschen. Das ist, was Ballett eben auch vermag: Die Zuschauer in einen Zustand der Euphorie zu versetzen, die weder benebelt noch verblödet, sondern zugleich den Geist erhellt. Ballet at it’s best!

Das „Appartement“ von Mats Ek ist dagegen eine rührend einfache, aber auch heutig-lustige Beziehungsfummelei. In der Glanzrolle des bezopften Mädchens: Sylvie Guillem. Sie kommt an eine weiß leuchtende Tür, traut sich nicht gleich, anzuklopfen, aber da schwirrt auch schon der begehrte schöne Mann hervor.

Nicolas und Sylvie tanzen einen beschwingten, von Anziehung und Abstoßung getriebenen Pas de deux. In der Ecke steht ein Gasherd, zwischendurch schiebt Nicolas seinen Kopf hinein. Mit Tatkraft holt Sylvie ihn da heraus, verschließt die Ofentür mit einem neckischen Fußtritt. Es ist köstlich! So jammerig und wehleidig sind die Männer von heute oftmals, und so tatkräftig und dominant müssen dann die Mädchen sein. Schließlich verschwindet er wieder hinter seiner Zimmertür, sie klopft an – und er streckt ein Bein seitlich raus, an dem sie sich wie an einer Türklinke festhalten und auch solchermaßen eintreten darf. Ballett als Komödie – das funktioniert eben auch.

Getoppt wird diese niedliche Reminiszenz nur noch von dem absoluten, modernen Klassiker für Solisten: Nicolas Le Riche tanzt den „Boléro“ von Maurice Béjart, zur eindringlichen Musik von Maurice Ravel (am Dirigentenpult: der sorgsam aufs Tempo achtende Kevin Rhodes). Ursprünglich für eine Tänzerin choreografiert, hat das Stück längst seinen Siegeszug durch die Nobelklasse der Tänzerinnen und Tänzer angetreten. Siehe auch: www.ballett-journal.de/die-totale-erotisierung/

Le Riche danse

Nicolas Le Riche tanzt mit modernem Gestus, dennoch in klassischer Manier. Foto: arte / freie Bearbeitung: Gisela Sonnenburg

Zu Beginn ist nur die rechte Hand des Tänzers angeleuchtet, dann auch das Gesicht, dann beide Hände, schließlich die ganze Figur, die im hin- und herwiegenden Zöpfchenschritt auf der Stelle groovt. Technisch tanzt Le Riche das Stück so sauber und akkurat, als sei es von Petipa ersonnen. Aber die Funken sprühen dabei, als handle es sich um einen Flamenco!

Der Applaus, als schließlich alle auf der Bühne stehen – in der Mitte vorn Nicolas Le Riche – tost. Es ist ein Begeisterungsbrüllen, schier ohne Ende, das nicht nur die Künstler, sondern zurecht auch sich selbst befeiert, also die unverstellte Zuneigung des Publikums zu seinen Lieblingen. Dazu passt es, dass Sylvie Guillem im gelben Hippiehemd und mit Turnschuhen in die erste Reihe der sich Verbeugenden tritt. So lässig darf heute das sein, was vor zwanzig Jahren noch mit verklemmtem Knicks und viel zu viel Haarspray einher kam. Vive la France, was das Ballett angeht!
Gisela Sonnenburg

Arte, 29.12.14, 21.50 Uhr bis 23.25 Uhr – danach eine Woche lang auf arte tv (arte+7 Mediathek)

UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/

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