Die totale Erotisierung Polina Semionova mit Maurice Béjarts „Boléro“ in Berlin – eine Erschütterung

Der “Boléro” von Maurice Béjart trägt alle Kennzeichen eines genialen Werks: einfach, aber kompliziert ist hier das Geschlechterverhältnis. Foto: Ilia Chkolnik

Der “Boléro” von Maurice Béjart trägt alle Kennzeichen eines genialen Werks: einfach, aber kompliziert ist hier das Geschlechterverhältnis. Foto: Ilia Chkolnik

Spagat. Ein wirbelnder Tanz. Ein letztes Aufbäumen – und die Männer stürzen sich scheinbar auf die Solistin, begraben sie unter sich. So endet Maurice Béjarts choreographische Version eines der berühmtesten Ballette der Geschichte: Der „Boléro“, komponiert für Ida Rubinstein, die ihn in der Choreographie von Bronislava Nijinska 1928 in Paris auch uraufführte. Nijinska, die Schwester des Tanzidols Waslaw Nijinsky, trug später übrigens oft Handschuhe bei den Proben, weil es ihr unangenehm war, die schwitzenden Tänzerleiber anzufassen. Ballett ohne Schweiß ist indes undenkbar! Und wie der israelische Tanzmacher Ohad Naharin sagt: „Wenn wir täglich trainieren, lernen wir, den Schweiß zu lieben!“

In Berlin wird das Publikum den Schweiß beider Geschlechter lieben und nicht mehr vergessen wollen: den von Startänzerin Polina Semionova und den einer Heerschar junger schöner Männer, die sich aus dem Staatsballett Berlin und dem Béjart Ballet Lausanne zusammensetzen. Polina wird die Kerle wuppen, niemand zweifelt daran! Semionova kehrt mit dieser Arbeit für einen Abend nach Berlin zurück. Zwar auf keine Opernbühne, aber ins Tempodrom, das für Béjarts Anspruch der Popularität an Ballett wie geschaffen ist.

POLINA SEMIONOVA IN EINER GLANZROLLE

Das weibliche Element – Polinas Oberkörper – illustriert die sanfte Melodie, die sich stets wiederholt. Jeder, der sie einmal gehört hat, kann sie aus dem Gedächtnis vorsingen, oder? Dazu kommt eine trommelnde Rhythmik, die in der Version von Béjart optisch von den Männern und auch von Polinas Beinen dargestellt wird. Die jungen Herren, die das weibliche Opfer hier mit stark ritualisierten, auch stilisierten, vor allem aber stampfenden Schritten und kämpferisch erhobenen Händen umzingeln – pikanterweise ist Polinas Ehemann Mehmet Yümak dabei – stellen gemeinsam den phallischen Part des Tanzstücks dar. Sie bilden einen einzigen, orgiastisch an der Frau interessierten Corps. Diese Aufteilung – eine Horde Männer ist scharf auf eine Frau – ist eine typische Idee des Zeitalters der sexuellen Revolution, dem Béjarts Arbeit ja auch entstammt. Die begehrte, zunächst durchaus dominant auftretende Frau steht und tanzt hier auf einem roten runden Tisch, prädestiniert wie eine Priesterin oder auch ein Opfer. Die Männer sitzen zu Beginn auf Stühlen im Hintergrund, treten dann langsam vor, umzingeln tanzend und ausflippend die erhabene Schönheit. 40 Jungs sind es in Berlin: 20 davon kommen aus dem von Gil Roman geleiteten Béjart Ballet Lausanne, die 20 anderen vom Berliner Staatsballett. Nacho Duato, der neue Berliner Ballettintendant, lobt ausdrücklich die Koooperatationsfähigkeit der Berliner Tänzer, für die das Sicheinschmiegen in den Stil einer anderen Truppe sicher nicht nur einfach ist.

Bei einem Pressetermin erzählten Polina und Nacho, wie sie sich kennen lernten, vor Jahren in Kalifornien während der Arbeit. Polina hatte schon damals den Wunsch, für ihn zu tanzen; es handelt sich um eine Arbeitsliebe der beiden. Darum wird die ungekrönte Königin der Berliner Ballerinenszene nach ihrem Krach mit dem damaligen Ballettchef Vladimir Malakhov (zugleich ihrem Entdecker und Förderer) in dieser Saison elf Vorstellungen mit dem Staatsballett Berlin tanzen, von „Giselle“ über „Schwanensee“ bis zu Duaotos moderner Premiere im März 2015.

Polina Semionova erzählt in Berlin von ihrer Arbeit am “Boléro”. Foto: G. Sonnenburg

Polina Semionova erzählt in Berlin von ihrer Arbeit am “Boléro”. Foto: G. Sonnenburg

„Polina“, werden die Fans dann wieder beim Applaus durchs Parkett brüllen, niemand vermag so wie sie das heterogene Berliner Ballettpublikum, das aus Russen und Bonnern und Touristen und auch aus Berlinern besteht, in Begeisterung zu einen. Sie ist zugleich der Joker, den Nacho Duato in seiner ersten Amtszeit aus dem Ärmel zieht; Leonid Sarafanov, der als Prinz Désiré in Duatos Version von „Dornröschen“ gastieren wird, ist dann ein weiterer. In Sankt Petersburg haben Duato und Semionova bereits eine moderne Fassung von „Romeo und Julia“ gemeistert, mit großem Erfolg – jetzt wird sie Duato helfen, die Berliner Compagnie stilistisch auch auf den zeitgenössischen Stil des Choreographen Duato einzuschwören.

Da trifft es sich gut, dass sie – übrigens diesjährig mit dem angesehenen Moskauer Preis Benois de la Danse ausgezeichnet – nicht mehr fester Teil der Berliner Truppe ist, sondern in New York beim American Ballet Theatre sowie als gefragter Gaststar überall auf der Welt reichlich Erfahrung sammelt. Diesen Schatz bringt sie nach Berlin mit, und es mag immer ein Hauch von großer weiter Welt dabei sein – solange sie nicht dem „Zirkuspferdchen“-Syndrom verfällt, um dann nur noch ans Vordrängeln im Scheinwerferlicht zu denken. Dieses Schicksal hat sie indes bisher nicht ereilt, obwohl sie bereits seit Jahren dem ballettösen Tingeltangel frönt. Man darf diesbezüglich also zuversichtlich sein.

Die Hürden bei Polina liegen ganz woanders. Sie hat starke Tagesformschwankungen, wenn es raus auf die Bühne geht – und sie muss sich manches, das anderen Ballerinen an darstellerischer Kraft sozusagen in den Schoß fällt, hart erarbeiten. Allerdings: Wenn sie fit ist und genügend intensiv und auch genügend liebevoll beprobt wurde, ist sie ein Muster an Eleganz, an Ausdruckswillen, an Temperament, an Rasanz und sogar an Kommunikationsvermögen mit dem Publikum. Da reicht dann ein Zwinkern oder ein Fingerzeig von ihr, ein Hüftschwung oder ein Grand Battement, und die Leute sind ihr ergeben wie einer Majestät. Und da ist noch etwas: Ihr gutes Aussehen becirct nicht nur die Ballettomanen, die spezielle Merkmale suchen und dafür auch harte Gesichtszüge oder knochige Gliedmaße in Kauf nehmen. Polina aber erreicht auch die Herzen von Leuten, die mit Tanz sonst nichts zu tun habe. Man kann es so formulieren: Polina Semionovas Schönheit ist zwar wie die einer Prinzessin, aber sozusagen volksverständlich.

EINE VOLKSVERSTÄNDLICHE SCHÖNHEIT

Das betrifft ihren schlanken, straffen Körper wie ihr liebliches Gesicht. Sie ist im Innern stets ein Mädchen, so scheint es, auch wenn sie das Damenhafte quasi im Armwinkel mit sich herum trägt. Ihre Beine sind zudem eine Eloge wert, so fein und doch stark sind sie geformt, und sie kämen sogar dann bestens zur Geltung, wenn ihre Füße weniger schön wären, als sie es sind. Polina hat Mannequin-Beine höchster Qualität, und vielleicht hat man sie in der damaligen SU deshalb zunächst fürs Eiskunstlaufen ausbilden wollen.

Sie hat auf allen maßgeblichen Ballettbühnen der Welt getanzt, die meisten maßgeblichen Ballerinenrollen bereits intus gehabt. Ein Stück von Maurice Béjart tanzte sie bereits mit Vladimir Malakhov in Berlin, den „Ring um den Ring“. Jetzt also der „Boléro“! Nacho Duato sagt ganz richtig, dass wohl jede Tänzerin und auch jeder Tänzer dieses 16-minütige Solo gern tanzen würde. Darum war bereits seine entsprechende Anfrage bei Gil Roman in Lausanne – der die Béjart-Lizenzen verwaltet – ein Geschenk an Polina. Eine kleine Bestechung, um sie auf die Berliner Bühnen zurückzuholen.

In der Tat ist das Stück ein Knaller, geeignet, sogar junge, aber auch ältere Tänzer einmal mehr als Stars leuchten zu lassen. Am Anfang ist es nur eine Armbewegung zu einer kleinen Melodie: erst des rechten Arms, dann beider Arme. Dann biegt und beugt und wiegt sich der Oberkörper. Irgendwann kommen die Füße hinzu, verfallen in den aus der russischen Folklore stammenden Zöpfchenschritt. Sprünge und energische Bodenfiguren folgen. Der musikalische Rhythmus, von kleinen Trommeln hartnäckig wiederholt, wird beibehalten, bis zum Schluss: tamtatata tamtamtamtatatatam… während die Bläser sich mit der Melodieführung abwechseln: Fagott, Oboe, Querflöten… seit 1928 avancierte das Stück auch zu einem der beliebtesten Highlights in den Orchesterhallen, nicht nur auf den Ballettbühnen, wo schon viele Choreographen versuchten, ihre ureigene Kreation hinzubekommen. Fakt ist: Die Version von Béjart ist nach wie vor der Spitzenreiter.

Als der Tanztitan Maurice Béjart seine von 1961 stammende, bis heute „ultimative“ Choreo zum „Boléro“ 1977 mit Maja Plissezkaja einstudierte, war er 50 Jahre alt; Plissezkaja, seine vom Bolschoi für diese Sache ausgeliehene Tänzerin, war nur ein gutes Jahr jünger, als sie den „Boléro“ tanzte. Aber auch Ida Rubinstein, die Uraufführerin, war 1928 bereits 43 Jahre alt – so gesehen, ist der „Boléro“ eigentlich eine Chose für ältere Tänzerinnen. Und für ältere männliche Tänzer: Nicolas Le Riche, Étoile an der Pariser Opéra, nahm am 9. Juli 2014 in einer großen Gala seinen Abschied vom Pariser Opernballett. Was war der Höhepunkt seiner Show? Genau: Er tanzte Béjarts „Boléro“, und zwar den Solopart, der ohnehin soviel Unisex-Flair verströmt, dass man sich wundert, dass nicht häufiger Männer als Frauen ihn aufführen.

Jetzt also Polina Semionova. Eine Frau – und eine junge Frau! Wie geht sie es an, ein so historisch bedeutendes Stück neu zu interpretieren?

Polina Semionova steht im Zentrum der Aufführung mit dem Béjart Ballet Lausanne am Sonntag in Berlin. Foto: LaureN Pasche

Polina Semionova steht im Zentrum der Aufführung mit dem Béjart Ballet Lausanne am Sonntag in Berlin. Foto: LaureN Pasche

Zunächst mal lernt Polina überdurchschnittlich schnell. Sie sah ein Video mit der Choreographie an – und nach zwei Proben hatte sie die Schrittfolgen drauf. Nacho Duato hat sicher Recht, wenn er aus seiner künstlerischen Sicht sagt: „Es ist sehr einfach, mit ihr zu arbeiten.“ Das Problem beim „Boléro“ sind jedoch die gleichförmigen Melodie- und Rhythmusabschnitte. Die einzelnen Passagen gleichen sich so sehr, dass es für die Ballerina der Uraufführung, Maja Plissezkaja, fast unmöglich war, sich die Zeitpunkte der Wechsel zu merken. Polina zu dieser Schwierigkeit: „Manche setzen sich darum eine hilfreiche Person in die Kulissen. Ich habe das anderes gelöst. Ich habe mir eine Geschichte ausgedacht, die sich während des Tanzens entwickelt.“

Offenbar denkt sie besonders plastisch, während Plissezkaja sich vor allem nach dem Gehör orientierte. Polina weiter: „Gil Roman hat mir erzählt, dass Béjart, bevor er das Stück choreographierte, an das Bild einer Frau dachte, die langsam und schön wie eine Göttin aus dem Wasser stieg.“ Es ist also die Geschichte einer schaumgeborenen Venus, die Polina hier hilft: Frau, Meer, Auftauchen. Diesen Vorgang setzt sie innerlich mit den „Boléro“-Phrasen um, Takt für Takt, wie in Zeitlupe. Der hoch talentierten und in der Moderne geübten Polina-Ballerina fällt es offenkundig leicht, sich mit solchen Imaginationstechniken zu retten, wenn andere nicht mehr weiter wissen. Faszinierend.

MANCHE EINSTUDIERUNG WAR PROBLEMATISCH

Für Maja Plissezkaja war die Einstudierung mit Béjart hingegen alles andere als einfach, von Routine war gar nicht zu reden. Die Bolschoi-Tänzerin war das moderne Tanzvokabular Béjarts nicht gewöhnt, ihre ganze Karriere beruhte – im Gegensatz zu Polinas ständigem Stilwechsel – praktisch nur auf der Bolschoi-Stilistik. Dafür hat ihre persönliche Geschichte mit dem „Boléro“ einen eigenen Geschmack: Während eines Urlaubs im damaligen Jugoslawien, auf der Insel Sankt Stephan, besuchte sie mit ihrem Mann, dem Komponisten Rodion Shchedrin, eine Tanzaufführung: Eine Tänzerin tanzte dort den „Boléro“. Und Maja war wie elektrisiert, fühlte sofort: „Das ist meins, das muss ich tanzen!“ Im Rückblick meint sie: „Noch nie war ich von etwas so besessen gewesen.“ Alle Bedenken, da nun jemanden nachzuahmen, verflogen angesichts des starken Wunsches, dieses Stück zu tanzen. Tatsächlich konnte sie es arrangieren, dass Maurice Béjart sie nach Brüssel einlud, um gemeinsam den „Boléro“ zu erarbeiten.

Allerdings hatte Plissezkaja ihr rhythmisches Gedächtnis überschätzt: Sie empfand es als außerordentlich schwierig, sich die verschiedenen Bewegungsphrasen zu merken, weil Melodie und Rhythmus sich ständig wiederholen: „Eine Höllenarbeit für das Gedächtnis!“ Das hämmernde Getrommel und die ohrwurmige Melodie – eine Folter für das so vie schwierigere Klänge gewohnte Ballerinengehör der Plissezkaja. Sie wollte darum die Sache zunächst sogar platzen lassen, weil sie befürchtete, auf der Bühne zu versagen und die Schritte nicht in der richtigen Reihenfolge hinzubekommen.

Sie hatte nicht mit der freundlichen List von Maurice Béjart gerechnet. Der gab so schnell nicht auf. Er setzte sich ins Publikum, an einen Durchgang, und zwar in einem weißen Pullover. Dazu hatte er ein Tischchen mit einer kleinen, auf ihn gerichteten Lampe aufstellen lassen. So leuchtete er mit seinem weißen Pulli in der Dunkelheit des Zuschauerraums. Er leuchtete für Maja, so konnte sie ihn von der Bühne aus sehen, und er gab ihr Zeichen. Nicht nur für den jeweiligen Einsatz, wenn ein Bewegungsmuster wechselte. Sondern sogar für einzelne konkrete Bewegungspassagen. Heute würde man dafür einen Teleprompter oder einen Monitor verwenden – damals war Béjart der lebende, auch live sendende Teleprompter.

Was die Sache erleichterte: Béjart hatte bestimmten Bewegungen französische Arbeitstitel verpasst. Etwa „chat“, „Katze“, für eine anschmiegsame Arm-Hand-Kopf-Bewegung. Und „BB“ für das beidseitige erotische Armflattern, das nach flügge werdenden Küken aussah. „BB“ steht hier nicht für Bertolt Brecht, sondern für Brigitte Bardot (die in den 70ern das Sexsymbol schlechthin war). Mit den Begriffen ist mittlerweile auch Polina Semionova vertraut, die aber, um körperlich auch wirklich ihr Bestes geben zu können, sich zusätzlich zum Balletttraining mit Fitness stählte: „Am Ende des ‚Boléro‘ muss man wie tot sein“, sagt sie, sonst habe man was falsch gemacht. „Und ich will hier über meine Grenzen hinaus gehen!“

Es ist vorerst keine weitere Vorstellung eingeplant, weder in Berlin noch sonstwo. Es ist ein einmaliger Event, fast wie ein Experiment, explosiv und erregend, und man möchte von totaler Erotisierung sprechen. Wäre Polina Semionova noch keine Tanzikone, sie würde es hiermit werden!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/  

 

 

 

ballett journal