Sie ist unsterblich. Und das nicht nur, weil „Giselle“ seit fast 200 Jahren beim Ballettpublikum so beliebt ist. Sondern auch, weil das Libretto des Stücks der Titelheldin Unsterblichkeit zugesteht – wie allen Wilis, diesen schönen weiblichen Rachegeistern. Aber wer sind die „Wilis“, ursprünglich auch „Samovilas“ genann, eigentlicht? Sie entstammen, jedenfalls laut Heinrich Heine, der slawischen Mythologie. Mit Ballett haben sie als dem Nebel entsteigende Geister in den Mythen zwar noch nicht so viel zu tun, sehr wohl aber mit Grazie und tänzerischer Anmut. Und natürlich mit überirdischer Kraft! Wilis, so schrieb der als Henri Heiné im Pariser Exil von Krankheit und Schmerz gequält Lebende und später auch dort Sterbende, seien „gespenstische Tänzerinnen“, die nach ihrem Tod nicht ruhig im Grab bleiben würden. Sondern die nächtens „truppweise“ den Männern auflauern, um sie in den Tod zu treiben. Das Ballett „Giselle“, auf Youtube in unzähligen Versionen und Besetzungen zu finden, entführt uns in eben diese Sphäre. Und obwohl das romantische Tanzstück, auf Heines Anregung hin, schon 1841 in Paris uraufgeführt wurde, hat es bis heute nichts von seinem männermordenden Charme verloren. Das Wiener Staatsballett zeigt darum am kommenden Samstag, dem 27. Februar 21, ab 19 Uhr und für 24 Stunden auf play.wiener-staatsballett.at seine Version des romantischen Klassikers: In einer Aufzeichnung von 2017, mit der sehr intensiv leidenden Nina Poláková (die das Stück auch schon mit Kimin Kim tanzte) in der Titelrolle.
Giselle ist ein hübsches, aber herzkrankes Dorfmädchen. Als sie entdeckt, dass ihr Geliebter mit einer gesunden reichen Adligen verlobt ist, wird sie irre. „The Mad Scene“, die Wahnsinnsszene, nennt man in der Ballettwelt jene vier Minuten, in denen sie um ihr Leben tanzt – und es verliert. Der erste Akt des Stücks endet mit Giselles Tod. Sie stirbt spektakulärerweise beim Sprung in die Arme ihres Liebhabers.
Heldin tot, alles tragisch? Von wegen. Jetzt geht es erst richtig los. Der zweite und letzte Akt spielt bei Mondschein im nebligen Wald, wo sich die Wilis treffen. Sie sind in weiße Tüllgewänder gehüllt, haben Efeuranken als Schärpen und Blumenkränze im Haar. Aus ihren Rücken wachsen kleine Flügel. Vor allem ähneln Wilis in Kleidung und Ausdruck sitzengelassenen Bräuten. Doch an den Füßen tragen sie ihre magisch anmutenden Spitzenschuhe.
Die Wilis „trippeln“ – man sagt im Ballett auch: „bourrieren“ – auf ihren Zehenspitzen wie liebliche Schmetterlinge. Aber wehe, ihnen kommt ein männliches Wesen unter! Dann wird das Opfer umzingelt und langsam, aber sicher zu Tode getanzt. Ein Ableben mit Sühnecharakter. Denn alle Wilis starben aus Liebeskummer. Ihre Power rührt nicht von der krankhaften Tanzwut, wie man im Spätmittelalter ekstatische Tanzlust nannte. Sondern vom Zorn auf die Männer, die sie erst verführt, vielleicht auch geschwängert, sicher aber verlassen haben. Giselle hat nun die Wahl, ob ihr untreuer Liebster sterben oder leben soll. Gütig, wie verliebte Frauen so sind, hilft sie ihm. Die Geisterstunde lang muss er tanzen. Das hält er nur durch, weil Giselle mit ihm tanzt. Ein Fest für jede Primaballerina.
In Wien wird eine Version getanzt, die von Elena Tschernischova eingerichtet wurde. 1939 im damaligen Leningrad geboren, war sie Absolventin des Waganowa-Instituts und zunächst Mitglied des Kirow-Balletts (am heutigen Mariinsky Theater) sowie später Ballettmeisterin in Odessa, das heute zur Ukraine gehört. 1976 wechselte sie auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs, der die Welt damals noch in Ost und West, in Kapitalismus und Sozialismus, teilte. Sie wurde Ballettmeisterin beim American Ballet Theatre in New York.
Und sie setzte in Europa ihre Karriere fort, war von 1991 bis 1993 Ballettdirektorin vom Wiener Staatsopernballett. Ihre „Giselle“ datiert auf 1993, kann also als eine Abschiedsarbeit von Tschernischova an Wien gelten. Selbstverständlich handelt es sich um eine klassisch-romantische Version, gültig nach den traditionellen Maßstäben und orientiert an der Originalchoreografie von Jules Perrot und Jean Coralli (die von Marius Petipa mehrfach bearbeitet wurde, was auch in die als Originale überlieferten Versionen einfloss).
Elena Tschernischova aber kehrte zum Ende ihres Lebens zurück nach Sankt Petersburg, wie es dann wieder hieß – und verstarb dort 2005. In Erinnerung ist sie als große Kraft der russischen Klassik, die nicht nur das Lyrisch-Freundliche, sondern auch das Dunkel-Dämonische scheinbar spielerisch beherrschte.
Es fällt im übrigen auf, dass gerade „Giselle“ relativ häufig von weiblichen Ballett-Talenten reinszeniert wird. Von Marica Haydée, Yvette Chauviré und eben Elena Tschernischova zum Beispiel. Im Gegensatz zu „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Nussknacker“, den drei großen Tschaikowsky-Balletten, aber auch im Kontrast zu „La Sylphide“ und „La Bayadère“ (von der es immerhin die Version von Natalia Makarova gibt) oder auch zu „Sylvia“, „Le Corsaire“ und „Coppélia“ (die wenigstens von Ninette de Valois neu inszeniert wurde) wurde und wird „Giselle“ wohl durch sein Überwiegen der holden Weiblichkeit im zweiten Akt vor allem als feminines Ballett gesehen. Zudem ist es dezidiert sozialkritisch und stellt die Moral der liebenden Heldin und sogar die Racheberechtigung sitzen gelassener junger Damen über alle männlich-patriarchalen Vorstellungen. Das unterscheidet „Giselle“ auch stark etwa von „La Sylphide“, das ein knappes Jahrzehnt früher uraufgeführt wurde.
So gibt es viele Gründe, sich „Giselle“ immer und immer wieder mal anzuschauen. Man entdeckt so viele Details und sinnreiche Bezüge hierin – dieses Ballett ist gerade in klassisch-romantischer Spielart ein Meisterwerk, in das viele Mühen vieler Begabungen im Laufe der Zeit eingeflossen sind.
Auf YouTube sollte man zunächst nach sowjetischer Tanzkraft suchen. Ausgerechnet aus London findet man dann tolle Aufnahmen: von der Bolschoi-Ikone Galina Ulanova, bei einem Gastspiel von 1956. Interessant ist in dieser Fassung, dass der zweite Akt nicht nachts, sondern bei Tageslicht spielt. Die Stigmatisierung Giselles ist aber auch hier deutlich. So liegt ihr Grab – wie schon 1841 – außerhalb der Friedhofsmauern. Was dafür spricht, dass sie unehelich schwanger war. Ulanova hat denn auch weiße Blumen bei sich, die sie wie ein zum Bündel geschnürtes Kind anklagend in die Höhe hält.
Normalerweise aber trägt Giselles reuiger Liebhaber Albrecht die Blumen in den Wald. Ein mustergültiger Albrecht war 2005 Roberto Bolle an der Scala in Mailand. Seine Bühnenpartnerin Svetlana Zakharova ist eine Nachfolgerin Ulanovas am Bolschoi, eine weitere Ikone des russischen Tanzes. YouTube ermöglicht es, die beiden wieder und wieder in diesen Paraderollen zu sehen. Die Wilis tragen hier übrigens zarte Schleier am Rücken statt Flügel. Auch der Efeu fehlt – aber die großen und zierlichen Sprünge, die von den Tanzkünstlern zu absolvieren sind, wirken im puristischen Design eher noch mehr als weniger.
Bleiben wir in Italien. Reisen wir in die Gegenwart. Erst kürzlich machte Manuel Legris, der neue Ballettchef an der Scala, mit „Giselle“ von sich reden. Er zeigte das Stück als Stream, in zwei Besetzungen: Im ersten Akt tanzte Martina Arduino mit Claudio Coviello, im zweiten Nicoletta Manni mit Timofej Andrijashenko. Manni war überraschend ätherisch. Obwohl sie sonst wegen ihrer Sinnlichkeit geschätzt wird, strahlte sie dieses Mal filigrane Feinheit aus.
Von dieser Einstudierung gibt es zwei „Masterclasses“, also Ballettsaalproben auf YouTube: Im eleganten Omi-Outfit steht darin Carla Fracci, einst selbst eine fulminante „Giselle“, vor dem Ensemble. Sie gibt an die jungen Solisten weiter, was sie vor Jahrzehnten von Yvette Chauviré lernte. Chauviré wiederum hatte die ursprüngliche Choreografie von Jean Coralli und Jules Perrot, die von Marius Petipa ab 1887 überarbeitet wurde, nochmals für die Bühne neu gefasst.
Weitere weltbewegende Gisellen bebildern auf YouTube die Ballettgeschichte: zum Beispiel mit Galina Mezentseva, Diana Vishneva, Alina Cojocaru, Dorothée Gilbert, Marianela Nunez. Man könnte die Liste auf jeden Fall noch verlängern, zumal Manche der Weltkünstlerinnen mit verschiedenen Partnern im Stück online präsent sind.
„Giselle“ ist also ein echtes Abenteuer, das sich unendlich oft wiederholen lässt. Wo – außer im Ballett – gibt es so etwas sonst?
Aber nur eine Version hat einen besonders zartfühlenden Schluss: Das Ballett aus dem sibirischen Perm lässt Albrecht und Giselle so lieb voneinander Abschied nehmen, dass man meint, Verzeihung sei das A und O im Leben.
Obwohl in „Giselle“ eigentlich feministische Rachsucht triumphiert. Nur die Liebe schafft das!
Gisela Sonnenburg
Mehr über „Giselle“ im Ballett-Journal, etwa hier:
http://ballett-journal.de/neumeier-giselle/
http://ballett-journal.de/semperoper-ballett-giselle-david-dawson/
http://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-giselle-staatsoper-salenko-tamazlacaru/
http://ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-giselle-thomas-mayr-madison-young/