Die eine große Liebe „Giselle“ von David Dawson, jetzt mit Courtney Richardson und Fabien Voranger in den Hauptrollen – eine wunderschön eigenwillige Ansicht beim Semperoper Ballett

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Courtney Richardson (Giselle) und Fabien Voranger (Albrecht) auf der Bühne der Semperoper in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Liebe ohne Zwang, ohne Notwendigkeit, ohne Abhängigkeit – kann es die dauerhaft überhaupt geben? Oder sind es immer Bindungen und Verpflichtungen, Eide oder Verträge, Abmachungen und Versprechungen, die Menschen paarweise zusammen halten? Aber warum suchen wir dann alle nach der absoluten Liebe, jener Liebe, die keine sozialen Vorteile bringt, keine emotionale Sicherheit und die noch nicht einmal so ein beruhigendes Gefühl der steten Erleichterung verspricht? Warum also hoffen wir alle insgeheim, das große Liebesglück läge im Moment des Abenteuers, das alles um uns herum vergessen macht und die ganze Welt im Grunde für null und nichtig erklärt? Die moderne „Giselle“ von David Dawson, zu sehen beim Semperoper Ballett, wirft solche Fragen auf – und gibt Antworten.

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Ein Paar, das in dieser tänzerischen Interpretation wie füreinander gemacht ist: Giselle (Courtney Richardson) und Albrecht (Fabien Voranger) in David Dawsons „Giselle“ in Dresden. Foto: Ian Whalen

Wenn Courtney Richardson – eine in Toronto ausgebildete Solistin mit ganz eigenwillig-brillanten, stark-weiblichen Linien – die „Giselle“ tanzt, steht die Außergewöhnlichkeit ihrer Hoffnungen sogar im Vordergrund. Denn es ist doch selten, dass zwei Menschen sich ansehen und im gleichen Maß genau dasselbe fühlen. Hier ist es so, mit Courtneys Partner Fabien Voranger, der in Südfrankreich geboren, aber in London beim Royal Ballet ausgebildet wurde. Es ist ein Maximum an Zuneigung, an Voneinanderhingerissensein – und auch an ganz tiefem menschlichen Verständnis, das die beiden füreinander empfinden. Als sie den ersten großen Pas de deux als Giselle und Albrecht tanzen, der damit endet, dass er sie wörtlich flach legt, also im Liegen küsst, brennt die Luft in der Semperoper!

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Ein vornehmes Entrée: in der Semperoper in Dresden, die in sich so prächtig verschachtelt ist wie ein Palast. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Publikum wird dabei ganz still, danach spendet es spontanen Szenenapplaus – sogar bei einer Familienvorstellung, in der viele noch wirklich kleine Kinder sitzen. Aber wenn Fabien „je t’aime“ Voranger mit Courtney „Love“ Richardson die große eine Liebe tanzt – dann gucken alle gebannt in den Guckkasten dieser wunderbaren Bühne der Semperoper.

Und schönere Foyers? Ich weiß es nicht. Mich berührt diese Mischung aus altem Barock und moderner Emotionalität in Dresden sehr.

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Ein Blick in das Innere der Semperoper in Dresden, auf der Höhe des ersten Rangs: edel, barock, durchdacht gemacht. Foto: Gisela Sonnenburg

Jedenfalls sind Courtney Richardson und Fabien Voranger als Paar auf dieser Bühne umwerfend schön anzusehen, und jeder, der die Möglichkeit dazu irgendwie wahrnehmen kann – und sei es durch eine weitere Anfahrt nach Dresden – sollte das tun!

All die Fans, die bis New York und Moskau, bis nach Amsterdam und Tokio, bis Paris und London, bis Hamburg, Berlin und Stuttgart fliegen, um hochkarätiges Ballett zu sehen, sie sind hier auch genau richtig. Richardson hat eine sehr seltene Fähigkeit, mit wenigen Gesten und exakt sitzenden Schritten Atmosphäre und Gefühl zu kreieren. Und Fabien Voranger ist einer der am stärksten auratisch wirkenden männlichen Tänzer, die ich kenne. Ihr Paartanz ist ein Geben und Nehmen, ein Nehmen und Geben, das nachgerade neidisch machen kann! Solch eine innige, in sich schlüssige Balance haben nur wenige Bühnenpaare.

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Einfach kompliziert: Giselle und Albrecht – Courtney Richardson und Fabien Voranger – ergänzen sich aufs Feinste. Hier ein Bild vom Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Courtney Richardson kreierte denn auch nicht nur das mit Fabien Voranger unter der choreografischen Ägide von David Dawson im Februar 2015 entstandene und hier im Ballett-Journal auch ausführlich vorgestellte großartige Stück „Tristan + Isolde“. Sie inspirierte den genialen Choreografen Dawson auch zu seinem für Galas sehr geeigneten Pas de deux „A Sweet Spell of Oblivion“. Dieser endet mit einer Pose, die an die Freiheitsstatue in New York erinnert. Und Courtney ist genau die richtige Frau, um Liebe und Freiheit in einer Person zu vereinen!

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Elegant auch bei der Verbeugung: Fabien Voranger und Courtney Richardson nach der „Giselle“-Vorstellung beim Semperoper Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber Fabien Voranger ist auch genau der richtige Mann für sie. Wie er sie partnert, durch die Luft wirbelt, hochhebt, absetzt – da stimmt einfach alles! Er hält sie sicher und unmerklich sanft, aber zuverlässig. Wunderbar.

Und das passt so verdammt gut zu Giselle und Albrecht. Diese Harmonie! Courtneys Giselle ist ja nicht ganz so naiv wie die der meisten Primaballerinen. Sie ist hier ein Mädchen mit emotionaler Vorgeschichte. Vielleicht war sie keine Jungfrau mehr, als sie Albrecht traf. Vielleicht war sie sexuell offener als andere junge Mädchen. Das tut der wahren großen Liebe aber keinen Abbruch, im Gegenteil! Gerade weil Giselle hier in erotischer Hinsicht keine Anfängerin mehr ist, kann sie Albrecht so verliebt in sich machen!

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Poetisches Miteinander: Courtney Richardson als Giselle und Fabien Voranger als Albrecht in David Dawsons „Giselle“ in Dresden. Wie schön ist der Traum von absoluter Liebe! Foto: Gisela Sonnenburg

Und was die beiden auch so deutlich zeigen: Es gibt niemanden sonst, der an dieses starke emotionale Maß an Liebe heran kommt. Weder Bathilde, zu deren Entourage Albrecht hier eigentlich seit langem gehört, noch Hilarion, den Laurent Guilbaud mit Hingabe verkörpert, können in Giselles und auch in des Publikums Augen so starke erotische Liebe verkörpern wie eben Fabien Voranger als Albrecht.

Wie er sie anschaut. Wie er dafür alles andere vergisst, zum Beispiel die schöne Bathilde (im Wechsel mit Jenni Schäferhoff: Aidan Gibson). Wie er nichts anderes mehr begehrt als ihre, nämlich Giselles Süßigkeit!

David Dawson hat seine Schritte für dieses Paar genau abgestimmt auf das sonstige choreografische Geschehen in seiner „Giselle“.

Als kontrastreiche Folie ist da dieses glückliche Hochzeitspaar, mit dem Giselle befreundet ist. Wir wissen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Wir sehen sie aber als großstädtisches Paar, das sich liebt und dieser Liebe kraftvoll Ausdruck verleiht. Sie haben ganz offensichtlich nicht die Standesschranken und Erfahrungsunterschiede zwischen sich wie Giselle und Albrecht. Sie können einfach gut miteinander, sind verliebt und freuen sich auf ein gemeinsames Leben. Ach, wie problemlos kann die Liebe sein!

Ein solches Glück ist Albrecht und Giselle niemals beschert. Aber sie haben dieses starke Gefühl zwischen sich, das andere Paare so nicht empfinden können. Sie sind sozusagen die Subsummierung aller verliebten Pärchen, sie sind Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Orpheus und Eurydike in zwei Personen. Sie sind außergewöhnlich.

Patrick Wamsgamz

Der Meisterchoreograf David Dawson bereitete sich sieben Jahre auf seine „Giselle“ vor: Sie wurde denn auch eine fesselnde und schlüssige Neuinterpretation des alten Ballettmärchens. Foto: Patrick Wamsgamz

David Dawson notierte für sich, als er sich nach sieben langen Jahren der gründlichen Vorbereitung entschloss, „Giselle“ – das er als traditionelles Ballett bereits sehr gut kannte – 2008 neu zu kreieren: „Giselle und Albrecht durchleben die starken Gefühle, die alle frisch Verliebten kennen. Wenn sie zusammen sind, haben sie nur Augen füreinander – ein Zustand göttlicher Blindheit.“

Dieses Ausschließliche bestimmt den Tanz von Courtney Richardson und Fabien Voranger: Man spürt, dass sie um die Besonderheit der tänzerischen Liebe wissen. Sie sind auf der Bühne ein Paar, wie füreinander geschaffen – und fast, das ist das Neue hier an dieser „Giselle“-Interpretation, wären sie tatsächlich so etwas wie das perfekte Paar.

"Giselle" in der Semperoper in Dresden.

Der glücklichste Moment der Verliebtheit von Giselle und Albrecht: hier Yumiko Takeshima und Raphael Coumes-Marquet, die „Urbesetzung“ in David Dawsons „Giselle“ beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Costin Radu

In Dawsons Spiel wären diese beiden nämlich fast das Himmelreich als Paar auf Erden. Aber eben nur fast. Dass beide jeweilige Vorgeschichten haben, die nicht zusammen passen, erscheint hier als missbilliger Zufall. Seine Zugehörigkeit zur Sexclique von Bathilde und ihren Jungs – hier eine charmante, aber zur Paarbeziehung nicht fähige Allianz – erscheint als Notbehelf. Kein Wunder, dass er sie verschweigt! Er tut es nicht nur, um Giselle zu täuschen (das ist die klassische Variante). Er tut es auch, um selbst seiner Vergangenheit und den damit eingegangenen Bindungen (zu Bathilde und ihren Jungs) zu entgehen.

"Giselle" in der Semperoper in Dresden.

Sie wissen um das Geheimnis der Liebe auf der Ballettbühne: Fabien Voranger und Courtney Richardson nach „Giselle“ in der Semperoper in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist letztlich das blanke Pech, dass alles rauskommt und Albrecht zugeben muss, nicht nur der verliebte Gockel zu sein – sondern auch ein „richtig böser Bube“ gewesen zu sein, was Sex angeht. Natürlich war Giselle nicht die erste vermutete Jungfer, die er sich einfach nahm und der er irgend etwas vortäuschte, um sie rumzukriegen. Aber sie ist die erste junge Frau, bei der er wünschte, sie nicht belogen zu haben. Albrecht bereut im Grunde schon, während er um Giselle wirbt, dass er nicht ein anderer Mann ist, als er es ist.

Und sie? Normalerweise ist Giselle einfach nur verliebt in Albrecht. Hier aber kann sie sich keinen anderen Mann für sich vorstellen. Es ist eine Ausschließlichkeit der Liebe in ihren Blicken, die sie alles verzeihen lassen würde. Wenn dieser geliebte junge Mann ihr nur eine Chance dazu geben würde! Wenigstens dieser unausgesprochene Wunsch von ihr wird in Erfüllung gehen… wie ein Trost.

So ist es fast mehr Zufall als Schicksal, dass aus den beiden kein gückliches Pärchen wird. Fast wären sie das nächste Brautpaar – und so stehen sie, während eine Freundin von Giselle Hochzeit feiert, auch da: verliebt, miteinander turtelnd und schmusend.

"Giselle" in der Semperoper in Dresden.

Applaus auch vom Ensemble des Semperoper Balletts für Courtney Richardson als Giselle und Fabien Voranger als Albrecht in David Dawsons „Giselle“. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Der Bräutigam auf der Bühne ist aber nicht Albrecht, sondern ein weit weniger kompliziert verliebter Junge (hervorragend nicht nur in den Sprüngen, sondern auch beim Spielen und in den synchronen Männertänzen: István Simon). Seine Braut (mit fantastisch sauberen Fouettés: Anna Merkulova) lässt sich mit großem Spaß einfach aufschultern, lenken, zum Tanzen verführen. Dieses Paar hat, wovon Albrecht und Giselle träumen: die Freiheit zur Pflicht.

Dass Albrecht als Bathilde-Anhänger geoutet wird und Giselle ihm aus lauter Verzweiflung darüber versehentlich ins Messer läuft, ist somit kein zwangsläufiger Moment. Denn fast wäre aus Albrecht und Giselle das perfekte Paar geworden, das nicht darüber nachdenken muss, was es in der Vergangenheit getan oder nicht getan hat.

Es ist umso tragischer, dass diese Lovestory nicht stattfindet. Giselle stirbt an der Stichwunde – umhegt von ihrem Jugendfreund Hilarion, nicht von Albrecht.

Dass sie eine Wili wird – eine Untote, die geisterhaft in den Träumen der Lebenden erscheint – ist am Ende des ersten Aktes noch nicht abzusehen. Obwohl sich über die Legende der vor der Heirat sterbenden Mädchen, die zu einer Wili werden könnten, da bereits mit Schauergefühlen lustig gemacht wurde.

Wie ernst es dann für Albrecht wird, sehen wir erst im zweiten Akt. David Dawson hält dazu fest: „Die Endgültigkeit von Giselles Tod macht alle zu Verlierern.“ Albrecht sucht die Auseinandersetzung über seine Schuld am Tod seiner Liebsten – so verschieden sie auch waren, sie hätten ja fast das perfekte Paar abgegeben. In keiner anderen Interpretation wird das so deutlich wie in der von Courtney Richardson und Fabien Voranger.

"Giselle" in der Semperoper in Dresden.

Allein unter Wilis: Fabien Voranger als Albrecht im zweiten Akt von „Giselle“, der hier nicht im Wald, sondern in der Vorstellung von Albrecht statt findet. Foto: Ian Whalen

Die Wilis, die wie tanzender Nebel auftauchen, verwirren Albrecht. Bis eine von ihnen Giselle ist – und sich ohne Schleier zeigt. Dann gibt es kein Halten mehr. Die beiden tanzen ihre Liebe, ohne Wenn und Aber – und was im Diesseits nicht mehr gelingen konnte, schaffen sie in Albrechts Fantasie nach Giselles Ableben.

Die für die Choreografien von David Dawson typischen Hebungen und Gleitschritte verschmelzen mit der Leichtigkeit der Träumerei. Denn ohne Anmut geht im Ballett gar nichts, auch nicht die Läuterung oder Reue. Und darum geht es hier: Albrecht muss einsehen, was er falsch gemacht hat.

Er bittet mit seinen Liebestänzen Giselle um Vergebung. Anders als andere Interpreten lässt Albrecht sich nicht von anderen Wilis beglücken oder aus einer Art Lüsternheit heraus in die Erschöpfung treiben. Er tanzt aus purer Not mit ihnen – solange er Giselle nicht haben kann. Als sie kommt, um ihn vor dem sicheren Tod durch unendliches Solo-Tanzen zu retten, wird beider Liebe offenbar.

"Giselle" in der Semperoper in Dresden.

Noch eine Impression vom Schlussapplaus nach „Giselle“, mit Laurent Guilbaud als Hilarion in der grünen Jacke beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto. Gisela Sonnenburg

David Dawson hatte schon zu Beginn seiner Arbeit an „Giselle“ festgestellt: „dass es sich von allen anderen abendfüllenden Ballettstücken“ unterscheidet. Denn „es basiert auf aufrichtige Weise auf Affekt und es geht nicht nur um das Spektakel.“ Diese Wahrhaftigkeit äußert sich auch in der Figurenzeichnung. Dawson: „Es ist ein Stück über getriebene Emotionen und keinesfalls perfekte Menschen.“ So muss Albrecht im zweiten Akt um seine Lebenskraft kämpfen, nicht nur um die Schuldvergebung.

Als es gelingt, ist der Grund, von Giselle und den Wilis zu träumen, hinfällig. Eine letzte Umarmung – und Giselles Geist entschwindet, aus dieser Umarmung heraus, in den Tiefen der Bühnentechnik. Was bleibt, ist die Erinnerung an das Liebes- und Glücksgefühl, das Albrecht und Giselle zu ihren – Giselles – Lebzeiten empfanden. Kirschblütenblätter rieseln zum Zeichen dessen erneut auf Albrecht herab, wie schon im ersten Akt auf ihn und Giselle.

"Giselle" in der barocken Semperoper in Dresden.

Er bleibt allein zurück, findet Trost in der Erinnerung: Albrecht (Fabien Voranger) in der modernen „Giselle“ von David Dawson beim Semperoper Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Er badet nachgerade in dieser Erinnerung, in sich ruhend und mit einem tiefen Cambré, das sein traumverlorenes Vertrauen in die eigene Gegenwart und Zukunft ausdrückt. Wer so stark liebt, muss sich keine Sorgen machen – Fabien Voranger tanzt das auf das Vorzüglichste.
Gisela Sonnenburg

Noch einmal am 18. April in der Dresdner Semperoper. Hingehen! Ist unvergesslich schön…

Mehr über David Dawsons „Giselle“ gibt es hier zu lesen:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-giselle/

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-giselle-dawson/

www.semperoper.de

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