Klitzekleine Massaker des guten Geschmacks Bert Brecht und George Balanchine hätten gestaunt: Mit „Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ rockt Ex-Punkerin Peaches; mit „Creations IV – VI“ barmt das Stuttgarter Ballett um Gnade

"Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins" ins Stuttgart

Ein Gesamtspektakel aus Tanz, Gesang, Schauspiel: „Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ in Stuttgart. Foto: Bernhard Weis

Um Lautstärke wird gebeten an diesem Abend! Und wer keinen Trommelfellriss riskieren mag, der kann sich im rundum modernisierten Stuttgarter Schauspiel „Gehörschutz“, also Ohrstöpsel, geben lassen. Kein Scherz, sondern Service! Das Satireballett „Die sieben Todsünden“ von Kurt Weill, mit einem Libretto von Bertolt Brecht und in einer Choreografie von George Balanchine 1933 in Paris uraufgeführt, erfährt in Stuttgart eine ungeahnt rockige Verbrämung: die Sängerin Peaches, einst eine punkige Rebellin in der U-Musik, tritt unter anderem mit diversen Hängebusen aus Textil in Aktion – und Louis Stiens, Halbsolist beim Stuttgarter Ballett und bereits vielfach erprobter Nachwuchschoreograf, besorgte die etwas wild gewordenen Tänze. Mit Brecht hat das Ganze allerdings eher nix mehr zu tun, die biblischen Kardinalsünden aus dem Titel waren den Machern ohne Ausdeutung in Richtung Prostitution nicht unterhaltsam genug. „Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ heißt nun das zweisprachige Spektakel, das von der Stuttgarter Oper, dem Ballett und dem Schauspiel gemeinsam ausgerichtet wird. Außerdem aber locken die „Creations IV – VI“ ebenfalls zu einer Choreo von Louis Stiens, gemeinsam mit einer Meeresfantasie in Schwarz von Douglas Lee und einer intellektuell nicht wirklich anspruchsvollen Abhandlung von Martin Schläpfer. „Erbarmen!“, scheint dieser Ballettabend auszurufen, und das Publikum zeigt sich tatsächlich wie immer gnädig – und jubelt für das bezahlte Eintrittsgeld, was das Zeug hält, damit es nichts bereuen muss.

Allerdings: An das Niveau so mancher echt hochkarätigen Stuttgarter Ballettvorstellung kommt man hier beim besten Willen nicht ran. Bedenkt man, dass noch vor zwei Jahren, also unter Ballettintendant Reid Anderson, das Stuttgarter Ballett auch mit zeitgenössischen Abenden wenigstens für Innovation stand, so hampelt man mittlerweile im Schwabenland offenkundig der Konkurrenz des Modernen hinterher.

"Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins" ins Stuttgart

Wer sein Gehör schützen möchte, hat in Stuttgart Gelegenheit dazu: Theatrale Ohrstöpsel gibt es bei „Die sieben Todsünden / Seven heavenly Sins“ gratis. Danke! Foto: Boris Medvedski

Diese Bewegung kulminiert in der Anbiederung an Martin Schläpfer, der aus Ballett eine Art Kraftsport auf der Bühne gemacht hat. Angeberei statt Grazie stählen hier den Blick; kein Wunder, dass die Deutschen und auch die Österreicher für den seit einigen Jahren dubios gewordenen Stil von Schläpfer empfänglich sind. Demnächst darf der gebürtige Schweizer, der zuletzt mit dem Ballett am Rhein reüssierte, darum den exzellenten Stil vom Wiener Staatsballett dauerhaft als neuer Ballettdirektor demolieren. We are not amused.

Zuvor aber tobte sich Schläpfer eben mit dem Stuttgarter Ballett aus; einst wurde er hier – von der wirklich klugen und kultivierten Marcia Haydée – als Tänzer abgelehnt. Jetzt kreierte er hier als Gastchoreograf ein pseudo-panasiatisches Stück namens „Taiyo to tsuki“ („Sonne und Mond“ auf Japanisch). Die Musik kommt vom tragischen Wiener Romantiker Franz Schubert, dessen „3. Sinfonie D-Dur“ diese Schmach eigentlich nicht verdient hat, sowie – mit puristisch-sphärischen Klängen – von Toshio Hosokawa, womit was Exotisches und Zeitgenössisches zu hören ist. Hosokawa ist übrigens der bekannteste lebende japanische Komponist, und man sieht, wie eurozentrisch wir alle sind, da wir ihn hierzulande kaum berühmt zu nennen wagen.

Das solchermaßen vorgestellte Thema der beiden großen Planeten, die uns auf Erden beschäftigen – also Sonne und Mond – ist bei Schläpfer indes abgeflacht und reduziert auf banale ballettöse Allgemeinplätze. Wenigstens können aber einige Damen und Herren zeigen, dass sie tanzen können (und nicht nur sich verrenken).

Und Friedemann Vogel ist mit Hyo-Jung Kang einfach immer ein Augenschmaus, sogar in diesem unentschiedenen choreografischen Gemenge.

Hat da jemand Anleihen bei Theaterregisseur Robert Wilson gemacht? – Sinéad Brodd in „Naiad“ („Najade“) von Douglas Lee beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

So ist das Schläpfer-Stück über die beiden Großen am Himmelszelt denn auch das Highlight in den insgesamt recht peinlichen „Creations IV – VI“, die jenseits aller Naturschutzgedanken mit der Ästhetik von schwarzem Plastik brillieren (bei Douglas Lee in „Naiad“) und die mikroskopischen Strukturen von Krebszellen (!) mal eben zu einem „originellen“ Leotard-Muster machen (in „Messenger“ von Louis Stiens). Geschmackloser und gedankenärmer geht es ja schon fast nicht mehr, zumal, wenn man einen ganzen Opernhausapparat zur Verfügung hat.

Man muss doch hinsehen und konstatieren: Es handelt sich bei diesen Choreografen offenbar um Menschen, die so gierig wie unbedarft nur dem Erfolg und den Effekten nachhecheln, dass für die Kunst einfach keine grauen Hirnzellen bei ihnen mehr übrig bleiben.

Es ist kaum zu fassen, wie wenig Inhalt und wie wenig Form das Stuttgarter Ballett hier auffährt.

Die "Shades of White" sind ein sensationeller Erfolg

Eine Koryphäe im Ballettsaal, nicht im Büro: Tamas Detrich (vorn) mit Ballettmeistern bei der Probe auf dem World Ballet Day 2019. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Dagegen wirkt das andere kleine Geschmacksmassaker, das der aktuelle Ballettintendant Tamas Detrich im Angebot hat, fast noch aufregend.

Zuvor aber eine ebenfalls klitzekleine Personalie: Klammheimlich wurde Detrich insofern intern entmachtet, als ihm die bisherige langjährige Geschäftsführerin vom Stuttgarter Ballett, eine biedere wandelnde Rechenmaschine mit dem neckischen Namen Fränzi Günther, als „Persönliche Referentin“ zur Seite gestellt wurde. Man könnte wohl auch sagen: als Wachhündin und eigentliche Chefin, denn – das war ohnehin abzusehen – Detrich ist zwar einer der besten Ballettmeister der Welt, aber für Aufgaben außerhalb der Bühne und des Ballettsaals eben doch definitiv nicht genügend geeignet.

Man sehnt sich nach Reid Anderson, seinem Vorgänger: Anderson hatte Klasse und auch Herz in der Repräsentation und Verbindung des Hauses nach außen – und er hatte keine Scheu, Entscheidungen zu treffen. Ohne dabei zu jammern und zu lamentieren. Mit Kritik konnte er übrigens auch umgehen, das heißt, er war immer lernfähig – und charakterlich reif genug, um auch mal Fehler zuzugeben und keine Kritiker einfach rauszuschmeißen oder zu diskriminieren (eine Taktik, die zunehmend modern sein soll in unserem schönen demokratischen Land).

"Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins" ins Stuttgart

Josephine Köhler und Louis Stiens stehen beide als Anna im Ring… in den „Sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ in Stuttgart. Foto: Bernhard Weis

Jetzt aber zum versprochenen heißen Brecht-Weill-Abend in Stuttgart, für den sich das Opernhaus mit dem Schauspielhaus in „Stuggi“ verbündet hat.

An das Level von Lotte Lenya, die eine der Starchanteusen der Pariser Uraufführung von „Die sieben Todsünden“ war, kommt man hier nun auch nicht ran.

Aber dafür ist es quietschbunt und krachlaut, es gibt eine Lichtshow wie in einem Stadion für Größenwahn – und wer nicht allzu tiefsinnige Fragen an die Inszenierung der Theater- und Opernregisseurin Anna-Sophie Mahler hat, kann sich das Ganze zur Not ziemlich einfach schönreden. Immerhin gibt es viel zu gucken (Licht: Jörg Schuchardt, Kostüme: Marysol del Castillo, Bühne: Katrin Connan), und das Charakteristikum „Gesamtspektakel“ mag hier absolut passend erscheinen. Der gute Geschmack wird bei all dem Aufwand allerdings leichterhand massakriert.

Toll und herausstechend mit grandiosen Gesten: Melinda Whitham (Charakterdarstellerin beim Stuttgarter Ballett), die eine Ikone der Weiblichkeit mit fast einfach zu nennenden Mitteln zu verkörpern weiß.

"Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins" ins Stuttgart

Melinda Witham, eine von vier Annas dieser Inszenierung, beim Schlussapplaus nach „Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ in Stuttgart. Mal was anderes… Foto: Boris Medvedski

Sie und ihr Kollege Louis Stiens stehen zusammen mit „Testimonial“, also Promi-Sängerin Peaches und der akzentuiert auch tanzenden Schauspielerin Josephine Köhler als vier Ausgaben der Hauptpersonen Anna I und Anna II auf der Bühne. Hervorragende Sänger, vor allem Christopher Sokolowski und Elliott Carlton Hines (beide vom Stuttgarter Opernhaus), aber auch Florian Spiess und Gergely Németi unterfüttern das Ganze mit kulturhaltigem Klang, ganz BrechtWeill-gemäß. Trotz Mikrofon.

Zur Erinnerung, bei olle Brecht ist es so: Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid – also die biblischen sieben Todsünden, die das Heil der Menschheit verhindern –  werden in originellen, oft ironisch assoziierenden Kernzellen dramatisch vorgeführt. Da geht es um Erpressung, Diebstahl, Tierquälerei, Sexismus in der Kunst, Magerkeitswahn, Beziehungsprostitution, sexuelle Abhängigkeit bis zum Ruin. Das Fazit jedes dieser Mini-Dramen soll sein, dass die Welt verbessert werden müsse, weil sie ungerecht sei. Eigentlich ist das ja hochaktuell.

Im Stuttgarter Allerlei schrumpfen nun sowohl die tödlichen Sünden als auch ihre moralische Konsequenz auf die Vorgänge der Prostitution zusammen.

Man dachte sich kurzerhand eine erneuerte Geschichte aus, die in sketchartig aufblitzenden  Bildern erzählt wird. Darin wird Anna von ihrer Familie gezwungen, auf den Strich zu gehen, damit es sich die Mischpoke in einem Einfamilienhaus bequem machen kann. Naja. Irgendwie ist das ja realitätsfern. Soll man Brechts Libretto so verkürzen? Frauen haben doch eher andere Probleme, oder?

Sie werden aus den Jobs gedrängt, weil die Männer unter sich ausmachen wollen, wer Leithammel oder Stellvertreter und wer Knecht oder Untertan wird.

Frauen haben die Gewalttätigkeit von Männern zu fürchten – und zugleich die Rivalität von anderen Frauen.

Frauen müssen des weiteren entscheiden, ob und wie oft sie Mutter werden wollen oder ob sie ihrem Leben einen anderen hauptsächlichen Sinn verleihen wollen.

Diese Fragen interessieren die Stuttgarter Showmaker leider nicht.

Dass die eigene Familie ein weibliches Mitglied direkt auf den Strich schickt, ist hingegen ungewöhnlich und am ehesten in entsprechenden Milieu-Familien zu erwarten. Das wird bei dieser Mammutproduktion aber verschwiegen. Hier ist das Nuttesein eine willkommene negative Sensation, also steht es im Zentrum, weil man Aufmerksamkeit heischen will. Dabei ist es traurig genug, wenn Menschen Jobs machen müssen, die für sie erniedrigend sind. Hätte man nicht in diese Richtung eine gesellschaftskritische dramaturgische Fantasie walten lassen können?

Doch dafür reichte es nicht. Armer Bertolt Brecht!

Denn seine Songs werden in die hanebüchene neue Story eingebunden.

Ganz so, als seien die biblischen Todsünden vor allem auf Prostitution zurückzuführen.

Das ist schon reichlich reaktionär. Immerhin darf Anna sich am Ende selbst finden und zufrieden sein.

"Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins" ins Stuttgart

Peaches (mittig) mit Insignien des Femi-Punks oder auch kleinbürgerlicher Horror-Fantasien. So zu sehen in „Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins“ in Stuttgart. Foto: Bernhard Weis

Dennoch strotzt ausgerechnet dieser auch dank Peaches angeblich Gender-inspirierte Abend vor plakativen Sexismen, die jedes Feingefühl und jede Befähigung zu differenzieren stark in Frage stellen.

Ob man so neue Zuschauerkreise in die Hochkultur holt, sei dahingestellt – eher gelingt es, das satte herkömmliche Publikum in einen scheinbar prickelnden Ausnahmezustand zu versetzen.

Szenen, die die Themenkreise Kampf und Pornografie abwandeln, sollen den Medienzirkus darstellen. Peaches singt dazu, gern mal im Boxring, mit gebrochener Stimme, brüllt auch mal und traut sich sogar bis ins Publikum, um die Leute mit ihrer verschwitzten Kostümage zu erschrecken.

Fünf Textilbusen trägt Peaches am Ende auf tiefem Brustansatz, der sechste polstert ihren Venushügel. Anatomiekenntnisse mögen Glücksache sein, aber feministisch ist diese etwaige Lesbenfantasie ganz sicher nicht. Soll so die Fixiertheit der Männer auf Brüste angeprangert werden? Auch ein aufgepumpter Riesenphallus wird sarkastisch präsentiert, er ist sogar begehbar.

Zwischenmenschliches bleibt allerdings auf der Strecke, und die vier Annas haben nichts miteinander zu tun. Vor allem Peaches wirkt wie ein implantiertes Konzert. Da hilft auch das leise, poetische Schlussbild nicht, in dem sich Melinda Whitham als Anna im Goldlicht leise und elegant vom Acker sprich von der Bühne macht. Das weckt Erinnerungen an ihr früheres Ballerinendasein, mit Grazie und Niveau. Ihre Hände allein erzählten märchenhafte Geschichten, die ihr sanft sich neigendes Haupt bestätigten.

Alles in allem kann man sicher viel über diesen Abend diskutieren, nach dem Motto: Ist das nun ein Triumph der kleinbürgerlichen Exzess-Fantasie?! Oder ist es ein notwendiges Experiment zur Befreiung der Spaßgesellschaft von sich selbst?

Nur: Inhaltlich besser wird die Show davon nicht.
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

 

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