„Alles Cranko!“ – oder was? Der neue, vierteilige Abend beim Stuttgarter Ballett setzt ganz auf die Potenz des sanften schwulen Patriarchen John Cranko

John Cranko war kein Einzelfall.

So eine Collage aan Auswahl-Vorschlägen ergibt sich, wenn man im Internet mit Google nach Bildern von John Cranko sucht. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Vor ihm war die Bundesrepublik Deutschland eine Ballettwüste: John Crankos Verdienste sind unbestritten. Dennoch passt so eine schwülstige Ausdrucksweise irgendwie gar nicht zu dem sensiblen Schwulen, der im Ballettsaal rauchte und auch nicht immer ganz nüchtern war: Das Genussmittel Alkohol war ihm nicht fremd, das Fortsetzen einer Probe in der Kantine durch ein Stammtisch-artiges Nachspiel gehörte bei Cranko dazu. Insofern war er eigentlich ein typischer 68er, typisch für eine Theatergeneration, die aufbauen und dabei rückhaltlos aus den persönlichen Vorlieben schöpfen konnte.

Es ist ja auch schon eine Weile her, dass der 1927 in Südafrika geborene und 1973 in einem Flugzeug verstorbene Choreograf und Ballettdirektor Cranko in Stuttgart das so genannte „Stuttgarter Ballettwunder“ bewirkte. 1961, im Jahr des Mauerbaus, hatte der Intendant Walter Erich Schäfer den damals knapp 34-jährigen aus London, wo er als Resident Choreographer beim Sadler’s Wells wirkte, in die schwäbische Metropole geholt. Was niemand für möglich gehalten hätte: Crankos Werke durchbrachen den Bann der Ächtung, der auf der westdeutschen Ballettlandschaft lag – und bezauberten erst das Publikum im Inland, später auch in Übersee.

Ausgehend von der klassischen Technik, beherrschte John Cranko eine moderne Körpersprache in spannungsreicher  Dramaturgie. Er hatte sich, bevor er zum Ballett fand, viel mit dem praktischen Puppenspiel beschäftigt – eine Kunstart, die ebenso wie Ballett stark stilisiert ist, die von symbolischen Handlungen und Liebesschwüren lebt, und die im besten Fall dabei (wie Ballett auch) durch Gestik und Bewegung der Gliedmaßen eine poetische Stimmung verbreiten kann.

In Crankos Stücken findet man denn auch eine große theaterwirksame, psychologische Plausibilität, ebenso wie eine gewisse lyrische Ominosität. „Onegin“ ist zweifelsohne Crankos bestes und berühmtestes Tanzdrama, im übertragenen Sinn ein originelles Rührstück mit sahniger Füllung durch und durch. „Romeo und Julia“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“, seine beiden Shakespeare-Ballette sind ebenfalls weltweit viel gespielt und grandiose Choreografie-Meilensteine, sie haben indes nicht ganz den psychologisch strukturierten Modus wie „Onegin“.

Aber Cranko kreierte nicht nur abendfüllende Handlungsballette, sondern auch kürzere abstrakte Stücke.

Von diesen fasst Ballettintendant Reid Anderson nun vier zu einem Abendprogramm zusammen. Der „Alles Cranko!“ betitelte Ablauf beginnt mit zwei nahezu unbekannten Stücken und fährt dann mit „Opus 1“ und den „Initialen R. B. M. E.“ ganz groß auf.

Der neue, vierteilige Abend beim Stuttgarter Ballett setzt ganz auf die Potenz des sanften schwulen Patriarchen John Cranko

Alicia Amatriain und Jason Reilly in John Crankos „Opus 1“: Die exquisiten Pas de deux darin sind absichtlich kompliziert und nachgerade akrobatisch gehalten. Foto: Stuttgarter Ballett

„Opus 1“ gehörte zu Crankos Lebzeiten zu seinen Erfolgsknüllern. Zu Musik von Anton von Webern 1965 uraufgeführt, entstand es orts- und zeitgleich mit Kenneth MacMillans „Das Lied von der Erde“ (Texte hierzu siehe „Stuttgarter Ballett“ hier im ballett-journal.de). MacMillan hatte Cranko viel zu verdanken: Die beiden kannten sich aus Jugendtagen im Ballettsaal in London, und als MacMillan ein Ballett zur Musik von Gustav Mahler machen wollte, fand er im konservativen England dazu keine Möglichkeit. Cranko gab ihm die Chance, das Mahler-Stück mit dem Stuttgarter Ballett zu erarbeiten, während er nebenan sein „Opus 1“ erstellte. Beides wurden Welterfolge, übrigens am selben Abend uraufgeführt.

Das Programmheft der Uraufführung beschreibt Crankos „Opus 1“ (dessen Betitelung mal wieder eine gewisse Hilflosigkeit des Choreografen suggeriert) als „Komposition mit Körpern“. Wie in MacMillans Stück geht es darin um Tod und Leben, um den Kreislauf von Werden und Vergehen.

Bei der Kantinenwirtschaft im damaligen Ballett in Stuttgart kann man sich denken, woher die stoffliche Ähnlichkeit von Crankos „Opus 1“ zu MacMillans „Lied von der Erde“ rührt. Interessant ist gerade die Unterschiedlichkeit der beiden choreografischen Kreationen: Der Cranko ist viel pointierter und zwar engmaschig gewebt, sozusagen, aber weniger abstrakt-fließend in den einzelnen Motiven. Cranko ist linear, MacMillan vertikal, wenn man so will.

Der Tanzwissenschaftler Heinz-Ludwig Schneiders ist zudem der Meinung, dass Cranko nie dichter an Maurice Béjart war als mit „Opus 1“. Mit einem Unterschied, so Schneiders: „Crankos ‚einsamer Mensch’ im ‚Opus 1’ ist nackt, Béjarts ‚einsamer Mensch’ in ‚La Symphonie pour un Homme Seul’ trägt Jeans.“ Das Moment der Abstraktion bis hin zur Transzendenz sei bei John Cranko somit um ein vieles stärker.

Dem Hauptpaar sind sechs weitere Tanzpaare zugegeben. Schlichte helle Kleidung und viel nackte Haut, vor allem bei den Jungs, sprechen für sich: Es geht um Purismus im existenzialistische Sinn.

„Elf Minuten für elf Jahrhunderte“ – so kalauerte Walter Erich Schäfer, um das Stück in Kurzform zu beschreiben.

Diesem Höhepunkt des Abends werden zwei Trouvaillen voraus gehen: Das „Konzert für Flöte und Harfe“ nach Mozartianischen Klängen wurde 1966 uraufgeführt und gilt als „Ballet blanc“, als „weißes Ballett“, für Männer. Es wurde seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr in Stuttgart getanzt – aus welchen Gründen auch immer. Hoffen wir, dass das Stück liebevoll Aufschluss über die Seele von John Cranko gibt, so, wie das jedes gute Stück Kunst über seinen Schöpfer tun sollte.

Denn das Stuttgarter Ballett lebt natürlich noch heute von Crankos Werk. Dass Cranko außerdem ein großer Förderer anderer Choreografen war und deren künstlerische Potenz und auch Konkurrenz so arg- wie angstlos und dafür sogar respektvoll akzeptierte, ist ein weiteres Verdienst von ihm – und es wird interessant sein, sich den Abend unter dieser Prämisse anzusehen: Welche Auswirkungen und Prägungen kamen von Cranko, also auch aus diesen vier kleinen Stücken?

John Neumeier, William Forsythe, Jiri Kylían und Uwe Scholz entstammten seiner Tänzerschar, und sie wurden ebenfalls, wenn auch in unterschiedlichem Maß, weltbedeutende Choreografen. Eine solche Ballung, eine solche Häufung von Talenten an einem Ort ist einzigartig – fast wirkt sie unheimlich, zumal, wenn man sich anschaut, wie inhaltlich magersüchtig spätere Choreografiegenerationen ausgefallen sind, gerade in Deutschland, wo man das Ballett mittlerweile so liebt.

Die zweite Pièce in „Alles Cranko!“ heißt „Aus Holbergs Zeit“, nach der Holberg-Suite, der Musik von Edvard Grieg. Grieg komponierte sein den Barock zitierendes Werk anlässlich des 200. Geburtstags des dänisch-norwegischen Dichters Ludvig Holberg 1884. Holberg war als Mensch noch interessanter denn als Poet: Er verfasste Romane, reüssierte aber vor allem als Geschäftsmann und Immobilienspekulant. Und das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts!

John Cranko ersann zu der geschilderten Musik einen dreiteiligen Pas de deux für Birgit Keil und Heinz Clauss: Entrée, Adagio und Coda entstanden unter großem Zeitdruck und lassen die zwei Seelen in einer Brust eines Menschen miteinander korrespondieren. Genialisch!

Der neue, vierteilige Abend beim Stuttgarter Ballett setzt ganz auf die Potenz des sanften schwulen Patriarchen John Cranko

Noch einmal „Opus 1“ mit einer typisch neoklassizistischen Pose, die an George Balanchine („Apollon Musagète“) erinnert. Foto: Stuttgarter Ballett

Das letzte Werk des Abends ist das beliebte Künstlerballett „Initialen R. B. M. E.“ von 1972 – es ist Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen gewidmet, deren Vornamensinitialen es trägt. Die vier Sätze des Zweiten Klavierkonzerts von Johannes Brahms sind jeweils einer dieser Personen zugeordnet. Crankos Lieblinge tanzen also seine Hommage an sie – delikat. Und in Marcias Stück, dem dritten Satz, gibt es sogar einen Pas de deux, den sie mit Heinz Clauss aufführte. Laut Cragun, der mit Marcia zeitweise verheiratet war, bevor er sich endgültig zu seiner homosexuellen Ausrichtung bekannte, sei „H“ (wie Heinz) der fehlende fünfte Buchstabe in der Titelreihung.

Die Homosexualität als verbotene, unterschwellig aber dennoch starke Triebkraft dürfte einen weiteren impliziten Fokus auf diese vier Ballette von „Alles Cranko!“ spannend machen. Das Leiden der Schwulen in den 60ern und 70ern – als man sie noch leichthin kriminalisieren und psychiatrisieren konnte, als zudem die Vergasung in KZs von Häftlingen mit einem rosa Winkel noch nicht weit zurück lag, und als die Homoszene gerade erst anfing, von Rechten der gleichgeschlechtlich Liebenden auf ihr Glück offen zu sprechen – mag den Werken John Crankos heimlich, aber spürbar zugrunde liegen. „Alles Cranko!“ – oder was?
Gisela Sonnenburg

Premiere am 30. April, dann wieder am 7., 11., 15. und 16.5. im Opernhaus Stuttgart

www.stuttgarter-ballett.de

 

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