Wer die Welt nicht verbessern will, hat in der Kunst nichts zu suchen. Ob Künstler oder Zuschauer: ein Minimum an Verantwortungsbewusstsein sollte vorhanden sein. Das Staatsballett Berlin bewies schon mit seinem erfolgreichen Streik für bessere Arbeitsbedingungen, dass es seine Macht für Meilenstein-Aktionen zu nutzen weiß. Wie zur Rache kamen daraufhin abstruse Pläne ahnungsloser Kulturpolitiker über die Truppe. Jetzt wehrt sich das Staatsballett Berlin („Save Staatsballett!“) heftig gegen die Vorhaben vom Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, und seinem Staatssekretär für Kultur, Tim Renner. Laut denen sollen nämlich in drei Jahren die Tanztheater-Choreografin Sasha Waltz und ein Jungdirektor namens Johannes Öhman die Compagnie von Nacho Duato übernehmen. Dann soll eine Art „Kunstsammlung“ aus dem Ballett entstehen, zitiert wurden von Waltz absurderweise Dürer und Ai Weiwei (die beide nichts mit Bühnentanz zu tun haben). Bei Duatos „Nussknacker“-Premiere in Berlin kulminierte der Schrecken über die angedrohte Fremdbestimmung des Balletts – und die Angst gebar mustergültiges Verhalten vor allem der Zuschauer.
Das Berliner Publikum verharrt nämlich keineswegs in Passivität, sondern will sich sein Ballett nicht kaputt machen lassen. Man kann dank ihnen von weiteren Meilensteinen der Demokratie sprechen! Eine angemeldete Demonstration und massenhaft Buh-Rufe für den Regierenden im Theater könnten Vorbild für die Kulturbesucher in ganz Berlin sein: wo immer Müller und Renner auftauchen, könnte ihnen das Volk so zeigen, wo der Hammer hängt.
Der Beginn ist sanft, wie so oft im Ballett. Allerdings ist das Theater vorm Theater gemeint: Eine angemeldete Demonstration zeigt zunächst nur ein paar nette Ladies mit selbst gemalten Schildern und T-Shirts, „Malakhov back!“, sie wollen Vladimir Malakhov, den vor zwei Jahren Geschaßten, wieder als Ballettchef haben – das ist gegen 18.30 Uhr der Tenor.
Aber dann! Die Gruppe der Demonstranten wächst, und mit ihnen die Vielstimmigkeit ihrer Inhalte. „Wir wollen Klassisches Ballett“ und „Kein Tanztheater!“ steht auch Schildern zu lesen, eines empfiehlt auch ganz drastisch: „Sasha weg“, gemeint ist Sasha Waltz.
Es ist eine fetzige Demo, es wird rhythmisch gestampft, fast getanzt, dazu erschallt ein Konzert aus Trillerpfeifen – und die nur einige Dutzend umfassende Truppe ist durchaus hübsch anzusehen, da kommt kein Quäntchen Depression noch Destruktion rüber.
Der Kampf um die Schönheit des Balletts hat hier einfach Drive – und dass die Welt mit Ballett schöner ist als ohne, dürfte da sogar für Muffel der hohen Tanzkunst sowie der Schönheit an sich außer Frage stehen.
Bewundernswert ist die Energie dieser Demonstranten. Keiner steht gelangweilt herum, sondern es wird im Takt skandiert, als hätte ein Chorleiter mit den Damen und Herren geübt.
Rabea Kuo, die Organisatorin der Demo, ist aber auch eine kesse Ausnahmeerscheinung! Auf hohen Hacken schicker Pumps ruft sie, dabei hüpfend und tänzelnd, so melodie- wie rhythmussicher die Anweisungen und Slogans, dass es eine Freude ist, ihr zuzusehen und ihrer tapferen Schar zu lauschen.
Ein bisschen echte Weiblichkeit kann die Welt eben doch schon mal ein Stück weit verändern – und zwar positiv!
Aber auch distinguiert dreinschauende Herren sind mit von der Partie. Sie halten wechselnde Forderungen auf Papier in den Händen, die viel Zustimmung von den Umstehenden und Passanten erhalten: „Hier kein Tanztheater!“
Oder: „Müller, korrigiere deinen Fehler!“
Und es heißt auch, knallhart und Schwarz auf Weiß:
„Müller, such dir einen anderen Job!“
Sowie: „Renner – Finger weg vom klassischen Ballett!“
Andere Plakate erklären hingegen regelrecht, was sie wollen. Dass für Ballett-Anfänger wie Waltz und Öhman kein Platz sei. Dass man das Staatsballett Berlin unterstütze und keine unsinnigen Experimente wolle. Auch eine zarte Liebeserklärung ans Staatsballett Berlin ist dabei: „Wir lieben unser Staatsballett!“
Alles in allem machen diese Demonstranten einen äußerst aufgeklärten und selbstbewussten Eindruck – und das herbei strömende Publikum goutiert und bejubelt die Aktion.
Nur die Touristen ohne Deutschkenntnisse müssen sich auf Englisch oder Russisch erfragen, worum es eigentlich geht.
Immerhin erfahren sie so von Vorgängen, die ihnen sonst wohl nicht mal im Traum einfielen. Wer hält es denn international schon für möglich, dass aus einem beliebten, angesehenen Ballettensemble eine Art „Kunstsammlung“ gemacht werden soll?!
Die große Mehrheit der Premierenbesucher ist sich da einig: Sowas muss und darf nicht wirklich sein. Das zeigte sich auch später, im Theater, als es zu Protesten gegen Müller reichlich Beifall aus allen Ebenen des Opernhauses gab, aus dem Parkett wie aus dem ersten und zweiten Rang.
Wer allerdings auf Nacho Duato folgen soll oder ob Duato nicht einfach eine zweite Amtszeit als Ballettintendant in Berlin bekommen solle – darüber sind sich die Zuschauer nicht so unisono klar.
„Sasha Waltz weg – Malakhov back!“ lautet einer der Schlachtrufe der Demonstranten. Und natürlich hat Malakhov mit Fug und Recht eine Lobby unter den Ballettfans. Immerhin hat er das Staatsballett Berlin als Gründungsintendant aufgebaut. Und er ist ohne plausiblen Grund von der Kulturpolitik gefeuert worden, mit ausverkauftem Haus und jubelndem Publikum bis zuletzt.
Für Nacho Duato allerdings ist die Situation auch merkwürdig. Er kam extra aus Russland, aus Sankt Petersburg, von dem hoch dotierten Ballettdirektorenposten beim Mikhailovsky Theater nach Berlin.
Er ist ein begabter Choreograf mit einer ganz eigenen ballettösen Ästhetik und einem Spürsinn für Inhalte – und er formt das Staatsballett Berlin seit zwei Jahren zusehens, passend für seine Stücke. Nach fünf Jahren wird dieser Vorgang so ziemlich vollendet und perfekt sein. Da macht es irgendwie gar keinen Sinn, den Kurs komplett zu wechseln.
Malakhov würde insofern als Chef dann sehr gut passen – auch wenn er manchen als zu soft und zu willkürlich in der Leitungsphilosophie in Erinnerung ist – als er mit Duato vor Jahren schon kooperierte und damals als Tänzer das Meisterwerk Duatos „Remanso“ in New York mit uraufführte. Sinn für die dann im Repertoire bleibenden Stücke von Duato hätte er also – und dass er als Macher von Klassik-Abenden ein absolut glückliches Händchen hat, bewies er vor wenigen Wochen mit seiner „Malakhov & Friends“-Gala im Berliner Admiralspalast.
Vielleicht bin ich da die Einzige, aber ich könnte mir eine Doppelspitze aus Nacho Duato und Vladimir Malakhov als Ballettintendanten für die Spielzeiten ab 2019/20 sehr gut vorstellen.
NACHO DUATO UND VLADIMIR MALAKHOV ALS NEUE DOPPELSPITZE?
Die beiden müssten nur etwaige Kriegsbeile begraben (auch unter Superkünstlern soll es soziale Kompetenzen geben) – und sie müssten eine klare Aufteilung befolgen.
Duato wäre demnach als Chefchoreograf für seinen eigenen Stil und seine Arbeiten, auch für eigene Neukreationen, zuständig.
Malakhov würde mit voller Lust der Klassik, Neoklassik und modernen Klassik frönen dürfen.
Für Stücke von Choreografen wie Marius Petipa, John Neumeier (den es dann vielleicht auch mal wieder in Berlin geben würde), John Cranko, Hans van Manen und bis hin zu Renato Zanello hat er zweifelsohne den richtigen Sinn, Qualität betreffend.
Gala-Abende wären den Berlinern dann auch wieder garantiert – sie lieben sie ja so sehr, und tatsächlich passen klassische Gala-Events als gelebte Manifeste für die ewigen Werte ganz vorzüglich in diesen stetig im Werden begriffenen Hauptstadthaufen, den die Berliner Kultur nun mal darstellt.
Da beide, Nacho Duato und Vladimir Malakhov, hochkarätige Ballettkünstler sind und das Staatsballett Berlin bestens kennen – und von den Tänzerinnen und Tänzern auch beide zurückgeliebt werden – kann man dann auf eine langwierige Neuorientierungszeit verzichten und sich auf Bewährtes verlassen. Zugegeben: Die Überraschungsmomente wären wirklich Überraschungen, aber ich bin mir sicher, sie würden kommen.
Mit ein bisschen „Hauruck“ und Über-den-eigenen-Schatten-Springen könnte so in meinen Tagträumen aus den beiden das perfekte künstlerische Team fürs Staatsballett Berlin werden. Also:
Go for Duato Malakhov!
Hm. Ich wäre gespannt darauf. Das Profil, der Glanz und das Können dieser Truppe vom Staatsballett Berlin bliebe erhalten, um sich, zur Freude seines Publikums, weiter entwickeln zu dürfen.
Auch der Mitarbeiterstab, allen voran die BallettmeisterInnen, könnten weiter das tun, was sie ganz hervorragend seit Jahren leisten!
Warum soll man ein Ensemble, das sich als so erfolgreich künstlerisch homogen erwiesen hat wie das Staatsballett Berlin, grob verändern? Man sollte es sanft und behutsam anfassen und sich über die weiteren Fortschritte freuen.
Natürlich würden bei Nacho und Vladimir ab und an die Fetzen fliegen, wie in jeder guten Arbeitsehe. Schon das Thema „Nussknacker“ würde bei beiden rote Ohren hervorbringen. Schließlich war Malakhov besonders stolz auf die einer Ausstattungsorgie gleich kommenden Bolschoi-Inszenierung, die er 2013 nach Berlin geholt hatte und die noch in der letzten Wintersaison schwer bejubelt lief. Aber vielleicht sind beide Männer doch auch erwachsen genug, um sich gegenseitig Zugeständnisse zu machen und gemeinsam einen exzellenten Spielplan zu gestalten – zu Gunsten des Publikums!
Verehrte Kollegen wie Dorion Weickmann etwa, die permanent nach Neuem Ausschau halten wollen, könnten sich außerdem genussvoll zurücklehnen und das von ihnen bereits beworbene Experiment „Doppelspitze im Ballett“ anschauen – etwas, worauf sie laut eigenen Kommentaren ja ganz viel Wert legen.
Eine demokratische Tanzcompagnie – und das ist das Staatsballett Berlin stärker als jede andere Truppe weltweit – hat sich in meinen Augen ein solches demokratisches, der Klassik und der klassischen Moderne verpflichtetes Modell verdient.
Und zwar mit den passenden Künstlern als Spitzenteam!
Sasha Waltz und Johannes Öhman sind hingegen derartig auf Avantgarde ausgerichtet, dass sie vermutlich den Stil von Nacho Duato nicht mal von dem von Marius Petipa aus dem 19. Jahrhundert unterscheiden könnten.
Insofern war es insofern gar nicht mal dumm, sie zur Premiere ausdrücklich einzuladen, und es gab Hinweise, laut denen sie beide auch den Besuch geplant hatten. Allerdings blieben sie dann doch lieber den Sprechchören und dem Ballett fern – ob man das nun als feige oder als verständlich oder auch gar nicht bewerten will, ist an sich egal.
Tim Renner jedenfalls ließ seinen avisierten Besuch vorab stornieren. Ich persönlich halte es dennoch für möglich, dass er im Publikum saß, etwa 4. Reihe im Parkett links – aber der Mann, den ich da im Halbdunkel sah, war vielleicht nur ähnlich im Profil und in der Frisur. Der Publikumsreaktion nach handelte es sich nicht um Renner – es gab weder Buhs noch Pfiffe bei seinem Anblick.
Aber Michael Müller! Er wurde reichlich damit bedacht!
Er ist ja selbst zugleich Regierender Bürgermeister und Kultursenator von Berlin. Es wird im übrigen endlich Zeit, dieses vor einigen Jahren kreierte experimentelle Konstrukt von Ämterhäufung wieder aufzulösen – der Streit um Waltz und Öhman zeigt das deutlich.
Müller saß indes beim „Nussknacker“ nicht im Parkett, sondern, ganz landesfürstengemäß, im ersten Rang.
Eine Zarenloge (die ja auch stets im ersten Rang, direkt der Bühne gegenüber angebracht ist) soll allerdings nicht wieder eingeführt werden in Berlin, soweit ich weiß – aber vielleicht tüftelt irgendwo schon ein findiges Architekturbüro an etwas Ähnlichem, um in einigen Jahren damit viel Geld und Ehr zu verdienen. „VIP-Loge“ statt „VIP-Longe“… Man kann nie wissen, heutzutage, zumal in einer Stadt, in der das Gerangel um Geld schier unanständige Ausmaße annimmt, und in der die Bauwirtschaft schon zu Zeiten von Walter und Anne Momper (Momper, SPD, war der Regierende zu Zeiten des Mauerfalls 1989/90) klammheimlich das Sagen hatte.
Klassisches Ballett ist der aktuellen Berliner SPD jedenfalls aus irgendeinem Grund eine Kunst mit sieben Siegeln – vielleicht sollte man auch wirklich endlich Ballettkurse in den Sportunterricht integrieren, ähnlich wie Musikunterricht, damit Kinder nicht nur lernen, was Völkerball und eine Tonleiter sind, sondern auch, was ein Plié und ein Port de bras so bringen. Das würde sehr vielen Kindern sehr gut tun – und außerdem Stellen schaffen. Allerdings für Ballettpädagogen, und nicht bei Bauarbeitern, die wohl traditionell SPD-Wähler sind.
Das Publikum, das öfter als einmal jährlich ins Ballett geht, weiß jedenfalls, dass die Liebe zum Ballett und die Kenntnisse darüber nicht vom Himmel fallen.
Auf Nacho Duatos „Nussknacker“, der ohne einen einzigen Schritt der Originalchoreografie von Marius Petipa aus dem 19. Jahrhundert auskommt, waren die Zuschauer da besonders neugierig, das Haus war ausverkauft, selbstverständlich – und die Spannung groß.
Trillerpfeifen und Klatschen begleiten ja die einstündige Aktion draußen – und sie fand drinnen ihre angepasste, minimierte Fortsetzung.
Die Deutsche Oper, dieses ehrwürdige Haus, erlebt doch in der Tat so manche nicht nur künstlerisch denkwürdige Vorstellung!
Denn man ging nach dem Einlass noch längst nicht zur normalen Abendordnung einer Premiere über.
Der Vorhang zeigt einen stilisierten Sternenhimmel auf schwarzem Grund, mit dem Sternenschriftzug „Der Nussknacker“ im Halbrund.
Eine Situation, wie gemacht für eine Rede! Wäre ich Regierender Bürgermeister und würde im ersten Rang sitzen, ich würde mich gern dort unten mit einem Mikrophon stehen sehen und eine festliche Ansprache halten hören.
Statt dessen taucht Nacho Duato, als Ballettintendant der Hausherr und als Choreograf der maßgebliche Schöpfer des Abends, auf.
In ziemlich tadellosem Deutsch begrüßt der gebürtige Spanier das Publikum, die Worte von einem Blatt Papier sichtlich bestrebt ablesend – und kaum spricht er den Namen von Michael Müller aus, um auf dessen Anwesenheit aufmerksam zu machen, da setzen Pfiffe und Buhrufe ein!
Mehrfach holt Duato tief Luft, um erneut zu sprechen – aber angesichts der nicht ihm, sondern eindeutig Müller geltenden Schmähbekundungen (so viele Buhs habe ich in der Deutschen Oper noch nie gehört!) gibt er auf. Aus allen Richtungen der Theatersitze kommen Buh-Rufe. Der Zorn auf Müller entlädt sich, lang genug war er aufgestaut!
Nach gefühlten fünf Minuten Krach wirft Duato seinen Kopf in den Nacken und geht mit dem Stolz der Spanier in den Beinen von der Bühne, sein weithin ungenutztes Redenpapier schwenkend.
Na! Für Michael Müller muss es ein Alptraum sein! Erst so viele Buhs und böse Pfiffe für ihn, in allen Tonarten, so scheint es… nun ja, das Ballettpublikum ist musikalisch und das Brüllen von den Bravi her gewöhnt.
Ja, und dann wird auch noch eine Rede abgebrochen… so etwas zu sehen ist wohl fast Folter für einen Berufspolitiker. Es ist der worst case, ein GAU – und weil Müller sich mit seiner inkompetenten Kulturpolitik diese katastrophalen Erlebnisse wirklich verdient hat, kann man sie ihm nur noch öfter wünschen. So lange, bis er sich sachkundige Berater und einen Staatssekretär für Kultur holt, der noch das Wörtchen „Respekt“ kennt.
Das Publikum jedenfalls kennt es. Als der Dirigent des Abends, der bewährte Ballettconnaisseur Robert Reimer, eintritt, brandet der Applaus hoch. Es ist, als spende man vorab gleich schon mal dem klassischen Ballett viel Applaus – und auch der Tatsache, dass im Ballett klassischerweise kein Tonband aufspielt, sondern eben ein großartiges Live-Orchester mit einem leibhaftigen Dirigenten.
Reimer beweist denn auch an diesem Abend, wozu das Orchester der Deutschen Oper Berlin, eines der besten der Welt, fähig ist. Was für ein Genuss ist es zu lauschen! Wie feinfühlig sind die Takteinsätze! Wie hervorragend koordiniert sind sie mit dem Tanzgeschehen auf der Bühne!
Und da gibt es später diesen Moment, als der Mäusekönig stirbt, da bricht in wenigen Sekunden die ganze traurige Wahrheit des Todes über die ansonsten eher niedliche Inszenierung herein – ein großer, emotionaler Moment dieses Abends ist das, dem Orchester und Robert Reimer zu verdanken.
Aber auch der Balletttanz berührt.
Duatos „Nussknacker“-Choreografie ist bewegend, mitreißend, sie öffnet die Sinne.
Vor allem der erste Akt ist elegant, witzig, pointenreich.
Es beginnt mit einem Vorspiel: Auf die Musik erzählt ein Sprecher aus dem Off, um was es geht. Es ist Weihnachten, und der etwas ungewöhnliche Patenonkel Drosselmeier wird den Kindern Geschenke nach Hause bringen… drei Marionetten werden vorm Vorhang bewegt, der Tänzer des Drosselmeier – fabelhaft vom starken, hoch gewachsenen Russen Rishat Yulbarisov getanzt – übt schon mal die Vorfreude.
Als der Vorhang hoch geht, bietet sich ein geschmackvolles Bild. Der riesige Weihnachtsbaum ist ganz mit Goldschmuck behängt, dahinter zeigt ein großes Fensterrund einen Ausblick auf Sankt Petersburg. Auch so manches Damenkleid – und es sind viele schöne Ladies auf der Bühne – glänzt in mattgoldenem Seidenoutfit. Abendkleider von etwa 1910 sind zu sehen, die Herren passend in Anzügen. Die Kinder – von jungen Tänzern dargestellt – tragen braune und grüne Cordtrachten, die Mädchen pfirsichfarbene, weit schwingende Kleidchen mit hoch gezogener Taille.
Die Belle-Époque-Idee erinnert an John Neumeiers „Nussknacker“, der indes keinen Heiligen Abend, sondern einen Kindergeburtstag zum Festanlass der Handlung nimmt. Aber auch er verlegt die Handlung in die Zeit um 1900 (das Uraufführungsjahr des „Nussknackers“ war 1892, in Sankt Petersburg). Allerdings ist die Neumeier-Ausstattung von Jürgen Rose, die man in Hamburg, München und Dresden schon mit auf dem Spielplan hatte, weitaus verspielter und dekorreicher als die von Jérome Kaplan, der für Nacho Duato 2013 in Sankt Petersburg seine gediegene, aber fast puristisch angelegte Bebilderung schuf. Wir sehen sie nun in Berlin, auf der großräumigen Bühne der Deutschen Oper – und wundern uns, warum die diversen „Nussknacker“-Varianten, die es allüberall so gibt, sich so selten auf Wesentliches konzentrieren, wie hier geschehen.
Es tut dem Auge mal ganz gut, keine überfrachteten Wohnzimmer mit Weihnachts-Gedönse ohne Ende zur „Nussknacker“-Musik zu sehen.
Der Schwerpunkt liegt so auf dem Tanz, und tatsächlich entstanden zum hier eher schnell als langsam gespielten bekannten Notenreichtum von Peter I. Tschaikowsky muntere, spitzfindige, schicke und vor allem auch erotische Tänze. Ein „Nussknacker“ ohne erotische Anspielungen geht ja gar nicht – und wo die Bolschoi-Version von Vasily Medvedev und Yuri Burlaka auf Symbolismen und zahlreiche historische Details setzte, kommt Nacho Duato mit seiner geschmeidigeren Körpersprache direkt zur Sache.
Und wenn die beiden tanzenden Marionetten, die in beiden Ballettversionen das Highlight der ersten Viertelstunde bilden, aus ihrem lebensgroßen Schrein treten dürfen, ahnt man bereits: Hier wird ein Beispiel für Mann und Frau gegeben, und ob es so schön ist oder nicht, darf im weiteren Ballettverlauf im Stillen noch diskutiert werden.
Der Junge hier ist eine Attraktion für sich: Alexander Shpak tanzte den Part sowohl in der Burlaka-Version als auch jetzt. Aber wie verschieden sind doch beide Auftritte! Bei Burlaka war schräg und grell, steil und schmissig, was hier fast menschlich einher kommt. Die Arme der Tanzpuppe – der bei Duato einen weißen Pierrot darstellt – stecken in überdimensionalen Ärmeln, ein Gag, der an Irrenhaus-Kleidung oder auch bloß an Kinderfantasie erinnert.
Das dazu gehörige Mädel trägt ein schniekes barock inspiriertes Outfit, es ist keine traditionelle Columbine, sondern eine muntere, zarte, leicht frivole Lady, die Krasina Pavlova da auffahren darf.
Die Ironie scheint augenzwinkernd dabei zu sein: „Wir tanzen zwar für euch, und wir machen das auch so schön wie möglich, aber wir wissen, dass es euch und auch uns eigentlich um etwas anderes geht.“ So könnte der Subtext des „puppigen“ Auftrittspaares lauten.
Die Jungs, die durchs Zimmer toben (Alexander Abdukarimov, Artur Lill, Vladislav Marinov, Ulian Topor, Wei Wang und Dominic Whitbrook als ihr wundervoll frecher Anführer Fritz), wissen zu springen und kraftvoll Freude zu verbreiten.
Die Mädchen (Giuliana Bottino, Maria Boumpouli, Mari Kawanishi, Alicia Ruben, Pamela Valim und Xenia Wiest) erhellen hingegen die Bühne mit ihren präzisen Hüpfern und Drehungen – es ist ein Corps, wie man es sich nur zu wünschen vermag.
Da ist so eine Max-und-Moritz-Stimmung im Raum, noch bevor die Hauptperson ihre ersehnte „Nussknacker“-Puppe bekommt: Iana Salenko im weiß gebauschten Mädchen-Outfit ist eine Augenweide – und sie tanzt die Clara, das Kind zu Beginn der Pubertät, mit einer Hingabe, als sei es die erste Hauptrolle, die man ihr anvertraut. Göttlich naiv und dennoch hintersinnig keck – einfach sehenswert!
In Burlakas Version tanzte sie übrigens auch, und auch dort war Marian Walter, ihr Ehemann, ihr Tanzpartner als Nussknacker-Prinz. Aber wo die sich am 19. Jahrhundert orientierende Version mitunter etwas steif wirkte, charmiert hier der Geist eines fröhlichen Flows.
Ich weiß nicht, ob der beim zweiten und dritten Sehen anhalten wird, aber beim Erstgenuss fühlt man sich durchaus beglückt von diesen akkurat auf Verliebtheit gepolten Tänzen.
Clara verliebt sich denn auch auf den ersten Blick, und zwar schon in den hölzernen Nussknacker, nicht erst in den lebendigen Prinzen, der ihrer verliebten Fantasie entspringt.
Rishat Yulbarisov als ihr Pate überragt sie um zwei Köpfe, was besonders gut zur Rollenverteilung „Onkel und Kind“ passt. Und wenn er sie hoch hebt, für den Spagatsprung, und weit mit ihr dabei geht, dann ist es, als lerne sie fliegen, durch ihn, mit ihm – und mit der Nussknacker-Statue in der Hand.
Hier gibt es anscheinend zwei Möglichkeiten: Sie kann den Nussknacker fest bei sich behalten oder im Sprung ebenfalls hoch werfen. Sie sollte sich für eine Variation entscheiden und die dann beide Male exerzieren – erst Hochwerfen, dann Einbehalten, das wirkt etwas unbeholfen.
Allein und mit dem Paten tanzt Clara aber allerliebst gedankenverloren um den kleinen Macker aus Holz herum… es ist schon klar, dass die Liebe sie dabei innerlich vollauf beschäftigt.
Ihr Bruder Fritz klaut ihr allerdings das begehrte Stück hölzerner Inspiration – und kriegt, wie immer im „Nussknacker“, den Kopf ab. Meister Drosselmeier repariert das wieder – und umso munterer ist der Tanz zwischen der Beschenkten Clara und dem Schenker, dem Paten.
Wenn Fritz es dann außerdem nicht lassen kann, mit dem Roller kreuz und quer durchs Wohnzimmer zu pesen, bis ein Lakai ihn völlig enerviert davon abringt, so hat diese aparte Szene gleich zwei Aspekte. Zum Einen illustriert sie die Wildheit des Knaben, zum Anderen zeigt sie aber auch, dass sich die Frau Mama zum Erziehen ihrer Kinder selbstredend zu fein ist in diesem Haushalt – und die Domestiken übernehmen die Aufzucht der Jugend.
So war es ja wirklich häufig früher, und so ist es auch heute wieder, in neureichen Kreisen überall auf der Welt, wo die Kindermädchen krass unterbezahlte Aupairs sind und praktisch für Kost und Logis rund um die Uhr zur Verfügung stehen.
Die moderne Sklaverei, die unsere Weltgesellschaft teilweise schon beherrscht, kann hier mal kritisch durchdacht werden…
Auch wenn dieses Ballett der Anmutung nach klassisch ist und von daher solche Probleme nur anreißt und nicht löst: Es ist doch wunderbar, wie wenig flach und einfältig solche Libretti und Szenen sind – und das Publikum genießt sichtlich und hörbar (mit viel Szenenapplaus) die Vielschichtigkeit, die klassisches Ballett hat, im Gegensatz zu den zeitgenössischen Tanzreigen, wie Sasha Waltz sie sich ausdenkt.
Wie schon in „Dornröschen“ erfand Nacho Duato zudem eine klassisch anmutende moderne Formensprache, die Petipa zwar nicht wörtlich zitiert, die viele seiner Dreh-, Schleif- und Hebefiguren aber paraphrasiert. Der Geist von Marius Petipa ist also anwesend – wenn er auch aus sicherer Entfernung nur zuzuschauen und bestenfalls einige Zeichen und Signale zu geben scheint.
Ein weiteres Highlight – nach Claras Auftanzen mit dem Nussknackermännchen – sind dann die Mäuse und ihr Mäusekönig.
Clara träumt sich nachts unter den Weihnachtsbaum (der jetzt realistisch klein, also knapp mannshoch ist). Im Arm hält sie natürlich ihren neuen Nussknacker umklammert.
Doch da rücken zur Geisterstunde die bösen Mäuse an, widrige Geschöpfe, die sich dennoch rattenscharf zu bewegen wissen. Sie könnten von Carabosses Gefolge entlaufen sein, also aus Duatos „Dornröschen“ in die Sphäre des „Nussknackers“ gewechselt haben.
Ihr Mäusekönig ist gierig und geil – und leckt sich nach dem kleinen Nussknacker schon beide Pfoten.
In aufregendem, schön anzusehenden Hin und her jagt der Mäusekönig schließlich der verängstigten Clara den Nussknacker ab, will ihn regelrecht vernaschen – eine kluge Anspielung auf die Gefahr der Pädophilie, die möglicherweise auch von Drosselmeier ausgehen könnte und die Clara im Traum verarbeitet.
Dieses Negativbild einer Heldenfigur, also der Mäusekönig, ist entsprechend in Schmutzfarben gewandet, und seine Krone sieht aus, als habe er sie schon lange nicht mehr geputzt. Auch das eine Anspielung auf etwaige „unordentliche“ sexuelle Aktivität – nur so macht dieses nächtliche Getier in einem Märchen für Kinder und Erwachsene ja auch Sinn.
Der smarte Nikolay Korypaev tanzt den Mäusekönig mit gebührend agiler, aber auch pervers anmutender Laszivität. Bravo! Endlich mal keine Walt-Disney-Version!
In höchster Not rennt Clara mit dem Nussknacker unterm Arm in die Kulissen, und als sie wieder raus kommt, ist ihr Männchen ein Stückchen größer. Beim nächsten Run ist er noch größer geworden, bis er schließlich eine fast lebensgroße Puppe wurde. Und dann – kommt Clara mit ihm als lebendem Partner Hand in Hand auf die Bühne – eine entzückende Szene.
Aber noch ist er steif und marionettenhaft, und erst einige Berührungen von Clara machen aus ihm einen vollwertigen Mann und geschmeidigen Tänzer. Vor allem aber muss er kämpfen – und den Mäusekönig abstechen. Das gelingt – und als der Gegner tot daliegt, schleicht sich über die auf einmal gar nicht mehr szenisch lustig übertreibende, sondern sehr schlicht und tragisch werdende Musik ein starker Moment der Trauer ein.
Doch der Nussknacker-Prinz muss noch mehr können als den Feind zu killen. Unter seiner Maske kommt ein hübsches Mannsbild zu Tage – und dann bahnt sich die Lovestory an, die Clara sich nun mal für sich erträumt.
Hui! Da gleiten die beiden über die Bühne, als sei ihnen nie etwas Schöneres passiert. Es gibt spektakuläre Hebungen mit Drehungen, ein „Fisch“-ähnliches Positionieren der Frau, ein hübsches Sich-stets-Anlächeln…
Man darf dahin schmelzen…
Clara ist dabei schwer verliebt, ihr Prinz aber hält sich angenehm zurück statt zu drängeln, wie es sehr jungen oder sensiblen Frauen gegenüber auch angebracht ist. Ballett als Flirtschule… warum nicht?
Im Wald, in den sie sich getanzt haben, gibt schließlich auch die Natur ihren Segen zu dieser First Love.
Ein Sternenhimmel illuminiert den Hintergrund, davor tanzen in plastikschillernden hellen Röckchen die Eiskristalle – wie Schneeflocken sehen sie eigentlich nicht aus.
Iana Balova, Krasina Pavlova, Ekaterina Petina (die glücklich aus München vom Bayerischen Staatsballett nach Berlin wechselte, dazu herzlichen Glückwunsch!), Julia Weiss, später auch Guiliana Bottino, Julia Golitsina, Marina Kanno, Danielle Muir, Jordan Mullin, Christiane Pegado, Katherine Rooke, Aoi Suyama, Pamela Valim, Luciana Voltolini (die im zweiten Akt noch sehr angenehm auffallen wird!), Pauline Voisard und Patricia Zhou tanzen ohne Härte, aber mit der erwünschten Weichheit diese Naturelemente, die vielleicht eher ein erfrischender Schneeregen sind als die klassischen knallweißen Flöckchen, die man sonst an dieser Stelle im „Nussknacker“ sieht (bei John Neumeier übrigens gar nicht, bei allen anderen mir bekannten „Nussknackern“ aber eben schon).
Kugelige Leuchtkörper in den Händen der Tänzerinnen machen den Traum von Glühwürmchen im Winter wahr – das ist nah an der Grenze zum Kitsch, aber das waren die süßen Engelskinder von Medvedev / Burlaka, die Kerzen in den Schnee trugen, mindestens genauso. Ein bisschen zuviel Zucker gehört halt zum „Nussknacker“ wie das Amen in die Kirche.
Am Ende des ersten Akts sitzt das Liebespaar jedenfalls beglückt im Schnee bzw. im Lichtkegel, von oben fallen auch ausnahmsweise ein paar Flocken (wozu nicht ganz passt, dass der Sternenhimmel zuvor so klar war) – nun ja, und dass man in einem Jungmädchentraum ist, weiß man spätestens jetzt mit Sicherheit. Vorhang! Pause! Sekt oder Selters!
Nach dem letzten Klingelzeichen dann wieder eine Überraschung im Parkett: Rabea Kuo hält noch einmal kurz ihr Plakat hoch, in Richtung Michael Müller im ersten Rang – und ruft seinen Namen. Das genügt schon, um den Regierenden sichtlich in Schrecken zu versetzen, er erblasst. Kuos Rufe, Sasha Waltz müsse weg, werden vom Publikum unterstützt, es wird geklatscht, gejohlt und im Takt mitgewippt – und die Harmonie, die von solch einer Aktion ausgehen kann, ist wahrlich nicht zu unterschätzen, wenn auch unerwartet. Das Publikum hat sich so nicht nur in Stimmung gebracht, sondern sich auch geeinigt: Man möchte weiterhin „normales“ hochkarätiges Ballett hier in Berlin sehen, und man möchte weder ein Abgleiten in Unterhaltungszirkus noch einen avantgardistischen Mischmaschbrei. Punkt.
Robert Reimer profitiert wieder von der Lust, die klassische Kunst zu würdigen, und wird mit stürmischem Beifall empfangen. Der Dirigent geht in Stellung – und los geht’s, auf in den zweiten Akt!
Als der Vorhang nach einigen Minuten Ouvertüre hochgeht, sitzt das Liebespaar noch immer oder schon wieder versonnen im Schnee, uns wieder die schönen Rücken zukehrend. Als sie aufstehen, kreuzt ein anderes Paar ihren Weg – und noch eines und noch eines… die Welt ist voller Menschen, begreifen die Verliebten.
Alsbald spult das Folklore-Ballett-Programm aus dem „Nussknacker“ ab, ohne weitere Rahmenhandlung, einfach nur als Traum-Nummern im Märchenwald, und da vermisst man dann doch eine weitere szenische Aktion.
Auch wenn die Idee Duatos, die Folklore-Nummern als Freudentanz der Spielzeuge über den Sieg über den bösen Mäuserich bezeichnen zu lassen, ganz entzückend ist: Im Vergleich zu all den familiären und psychoanalytischen Deutungsmustern, die herkömmliche „Nussknacker“-Varianten direkt oder indirekt anbieten, fehlt hier was.
Bei Aaron S. Watkin in Dresden, an der Semperoper, etwa gibt es die Zuckerfee, als Regentin, und sie hat einen Gemahl, mit dem sie über ein ganzes Reich herrscht. Das hat schon seinen Sinn, zumal eine Krone aus diesem Reich später beim Erwachen der kleinen Träumerin auch noch eine Rolle spielt. Dadurch hat das Ballett mehr „Fleisch“, ist kein reines Nummernabdudeln, hat psychologischen Feinsinn.
Bei John Neumeier hingegen ist es der Traum an sich, der so besonders ist: Sein kleines Mädchen träumt nicht nur von der Liebe, sondern auch von der aufregenden Welt des Theaters. Die Theater-im-Theater-Szenerie mit einem Ballettsaal hinter den Kulissen, aber auf der Bühne und zahlreichen Anspielungen und Zitaten aus anderen Zusammenhängen bietet schlichtweg viel Beschäftigung an.
Bei Nacho Duatos zweitem „Nussknacker“-Akt aber muss man sich sehr viel selbst denken – und die Szenerie ist zu karg, um deutliche Hinweise zu geben.
Allerdings tanzt Clara, wie auch in Medvedev / Burlakas Fassung das große Solo der „Zuckerfee“ selbst – und die Celesta, die es begleitet, hat somit ihren historischen Klangauftritt, denn sie tat es nie zuvor in einem großen sinfonischen Werk, Tschaikowsky war der erste Komponist, der sich das traute. Das erklärt jedenfalls Robert Reimer im Werbetrailer des Staatsballetts für diesen „Nussknacker“ von Duato.
Die folkloristischen Highlights („Charakter-Tänze“) haben dennoch jedes für sich hohen Wert.
Da gehört die Bühne für ein paar Minuten dem feurigen Temperament von Sarah Mestrovic und Cameron Hunter, der sie ausgezeichnet partnert. Mestrovic tanzte auch bei Burlaka die Spanierin, jetzt aber darf sie in einem wunderbar mondänen, tomatenroten Seidenkleid eine echte Femme fatale abgeben. Das ist mehr als Pseudo-Flamenco, das hat Pep und Soul und geht, so fetzig es ist, unter die Haut.
Julia Golitsina und ihre Kavaliere Alexander Abdukarimov und Dominic Whitbrook bezaubern dann aber auch sehr stark mit ihrer arabischen Nummer: Golitsina ist biegsam wie ein Schlangenmensch und lässt sich mit aller gebotenen Erotik auf die Szene zu dritt ein. Wow.
Munter und spritzig dann die beiden chinesischen Paare (Marina Kanno, Patricia Zhou, Vladislav Marinov – ein bereits erfahrener „Chinese“ – und Wei Wang). Dumm nur, dass der Sonnenschirm, den Drosselmeier hierzu hoch hält, zwar überdimensional ist, aber keinen Schirm hat, sondern nur Speichen. Was soll das bedeuten? Dass Attrappen auch toll sind? Wenn man sich gegen Sonne oder Regen schützen will, sicher nicht…
Überhaupt ist die Idee, hier symbolhafte Riesenrequisiten als wandlungsfähiges Bühnenbild einzusetzen, nicht klug genug umgesetzt. Zu Symbolhaftigkeit gehört eben auch ein gemeinter Inhalt, nicht nur eine beliebig gefällige Form. Und da hapert es hier… Ein Riesenhandfächer hinter dem Spanischen Tanz mag ja noch angehen, er hat auch etwas Bedrohliches, das vielleicht auf die wechselvolle spanische Geschichte referieren soll. Aber alle anderen Objekte – darunter ein Riesenmuffin für das in zuckergussrosa walzernde Ensemble und eine leuchtende Schlange in Drachenformat – wirken belanglos, aufgesetzt, nach Kinderkram. Aber auch Kindern kann man sinnvolle Symbolik zumuten, viele Kindertheaterstücke und Inszenierungen etwa der „Zauberflöte“, aber auch vom „Nussknacker“ haben das bewiesen.
Da galt dann Medvedev / Burlakas „Konfitürenburg“ doch viel mehr, so knallbunt und quietschig grell die Kulissen auch daher kamen. Sie hatten bedeutungsvolle Details!
Wenn ein Mädchen, das sich gerade in eine Fantasiegestalt verliebt hat, nur noch von einer Art glücklichem Multikulti-Karneval träumt, dann fehlt da jedoch die Verbindung zu ihren früh pubertierenden Herzenswünschen. Man hätte Clara ja Erfahrungen machen und jetzt erinnern lassen können. Dann wüsste man, woher ihre Wünsche kommen. Oder man baute – was viele „Nussknacker“-Choreografen sinnvollerweise machen – Versatzstücke von Claras familiärer Realität ein. Die muss nicht immer nur rosig sein… Patrice Bart hat die Geschichte mit der Ermordung der Zarenfamilie gekoppelt. Keine nur glückliche Lösung, aber eine interessante.
Oder man lässt Claras Traum von einem weiteren Traum ergänzen, und dieser muss natürlich symbolisch oder handlungstechnisch motiviert sein.
Vielleicht könnte Nacho Duato hier im zweiten Akt noch mal nachbessern? Man wagt ja kaum danach zu fragen, so unüblich ist es geworden, dass Choreografen und Regisseure sich selbst sprich ihre Werke nach der Premiere noch ändern. Schließlich: Wie soll das dann abgerechnet, also bezahlt werden?
Aber Duatos „Nussknacker“ würde viel gewinnen, wenn der zweite Teil mehr Schmackes und mehr Handlung und auch mehr Personal auf der Bühne hätte.
Immer nur die Solisten in ihren Nummern zu sehen, ist einfach nicht genug für eine ganze Hälfte eines abendfüllenden Balletts.
Wiewohl die Musik und der Tanz an sich durchaus Gala-Wert haben.
Sehr schön hier auch: die vier russischen Matrosen Alexander Akulov, Arshak Ghalumyan, Konstantin Lorenz und Alexej Orlenco. Ihre Kostüme fielen etwas mau aus, was der Sache die Luft ablässt, aber ihre Sprünge, die an die Kosakenjungs in John Crankos „Onegin“ erinnern, sind raffiniert miteinander verflochten, und die Idee, russische Matrosen als Ikonen der Männererotik auf die Bühne zu stellen, ist durchaus gut.
Noch besser gelingt aber choreografisch wie auch tänzerisch der große Walzer (im Original ist es der „Blumenwalzer“), der vom dann 24-köpfigen, also zwölfpaarigen Corps ganz hervorragend dargeboten wird, mit Hebungen und Wendungen und Paartanz – und allem, was gefühlsmäßig dazu gehört, er ist ein Augenschmaus!
Die Arabesken darin sind genau getimet!
Den absoluten Höhepunkt hier bieten dann aber nicht erst Iana Salenko und Marian Walter in ihrem ganz klassisch orientierten Grand Pas de deux.
DIE TOTALE ÜBERRASCHUNG: KÉVIN POUZOU UND LUCIANA VOLTOLINI – EIN NEUES SUPERPAAR!
Sondern schon Luciana Voltolini und Kévin Pouzou bieten als so genanntes „Französisches Paar“ ein Stück Spitzenballett vom Allerfeinsten. Was für eine Überraschung!
Ganz in Weiß, mit Maskeradenzitaten angetan, spielen sie mit der Liebe in der Art des Rococo – und sie tanzen dabei so geradeaus, so graziös, so herzlich und so herzbewegend, dass sie einen wirklich direkt in den siebenten Himmel des Balletts hoch tunen.
Die Premiere war mit diesem Stück so fantastisch geprobt, dass man sich schon allein deshalb glücklich wähnte, in der Vorstellung zu sein.
Das ist erstklassiges Ballett hier mit Voltolini und Pouzou, sie müssen hart dafür gearbeitet haben, und es hat sich gelohnt: ohne Angeberei, ohne Effekthascherei, aber mit so viel Schmelz und Zartheit, mit so viel Anmut und Fürsorge, mit so viel Akuratesse und Balance und Geradheit und Synchronizität – mit so vielen bildschönen Linien, dass man es unbedingt gesehen haben muss.
Ein neues Superpaar erobert hier die Herzen der Ballettfans – der superheftige Applaus hat gezeigt, dass meine Einschätzung dieser großartige dargebotenen Kleinigkeit keineswegs einsam ist. Toll! Wuff! Davon will man mehr sehen, unbedingt!
Iana Salenko und Marian Walter, die dann den Grand Pas de deux tanzen, haben natürlich auch ihre Vorzüge, zweifellos!
Die Sprünge von Marian Walter sind unerreicht in ihrer Feinheit bei schönster Spannung, während Salenkos Pirouetten sowieso bereits Ballettgeschichte geschrieben haben.
Am Ende muss er wieder zurück in sein Puppendasein, zwei Walzer-Jungs tragen ihn von dannen. Clara ist davon nicht entsetzt – sondern weiß, dass sie träumte, um selbst davon zu profitieren.
Liebevoll und gar nicht wütend hält sie darum den Holz-Nussknacker bald wieder im Arm, sich auf die Zukunft mit der Zuversicht der Jugend freuend… als der Morgen graut.
Das ist als Libretto nicht dumm, aber eben nicht ausreichend für all die Musik, all die Möglichkeiten, die eine zweite Hälfte vom „Nussknacker“ hat.
Schauspielerisch reißen Salenko und Walter allerdings sehr viel heraus.
Man kann man den beiden nichts mehr vormachen, sie können jedes noch so dünne Libretto menschlich darstellen.
Hier ist es so: Walters Nussknacker ist ein intelligenter, kraftvoll-lyrischer, aber keineswegs machohafter Kavalier, und Salenkos Clara ist eine gefühlsstarke, neugierige werdende Frau. Das passt natürlich hervorragend zusammen!
Aber man erwartet von diesen beiden Granaten der Klassik eben auch genau dieses, nämlich höchste Qualität. Sie gastieren international, zusammen und mit anderen Partnern, und überall werden sie bestaunt und bejubelt. Nicht umsonst…
Salenkos „Don Quixote“-Gala-Darbietung mit Dinu Tamazlacaru ist übrigens vermutlich die beste, die es seit Bestehen dieses Balletts je gab – und zudem tanzt sie auch als Principal beim Royal Ballet in London, hat also auch außerhalb des Ballettlands Deutschland redliche Mega-Fans.
Marian Walter ist als Gala-Gast von Moskau bis Luxemburg berühmt – und mit seiner Frau Iana Salenko tanzt er, selbstredend, besonders gern. Wer die beiden noch nie im Berliner „Schwanensee“ zusammen sah, hat was verpasst!
Wenn Sasha Waltz nun wirklich als Chefin zum Berliner Staatsballett kommen sollte, wird dieses Paar wohl ganz schnell Leine ziehen – so hat es Marian Walter bereits auf seinem Facebook-Account angekündigt.
Und was für ein Verlust das für die deutsche Hauptstadt wäre, lässt sich auch bei diesem „Nussknacker“ ablesen.
Der begeisterte Beifall des Publikums in Berlin galt denn auch nicht nur den Protagonisten des Abends sowie seinen schöpferischen Künstlern – er galt auch dem klassischen Ballett insgesamt, das sich diese so oft besetzte und vergewaltigte Stadt nicht auch noch nehmen lassen wird.
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“ oben
Zum Bericht von der Zweitbesetzung:
www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-nussknacker-vieira-ovsyanick/
Zur Starbesetzung mit Maria Eichwald:
www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-nussknacker-maria-eichwald/
Texte zum „Nussknacker“-Vergleich hier unter „Hamburg Ballett“, „TV-Termine“ und „Semperoper Ballett“
www.change.org/p/rettet-das-staatsballett-save-staatsballett