Ein Kuss für die Ewigkeit Polina Semionova und Marian Walter brillieren in „Dornröschen“ von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin

Dornröschen mit Polina Semionova in Berlin

Seligkeit auch beim Schlussapplaus: Michael Banzhaf, Sarah Mestrovic, Elena Pris, Arshak Ghalumyan, Wei Wang, Polina Semionova und Marian Walter nach „Dornröschen“ mit dem Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist eine so symbolische Szene: Marian Walter als Prinz bahnt sich den Weg durch diesen ominösen Zauberwald, geleitet von Feen, allen voran von der entzückenden Fliederfee (Sarah Mestrovic). Und fast ist er am Ziel, bei seiner Liebsten, dem schlafenden „Dornröschen“, das er indes aus seinen Visionen schon bestens zu kennen meint, ach, und er ahnt schon die Süße ihrer Küsse nach dem beschwerlichen Weg – da bricht mit der bösen Fee Carabosse (nachgerade diabolisch göttlich: Rishat Yulbarisov) alles Übel der Welt auf ihn herein, es wird ein Kampf auf Leben und Tod, so kurz vor der Erlösung einer seit hundert Jahren die Welt verschlafenden Prinzessin… Das Staatsballett Berlin bietet mit „Dornröschen“ in Starbesetzung, zumal mit der bezaubernden Polina Semionova in der Titelrolle, alle kindgerechte Action und psychologische Spannung, aber auch Tiefsinn und Philosophie auf den zweiten Blick, die ein klassisches Handlungsballett haben sollte.

Nacho Duato, Ballettintendant Berlins und Choreograf dieser die Urchoreografie paraphrasierenden, modernisierenden Version von „Dornröschen“, lässt die Handlung sich langsam steigern, bis zu diesem Punkt (mehr über die Inszenierung auch hier: www.ballett-journal.de/die-neue-schoenheit-der-noblesse/).

Im ersten Akt sehen wir, wie das Königspaar seinen Hofstaat regiert und die Taufe seiner Tochter Aurora feiert. König Florestan wird getanzt von Michael Banzhaf, dem Berliner Kammertänzer, der seinen Titel etwas zu spät, aber immerhin doch erhielt (siehe auch hier: www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-michael-banzhaf-kammertaenzer/), seine Gattin tanzt Elena Pris, die die Rolle mit Akzent auf Repräsentanz anlegt.

Und schon hier hat Carabosse ihren ersten, Furcht erregenden Auftritt: Sie wird flankiert von sechs animalischen Kreaturen, die sie auffangen und heben, drehen und ihre Macht verstärken.

Alexander Abdukarimov, Taras Bilenko, Joaquin Crespo Lopez, Artur Lill, Lucio Vidal und Wei Wang bilden hier die passende Entourage für Rishat Yulbarisov, und all der schwarze Glamour, die diese unheilvollen Sieben umgibt, spiegelt sich in ihrem expressiven, showtauglichen Tanz.

Dornröschen mit Polina Semionova in Berlin

Rishat Yulbarisov nach „Dornröschen“: eine Carabosse zum Staunen! Foto: Gisela Sonnenburg

Ja, das Böse – es hat eine Lust zu zerstören und sich selbst in Szene zu setzen, es ist nicht talentlos, klein und mickrig, sondern, im Gegenteil, es ist prachtvoll und verspielt und so richtig schön dekadent, von oben bis unten.

Dem steht das edelmütige, sanfte, dennoch starke Mädchen Aurora entgegen.

Polina Semionova, die im ersten Akt die Prinzessin an ihrem 16. Geburtstag mit unerhörter Grazie und wunderbarem Charme tanzt, höchste Akkuratesse mit schwungvoller Schnelligkeit verbindend, ist sicher für viele Ballettfans ein Grund mehr, sich dieses „Dornröschen“ erstmals oder erneut anzuschauen. Die Gastballerina beim Berliner Staatsballett, die hier auch ihre Karriere einst begann, enttäuscht ihr Publikum denn auch nicht.

Szenenapplaus für La Semionova!

Sie hat einfach ein unverwechselbares Flair, ein Lächeln, das sich auf ihren ganzen geschmeidigen Körper erstrecken kann.

Ihre Ports de bras sind von allen Seiten formschön und edel: Sie ist ein Musteranblick für die segensreiche Harmonie des klassischen Tanzes.

Ihre Füße sind dazu von so delikater Schönheit – und Präzision in den Bewegungen – dass man den Blick nicht davon abwenden kann, wenn eines dieser beiden Fleisch gewordenen Wunderwerke durch die Luft wirbelt.

In Soli wie in den Pas de deux beweist Polina, dass sie ihren Ruhm, eine der weltbesten Tänzerinnen ihrer Generation zu sein, durchaus zurecht einheimst.

Ach ja, die Pas de deux!

Zunächst begegnet Aurora ihrem Prinzen Desiré als Vision.

Dornröschen mit Polina Semionova in Berlin

Sarah Mestrovic tanzt die Fliederfee in „Dornröschen“ mit so viel Ausdruck und Balance, dass sie lebhaft im Gedächtnis bleibt! Hier beim Schllussapplaus in der Deutschen Oper Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Denn nachdem Aurora sich an einer Nadel der bösen Fee gestochen hat und für hundert Jahre in tiefen Schlaf versank, leistet die liebevolle gute Fee, die Fliederfee – mit der Sarah Mestrovic zweifelsohne eine Rolle ihres Lebens von Nacho Duato auf den schönen Leib choreografiert wurde – dem schlafenden Mädchen freundschaftliche Vermittlungsdienste.

Da ist doch dieser nette hübsche junge Mann von Adel, der sich von seiner mit sich und der Welt zufriedenen Jagdgesellschaft leicht gelangweilt fühlt, und der irgendwie den Ruf nach Höherem in sich verspürt?

Ihm führt die Fliederfee die Vision von Aurora vor; Aurora erscheint, und mit neckischen, mädchenhaft-erotischen Attitüden erobert sie ihm Nu Desirés Herz.

Marian Walter ist ihr aber auch ein Zuckerprinz von Herzensgnaden!

Wie er sie umwirbt, mit Blicken, mit Gesten, und dennoch nie seine Würde verliert!

Und wie er springt! Wie ein Jüngling der Antike, zeitlos schön und dabei so anmutig wie ein Vogel im sanften Flug.

Die Liebe darzustellen, liegt diesem Danseur noble par excellance sozusagen im Blut!

Dornröschen mit Polina Semionova in Berlin

Ein Paar von Weltklasse, das für Harmonie und Stärke steht: Polina Semionova und Marian Walter nach „Dornröschen“ in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Er und Semionova bieten aber zudem auch etwas, das nicht jedes Paar zu bieten hat: Kontraste, die sich nicht stören, sondern die die Stärken der einzelnen Partner sich gegenseitig potenzieren lassen in der Wirkung.

Ein wunderbares Paar! Stärker noch als in „Giselle“ harmonieren hier die Seelen und Körper, und obwohl sie privat beide glücklich anderweitig liiert sind, vermögen sie doch für die Dauer dieser Aufführung ein Paar zu sein.

Und wenn Marian Walter seine Polina Semionova in die Luft hebt, dann geschieht das scheinbar so sehr ohne Mühe, dass man beiden schon dafür am liebsten einen Preis geben möchte.

Die klassischen Grand-pas-de-deux-Attraktionen meistern beide ohne Probleme, mit viel Vergnügen am Detail – und wäre da nicht das Rosen-Adagio an Auroras Geburtstag gewesen, so hätte dieser Prinz überhaupt keinen Grund zur Eifersucht.

Aber Dominic Hodal, Alexej Orlenco, Kévin Pouzou und Olaf Kollmannsperger waren so adäquat entzückende Prinzen, dass sie La Semionova zu einem weiteren unvergesslichen Höhepunkt der Aufführung verhalfen. Jeder lässt sie in der Attitüde mit bester Unterstützung das freihändige Frausein ausprobieren.

Wie neckisch leicht es sich doch unverbindlich flirten lässt, wenn man Prinzessin ist und keine Sorgen hat, wenn man gerade 16 Jahre alt ist und zudem die Füße von Polina Semionova sein eigen nennen darf!

Aber küssen darf schließlich nur der richtige, der von der Fliederfee und Auroras Geist erwählte Prinz Desiré die holde Maid!

Dornröschen mit Polina Semionova in Berlin

Applaus nach „Dornröschen“ mit Dirigent Robert Reimer im schicken schwarzen Outfit, hier hinter Sarah Mestrovic in Flieder und nicht zu verwechseln mit Carabosse-Tänzer Rishat Yulbarisov…. Foto: Gisela Sonnenburg

Sein Kuss ist einer für die Ewigkeit, er holt Aurora mit der Liebesbekundung der Lippen aus einem anderen Reich, einer anderen Sphäre zurück in die Realität – und er verbindet sich ihr damit für die Zukunft, ohne Aussicht auf eine Scheidung oder dergleichen.

Der Unendlichkeit wird vor der Folie des hundertjährigen Schlafes hier nochmals ein besonderer Nimbus verliehen. Marius Petipa, der Erschaffer der Urfassung von „Dornröschen“ von 1890, nahm sich mit der Märchenvorlage von Charles Perrault ganz und gar keine dumme Liebesgeschichte vor.

Und wie immer bei Tschaikowsky hat auch hier die Liebe etwas Jenseitiges, bildet ein so großes Glück, dass sie über die blanke Realität weit hinaus deutet.

Ist mit dem glückseligen Hofstaat am Ende gar das Paradies gemeint?

Nun ist das Libretto ja hintergründig und legt die Braut erst für ein Jahrhundert allein ins Bett, bevor der zukünftige Ehemann dort antreten darf.

Nach der bestandenen Feuerprobe, in der sich die Liebe gegen das Böse durchsetzen muss – mit der liebreizenden Hilfe der Fliederfee kann das gut gelingen – kommt es dann auch zum alles entscheidenden Kuss.

Aurora lagert auf einem schräg nach vorn abfallenden großen Bett (in dem gefühlt nicht nur der Prinz, sondern auch noch Carabosse und ihre Entourage Platz hätten) – und der Prinz küsst sie zart, aber unwiderruflich wach.

Polina Semionova erwacht nun nicht einfach und ist begeistert. Sie guckt erschrocken, und zunächst wendet sie sich leicht ab, den Eindringling in ihre Tiefschlafwelt misstrauisch beäugend.

Ah, aber er hat gar zu treuherzige Blicke!

Dornröschen mit Polina Semionova in Berlin

Hier steht Carabosse, also Rishat Yulbarisov im schwarzen Fummel, ganz rechts, daneben das „Blaue Vogel“-Paar Marina Kanno und Dennis Vieira und links Arshak Ghalumyan. Applaus beim Staatsballett Berlin nach „Dornröschen“! Foto: Gisela Sonnenburg

Einem Marian Walter könnten wohl die wenigsten widerstehen, und von allen Prinzenrollen, die er schon tanzte („Nussknacker“ in diversen Fassungen, „Schwanensee“ in der von Patrice Bart…) ist die des Desiré diejenige, die ihm am allerbesten liegt.

Er hat die Partie ganz von innen her begriffen und für sich adaptiert, das sieht man – er ist der umtriebige Prinz im Wald mit seinen Gefährtinnen und Gefährten, die ihm doch nicht genug sein können. Er ist der neugierige Spiritualist, der sich auf die Fliederfee einlässt, als sei sie ihm schon sehr vertraut, als sie ihm erstmals erscheint. Er ist der Kämpfer gegen das Böse, wann immer es sich ihm in den Weg stellt. Und er ist der einfühlsame Liebhaber, der verehren kann und selbst Verehrung sich so verdient.

Seine Cabrioles und Pirouetten, seine Flugsprünge und Grands jetés, seine Ports de Bras, Cambrés und Brisés lassen daran jedenfalls keinen Zweifel; hier ergänzen technisches Können und darstellerische Meisterschaft sich in jeder Einzelheit.

Hinzu kommt ein mal schelmisches, mal fröhliches Lächeln im hübschen Gesicht, dass zu dem feminin-graziösen Wesen Polina Semionovas aufs Vorzüglichste passt.

Seine Lyrik und ihre Dramatik sind vom Feinsten, ergänzen sich, stimmen gemeinsam das Hohelied des Gücks an.

Vielleicht sollte Polina als Tatjana mit ihm mal „Onegin“ studieren, vielleicht sind er und seine Gattin Iana Salenko beim ersten Versuch dieser so ganz anders gelagerten Rollen auch zu nah beieinander gewesen (www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-onegin-walter-salenko-ovsyanick/  ).

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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In „Dornröschen“ jedenfalls zeigt Marian Walter, dass er ein Spitzentänzer ist, wie es nur wenige gibt – und auch beim abschließenden Grand Pas de deux auf dem Hochzeitsfest im Schloss von König Florestan brillieren Walter und La Semionova auf höchstem Niveau.

Weitere Stars vom Staatsballett Berlin sind hier zu genießen:

Arshak Ghalumyan verleiht der Rolle des Zeremonienmeisters Catalabutte Witz und Schmackes.

Michael Banzhaf und Elena Pris sind ein nobles Elternpaar, das dennoch auch die Schwere des königlichen Amtes erahnen lässt.

Die Edelsteine Luciana Voltolini, Weronika Frodyma, Elisa Carrillo Cabrera und Dominic Whitbrook machen Lust auf mehr von so raffiniert schillerndem Schmuck.

Vor allem Dominic Whitbrook, der so manches Sprungsolo mit Bravour meistert, nutzt die Gunst der Stunde, um das Publikum zu beglücken!

Diverse Tier- und Märchenfiguren, ein adrettes Hofstaat-Ensemble, zarte Dryaden im Zauberwald und eine tanzende Feengesellschaft runden das Bild ab.

Die Eleganz und Noblesse dieser Inszenierung nutzt sich keineswegs ab – und auch die Ausstattung von Angelina Atlagic wirkt frisch, geschmackvoll und kostbar, ohne aufdringlich zu sein.

Bleibt allen, die vor allem wegen der Musik von Peter I. Tschaikowsky ins Ballett kommen (und solche Zuschauer gibt es!), zu bestätigen, dass sie hier eine gute Wahl getroffen haben.

Dornröschen mit Polina Semionova in Berlin

Noch einmal das Paar des Abends mit Kollegen und mit Dirigent Robert Reimer (links): Polina Semionova und Marian Walter – ein Dornröschen-Dreamteam! Foto: Gisela Sonnenburg

Robert Reimer spornt das Orchester der Deutschen Oper Berlin mit bewährter Passion zu Bestleistungen an; er weiß die Melodien ohne störende Brüche spannungsvoll durchzuführen und die Lautstärken langsam wie plötzlich allerbest zu dosieren.

Man genießt jeden Ton, jeden Tusch, jeden kraftvollen und auch jeden sanfmütigen Aspekt dieses romantisch-klassischen Märchentraums. Merci an alle!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.staatsballett-berlin.de

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