Sie kommt aus Moskau, ist jung, hübsch, kommunikativ – und damit keineswegs typisch für ihren Berufsstand. Die Schweriner Ballettdirektorin Xenia Wiest, heute 37, kam mir ihren Eltern, die beide Musiker sind, als Kind nach Deutschland. Damals, in den 90er-Jahren, wurde das sozialistische Ostdeutschland brachial in ein kapitalistisches Land umgewandelt, auch Westdeutschland verlor nach und nach seinen Begriff der sozialen Marktwirtschaft. Wiest wuchs mit den neuen Verhältnissen wie selbstverständlich auf und lernte doch, sie zu hinterfragen. „Ich glaube, jeder, der Verantwortung trägt, sollte eine Vision haben“, sagt sie. Die ihrige bezieht sich auf die Kunst, aber auch auf ihre Befähigung, den eigenen Ansprüchen zu genügen: „Ich habe mich vor meinem Amtsantritt ein ganzes Jahr weitergebildet und versucht, von anderen Direktoren, die bereits Erfahrung haben, zu lernen und gleichzeitig meine Vision zu definieren.“ Daraus wurde der grundlegende Ansatz, eine stetig Lernende zu bleiben, die für ihre Umgebung möglichst nahbar sein möchte.
Als Tänzerin hat Wiest, die an der John Cranko Schule in Stuttgart ausgebildet wurde, ganz schön viel Erfahrung. Beim Staatsballett Berlin tanzte sie viele Jahre im Ensemble mit kleinen Solo-Aufgaben die Klassik rauf und runter, sie fiel aber auch in modernen und zeitgenössischen Stücken positiv auf.
Ihr letztes Engagement als Tänzerin hatte sie denn auch bei Marco Goecke in Hannover, was im ersten Corona-Jahr aber nicht gerade prägend für sie wurde. Ihre eigenen ersten Choreografien liegen hingegen schon einige Jahre zurück – und bestachen bereits damals mit Stil und Originalität bei geschmacklicher Sicherheit.
2010 begeisterte Wiest mit einem Pas de deux im Tango-Stil beim „Dance Summit“ in Berlin, später gelang ihr mit „Take a Breath“ („Hol erstmal Luft“) ein spritziger Paartanz als Beitrag für die „Kremlin Gala – Stars des 21. Jahrhunderts“ in Moskau. Die Bolschoi-Ballerina Anastasia Vinokur tanzte da den weiblichen Part. Und die junge Choreografin wusste genau, was sie wollte.
Ebenso, als sie auf der letzten „Gala des Étoiles“ im Sommer 2019 in Luxemburg eine Kreation mit der Wiener Primaballerina Liudmila Konovalova und dem Violinisten Yury Revich auf der Bühne präsentierte. Voilà! Hier zeigt sich eine neue Kraft des Tanzes.
Als hierarchische Führungskraft sieht Wiest sich dennoch nicht: „Man muss wegkommen vom militärischen Stil“, meint sie und spielt auf die alten Patriarchen an. Xenia möchte am liebsten alles rundum erneuern: Die Strukturen am Theater und die ganze Ballettwelt gleich dazu. Routine, so sagt sie, sei für sie keine Option. Dass sie vor ihrem Amtsantritt das 13-köpfige, sehr kleine Ballettensemble in Schwerin praktisch komplett austauschte, brachte ihr nicht nur Sympathien für den Start.
Kurz nach der ersten Uraufführung unter ihrer Ägide – im September 21 – ist ihr Schwerin aber bereits ergeben. „Nacht ohne Morgen“, so der Titel des Werks, entstand auf Anregung von Hans-Georg Wegner. Der Generalintendant vom Mecklenburgischen Staatstheater gab allen Sparten vor, etwas zum Thema der Apokalypse zu machen.
Wiests Arbeit zeigt mit tänzerischen Mitteln das verheerende Wirken der apokalyptischen Reiter, die mit ihrer Körpersprache die vier biblischen Plagen Krieg, Krankheit, Hunger und Tod darstellen – und der Tanz benutzt diese Personifikationen von Katastrophen zugleich als Sinnbilder. Emotionale Kälte spielt darin eine Rolle, auch Rücksichtslosigkeit und Ungerechtigkeit.
Kann Ballett mit seinen ästhetischen Mitteln überhaupt zu solchen gesellschaftlichen Zuständen Aussagen machen? Xenia Wiest meint: ja. Für sie ist bloß wichtig, „dass das Stück als Ganzes die Zuschauer bewegt oder zum Nachdenken bringt.“ Die männliche Hauptperson, die am Ende ihres Stücks durch Einsamkeit und Isolation stirbt, entspricht dabei dem Schicksal eines Menschen, der auf der Flucht ist, also einem Geflüchteten.
Das ist einerseits politisch, andererseits auch als Metapher zu verstehen. Denn die Welt wurde so grausam, dass Flucht unausweichlich scheint.
Das Publikum hat das Stück auf Anhieb verstanden. Xenia Wiest wird sich nun regelmäßig dem Erfolgsdruck stellen müssen. Man soll sich nur nicht vorstellen, er sei in Schwerin kleiner als in Berlin oder Dresden.
Und schon am 19. November 2021 steht die nächste Ballettpremiere von Wiest an: Das Programm „Rendezvous“ vereint fünf kurze Stücke, die von Menschen und Beziehungen handeln. Aber warum heißt die Tänzertruppe eigentlich „Ballett X Schwerin“? Das „X“, so Wiest, stehe für „pro“, auch für „Offenheit“, weil der Buchstabe nach allen vier Seiten hin offen sei. Schließlich kürzelt das X auch Wiests Vornamen.
Es ist ja Xenias Ballett – und am liebsten, sagt sie, würde sie für immer und für alle nur „Xenia“ bleiben und niemals „Frau Wiest“ werden. Ob das klappt? – Es ist ihr, wie so vieles, zu wünschen.
Gisela Sonnenburg
P.S. Nach drei megaerfolgreichen Jahren wurde Xenia Wiest aufgrund interner Querelen am Theater zum 25.06.24 einfach durch ihren Intendanten „freigestellt“, also mit sofortiger Wirkung rausgeworfen. Ihr wurden ganz allgemein Fehlverhalten und Regelverstöße angelastet, ohne, dass sie sich dabei angemessen verteidigen konnte. Für uns klingt das nach Mobbing. Schade, dass es in Deutschland immer öfter Mode wird, die Öffentlichkeit vor vollendete Tatsachen zu stellen, wiewohl es um Ausgaben aus dem Steueraufkommen geht. Demnächst werden die Juristen das Tauziehen üben. Xenia Wiest hat dabei die Sympathie des Publikums ganz eindeutig auf ihrer Seite – und wird sich zu gegebener Zeit wohl noch deutlich im Ballett-Journal äußern. Wir wünschen ihr: Kopf hoch gegen Neid und Intriganz!
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