Was für eine Musik! Was für ein Thema! Die Geburt des Expressionismus aus dem Geiste der Romantik – so könnte die musikalische Beschreibung lauten. Und die inhaltliche? Das schwule Coming out eines Witwers zu Beginn der Golden Twenties! Wow. Wie schade, dass beide und auch beide zusammen so oft unterschätzt werden. Dabei ist die Oper „Die tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold ein Musterstück der modernen Aufklärungskunst, mit einer Verteidigung von zivilisatorischen Werten, die bis in unsere Zeit hinein Brisanz bergen.
Traurig nur, wenn die Regie diesen Schatz nicht erkennt. Karoline Gruber inszenierte Korngolds Juwel an der Hamburgischen Staatsoper ganz ohne den nötigen Biss – dafür holen aber der Sängerstab und die Hamburger Philharmoniker unter Simone Young raus, was rauszuholen ist. So ist der Abend ein Genuss, trotz falsch interpretierender Regie. Und weil der Text als Übertitelung mitzulesen ist, kann man sich beim Genießen sogar vielfältige Gedanken machen.
In dieser Spielzeit wird die Oper zwar immerhin acht Mal auf internationalen Bühnen produziert. Aber ist das ihrer Brisanz und künstlerischen Qualität angemessen? Sicher, andere Opern sind auch nicht unbedingt langweilig. Dennoch drängt sich hier der Verdacht auf, dass Weltkunst zu Nischenkunst klein gemacht wird, und zwar aus Gründen, die man gut und gern als unbewusste Diskriminierung empfinden kann.
Aber der Reihe nach. Im Dezember 1920 zeitgleich in Hamburg und Köln uraufgeführt, verschmilzt in „Die tote Stadt“ das individuelle Aufbegehren gegen die kleinbürgerliche Gesellschaft mit der Entdeckung von Homosexualität als Liebesform. Das ist eine skandalträchtige Melange!
Es geht um ein symbolhaftes Coming out, das mit bunten Revue-Elementen und gruseligen Schauereffekten theatersatt dekoriert ist. Die tote Stadt aus dem Titel bezieht sich auf Brügge, das damals als muffige, erzkatholische, bigotte Hinterwäldlerstadt bekannt war. Genau der richtige Ort für Gespenster und Visionen! Das ist schon im 1892 erstmals publizierten Roman „Das tote Brügge“ von Georges Rodenbach so kolportiert, und diese Literarvorlage diente Korngold als Inspiration. Dennoch hat der umtriebige Komponist – der auf manchen Fotos aussieht wie ein Doppelgänger von Oscar Wilde – etwas sehr Eigenes, auch Eigenwilliges aus dem Plot gemacht.
Die Rahmenhandlung der Oper ist denn auch purer Schein, ein depressiver Alptraum aus der Sicht eines eigentlich schwulen Witwers: die nicht enden wollende Trauer um seine vor Jahren tragisch-mysteriös ums Leben gekommene Gattin entpuppt sich als Zwiespalt eines Mannes zwischen den Geschlechterlieben.
Die Regisseurin Karoline Gruber, die das selten gespielte Werk jetzt mit schon fast vorsätzlicher Blindheit für die Hamburger inszenierte, hat die Substanz der Oper zwar nicht verstanden. Den bei Korngold am Ende eindeutigen und deutlich hoffnungsfroh stehenden Ruf in die Welt der Homosexuellen hat sie sogar als Todeswink völlig falsch, nachgerade idiotisch ausgedeutet. Aber Gruber hat – mit dem Glück der Ahnungslosen – auch manches richtig gemacht, vor allem an szenischer Detailarbeit.
Einige attraktive Matrosen, die aus Jean Genets Orgienwelt stammen könnten und die hier eine erträumte, glamouröse Welt bevölkern, sind ihr sehr gut geraten und als Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen. Ebenso wenig zu übersehen ist eine Femme fatale in Männerkleidung – allerdings betreffen diese Figuren das Theater-im-Theater-Spiel, das hier eine wesentliche Position einnimmt. Auch ein Hausmädchen, das dauernd seine Schürze abnimmt, ist vorhanden und wird hübsch vorgeführt – und gleicht jener pornografischen Standardfantasie, die es auch schon vor hundert Jahren gab.
Nur weiß die Regisseurin offenbar nicht, was Erotik ist, erst recht nicht, was Männer, die mit Männern tanzen, bedeuten könnten – immerhin schmälert ihre Unkenntnis nicht den Erfahrungsgewinn des Publikums. Völlig überflüssig ist hingegen eine Schattenspieleinlage, die einen Hetero-Fick auf einem Tisch zeigt (eine dem sehr gewöhnlichen Geschmack angepasste Variante von „Robert le Diable“: der Mann hat Teufelshörner und einen meterlangen Stangenpenis, nun ja, den er der Hure, naja, wenig glaubhaft zwischen die gespreizten Beine stößt). Erotik und ordinärer Kram sind wirklich zweierlei.
DIE WILDEN ZWANZIGER JAHRE
Der gebildete Zuschauer weiß zudem, was 1920, als Korngold sein schon einige Jahre zuvor begonnenes Libretto fertig schrieb und den von seinem Vater dafür gefertigten, drastisch-symbolistischen Text vertonte, in Deutschland so los war: Man hatte bereits Erfahrung in politischer Revolution, es gab auch schon das Frauenwahlrecht (seit 1919, dank Rosa Luxemburg), man übte hitzköpfig die Weimarer Republik; man war mit preußischer Demokratie und auch mit durchaus schon damals problematischem Drogenkonsum zugange.
Deutschland lernte, sich zu amüsieren und am Wochenende die Flucht vor dem Alltag anzutreten. Theater, Nachtbars, Konzerthallen florierten Vergnügungspark und Jahrmärkte eröffneten. Kokain avancierte vom vorgeblichen Medikament gegen Schnupfen, das es zu Sigmund Freuds Wiener Zeiten noch überwiegend war, zur verruchten Droge, um die Nächte durchzumachen. Morphium als Vorläufer von Heroin eroberte die begüterten Schmerzpatienten wie auch die durchgeknallten Literaten und Künstlerseelen. Die berühmte, aber bitterarme Anita Berber tanzte denn auch zumeist im Vollrausch ihre wilden, halbnackten, von ihr selbst so genannten „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“. Otto Dix malte sie, George Grosz analysierte das Kapital, Max Liebermann galt schon als etwas altbacken.
Und nochmal Tanz: Mary Wigman gründete just 1920 ihre Tanzschule in Dresden, Harald Kreutzberg und Gret Palucca legten los, Isadora Duncan war schon fast abgestandener kalter Kaffee – der Ausdruckstanz entstand. Auch sonst war viel los: Die Maler malten expressiv oder kubistisch, fauvistisch oder schlicht entfesselt. Die Komponisten probierten, ebenfalls enthemmt, die Atonalität. Die Literatur schwelgte in poetischen Symbolwelten, auch ohne zu reimen – man sagte Konventionen ade und genoss die neuen Freiheiten. Es gab Kulturangebote und Ausgehmöglichkeiten wie nie zuvor – die Bevölkerung wurde viril.
Der Komponist Korngold war selbst auch kein Kind von Traurigkeit. Er galt einst als Wunderkind, komponierte bereits mit elf Jahren und war erst 23 Jahre alt, als „Die tote Stadt“ premierte. Der in Brünn geborene jüdische Komponist, der 1957 in Los Angeles starb und der für seine Filmmusiken in Hollywood zwei Oscars erhielt, hatte mit seinen Uraufführungen in der Weimarer Republik sagenhaftes Glück: Seine Werke wurden emphatisch gefeiert. Heute ist das anders, Korngold geriet in Vergessenheit, er gilt zwar als Wegbereiter des musikalischen Expressionismus, aber so richtig ran wollen die heutigen Zeitgenossen nicht. Nur ab und an wird mutig ein Stück von ihm wieder kredenzt – und in einer Regie etwa von Andrea Breth wäre „Die tote Stadt“ vermutlich zu einem Burner an Brisanz geworden.
Hamburg hat indes nur Karoline Gruber, die lieber lauwarm und ohne Salz kocht als brandheiß und scharf gewürzt zu servieren. Immerhin berühren verkappte Homosexualität oder auch Bisexualität nicht nur überkommene katholische Moralvorstellungen und die neofaschistoide Menschenverachtung, die in vielen Staaten neu aufkeimt. Sie berühren auch den Monotheismus generell und damit den Kapitalimus in seinem Wesenskern. Davon will das dennoch teils aufschlussreiche Programmheft der Dramaturgin Kerstin Schüssler-Bach allerdings nichts wissen. Dabei bestätigen Fotos von der Uraufführung der „Toten Stadt“ den Verdacht, dass die Mittel der Revue und der Traumbild-Collage von Korngold eingesetzt wurden, um vielgestaltige Erotik als vom Bürgertum bedrohtes Areal der Menschlichkeit zu zeigen.
Das wurde von seinen Zeitgenossen verstanden – zumal Homosexualität offiziell nicht erlaubt war und sich also am Theater, wo es traditionell liberaler zuging als anderswo, umso stärker konzentrierte.
DAS KÖNNEN DER MUSIKER
Zum Glück aber sind die Musik und die Besetzung der männlichen Hauptfigur in Hamburg so stark, dass sich der Abend unbedingt lohnt, egal, ob man nun in seinen Sehgewohnheiten schwul oder hetero ausgerichtet ist.
Der Hauptprotagonist Klaus Florian Vogt war ursprünglich Hornist (Horn ist das „Instrument des Jahres“), begann aber 1997, vom Orchestergraben auf die Opernbühne zu wechseln. Sein Tenor ist von großer Strahlkraft, er hat eine ausgeglichene Stärke, ein toll flexibles Crescendo, einen langen Atem – und ein unverwechselbares Timbre. Vogt, in Holstein geboren, singt zweifelsohne auf dem Niveau von Peter Hofmann und Jonas Kaufmann – und wildert denn auch in deren Rollenrevieren. Als Lohengrin und Siegmund muss er wunderbar sein, auch seine solistischen Alben, die er seit 2012 heraus bringt, machen neugierig.
Als Paul in Korngolds „Toter Stadt“ bewältigt Vogt die schwermütigen, tragisch-dramatisch eingefärbten Klangkaskaden ebenso wie die lustig-munteren Melodien, die ihm Hoffnungsseligkeit, Erinnerungsglück und eine unglaubliche Sehnsucht nach etwas Neuem abverlangen. Vogt hat all das in der Stimme – und auch im Körper, von seinem ausdrucksstarken schönen Gesicht ganz zu schweigen. „Zwiespalt“ ist das Schlüsselwort für Pauls Befindlichkeit, und den schillernd zu zeigen, ist wahrlich eine Aufgabe für Könner. Klaus Florian Vogt kann!
Er kann auch Duette. Die Liebesszenen, die er leider auch heute in Hamburg nur mit weiblichen Protagonisten ausüben darf, wirken da so passioniert hingebungsvoll wie existenziell bedrohlich. Denn Paul lebt ja nicht, er vegetiert – und zwar zwischen Erinnerungen, Zwangsvorstellungen und Halluzinationen. Wunschträume, Wachträume und Alpträume mischen sich bei ihm und somit in dieser Oper, die im Grunde nur aus der Bebilderung seines Innersten besteht, zu einer rauschhaften Melange aus seelischen Konflikten.
Ein Alptraum sind Leben und Lieben derweil immer, wenn man sie nicht so gestalten kann, wie man möchte. In der Oper ist es, dank der erhebenden Musik, ein zudem schöner Alptraum, der sich hier bilderreich entfächert – und was hätte man nicht alles draus machen können! Das Seelenleben, das die Hauptperson ausmacht, gibt eine Menge her.
Paul hatte mal eine Ehefrau, Marie – aber sie kam unter mysteriösen Umständen ums Leben. Er hat Schuldgefühle deshalb. Trieb er sie in den Tod? War es ein Unfall, den er verursachte? Ist er gar ein Mörder? Später kommt raus: Er war ihr untreu, mit einer Dame leichten Bluts, er nahm sich eine Promiskuitive in Ergänzung zur „reinen“ Gattin – und wurde dennoch nicht glücklich. Die Herzensnähe, die seelische Eintracht, die er mit Marie erlebte und die er wie ein Alibigefühl besingt, sie half da nicht, die bröckelte, trotz Liebesschwüren, die er später mit einer anderen wiederholt – so unverzeihlich war sein Fehltritt. Was vermuten lässt, dass da noch ganz andere „Verfehlungen“ hätten stattfinden können…
Nun ist die Hysterie bekanntlich die unterhaltsamste neurotische Neigung – und die Hauptfigur Paul hat neben depressiven Anflügen jede Menge an musikalischer hysterischer Grandezza zu bieten. Man kann sich da gar nicht sattsehen oder satthören! Köstlich, wenn so ein Tenor in den höchsten Tönen schwelgt, um dann abzustürzen wie eine Bordschwalbe. Oder wenn aus dem Rauschen der Streicher seine Stimme empor steigt, um dort oben zu bleiben und hilflos zu zappeln wie ein Äffchen im Fangnetz. Dennoch schafft Vogt es, auch wahres Gefühl zu übermitteln. Und genau in dieser Mischung aus übertriebener Dramatik und echter Sehnsucht besteht der Reiz dieser Oper.
Szenisch ist das in ein psychedelisch-abstraktes Environment eingepflanzt wie in ein Versuchslabor. Immerhin, Roy Spahn, der Bühnenbildner, ließ sich was einfallen! Bernsteinfarbenes Frauenhaar, das dem Text nach der toten Gattin Pauls entstammt, bildet, als riesenhaft vergrößerter Strähnenstrudel, die Tapete im Hintergrund. Der ganze Bühnenraum – musterhaft als wüstenhafte Einöde gestaltet – ist wie ein freies Feld für die übermächtige Erinnerung. Rosen liegen verstreut auf dem sandfarbenen Boden herum, und auf einem einfachen Stuhl sitzt im kleidsamen sandfarbenen Anzug (von Mechthild Seipel) wie in einer Mimikry ein Häufchen Elend, den Rücken zum Publikum: Paul, der berufslose reiche Witwer, lebt und singt in ekstatisch aufgeladener Tragik, seine Wohnung nennt er passenderweise „Kirche des Gewesenen“.
Nur sein Hausmädchen Brigitta (sensibel, souverän, tapfer: Cristina Damian) und sein Freund Frank (vielseitig: Lauri Vasar) muntern ihn auf – und die Musik von Korngold, die zugleich schwelgerisch-spätromantisch, operettenhaft-satirisch und auch modern-tragikomisch einher kommt. Anklänge an Richard Strauss, Richard Wagner und Franz Schreker sind von Korngold mit superlativisch eingesetzten Steigerungen bis hin zu elftönigen Akkorden verflochten. Tusch folgt auf Tusch folgt auf Tusch, atemlos, als wär’s gleich vorbei – von impressionistisch bis bombastisch reicht die Notenpalette. Und dann geht’s von vorne los!
EIN OHRENSCHMAUS
Dennoch sind die Arien melodiös, teilweise sogar einschmeichelnd, und auch ihre stets nur kurze Brechung in Dissonanz kann diesen Eindruck nicht schmälern. Das ergibt alles zusammen einen Ohrenschmaus, zumal Simone Young die Hamburger Philharmoniker wirklich sehr sicher und mit angemessener Fühligkeit durch die komplexen Klanggefilde leitet.
Das Schicksal des vor Kummer fast wahnsinnig werdenden Paul nimmt seinen Lauf. Er berichtet, dass er ein Mädchen traf, das seiner verstorbenen Marie ähnelt und auch noch so ähnlich heißt: Marietta. Natürlich ist sie eine leichtlebige Tänzerin – was sonst, der Tanz symbolisierte in den 20er Jahren alle Freiheiten, nach denen man sich sehnte, die man aber eigentlich nicht haben konnte.
Meagan Müller, die die Doppelrolle Marietta / Die Erscheinung Mariens singt, hat eine weibliche Statur und wurde leider von der Regie zu sehr allein gelassen, um hier mit Drive und Swing in den Hüften in bisschen Tänzerinnenflair aufzufahren Ihr Gesang weist feminine Stärke, aber auch ein starkes Tremolo auf, was ganz dem populären Zeitgeist unserer Tage entspricht.
Wenn Paul ihr den blauen Schal (so steht’s im Text) als angeblich passend zum roten Kleid umhängt, ist klar: Er wünscht sich die Frau als Mann. Er darf das nur nicht sagen. Eine heutige Regie hätte da aber deutlicher inszeniert – und dem armen, nach Männerhänden darbenden Paul auch mal eine etwas fortschrittlichere Fantasie gegönnt. Auch sein Freund Frank hat ähnliche Begierden, er trat erst nach Maries Tod in Pauls Leben und verkörpert eine Lebenslust, zu der Paul sich hin entwickeln möchte. „Mein Sehnen, mein Wähnen“, heißt eine bekannte Arie von Frank vieldeutig.
Das psychoanalytische Potenzial dieser Oper ist wirklich unerhört hoch. Nur Dummköpfe pflichten Wikipedia bei: Dort wird kühn behauptet, die Oper verzeichne eine „inhaltliche Leere“. Das tut sie, wenn man sich ihrem psychologischen Gehalt, dem Zwiespalt eines Bisexuellen, versperrt. Wenn man aber feinsinniger zuhört, entdeckt man in der Musik eine Tiefe, die viele andere Komponisten so nicht erzeugen konnten.
Die Statisten-Choreografie von Stefanie Erb lässt Pauls Traumgespinste zwar nicht deftig-plakativ, aber wenigstens fein-ziseliert genderträchtig auftreten und, wie nebenbei, die Bühne füllen. Mal sind es vampirische, weiß gekleidete Putzfrauen, die Paul halluziniert, mal sind es gehbehinderte Kinder, die statt Ostern eine Beerdigung zelebrieren. Das bringt wenigstens Bewegung ins Geschehen. Allerdings hätte man hier auch mal alle Register der technischen Effekte der Bühne ziehen können – Pauls Seelenleben als Geisterbahn eignet sich dafür hervorragend.
Höhepunkte sind Szenen am Theater-im-Theater, zu dem man – typisch für einen Alptraum – mit einem linkerhand stehenden Dampfschiff gelangt. Das Vergnügen lockt! Nächtliche Cabarets waren die Spezialität der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts! Hier tanzen denn auch die besagten „Querelle“-Matrosen auf, yeah, und hier darf eine Frau ruhig mal Männerkleider und Pomade im Haar tragen. Hier tanzen sogar die Kerls miteinander und umeinander – und hier entspinnt sich eine ausgelassene, heitere, auch musikalisch operettenhafte, wenn auch latent brodelnde, an ihrer Aussperrung aus der offiziellen Gesellschaft auch leidende Gegenwelt zu Pauls gruseligem Erinnerungskabinett.
Er schaut zu, wie das Treiben der Theaterleute seinen Freund Frank verändert. Der tritt im Libretto von Korngold gar als Pierrot – also als Sinnbild des schwulen, den Mond anbetenden Commedia dell’ arte-Clowns – in Aktion. Das Pierrot-Motiv war sehr beliebt zwischen den beiden Weltkriegen! Grubers Regie lässt ihn nur leider keinen „weißen Clown“ sein, wie das Libretto eigentlich will.
Aber die intersexuell flirrende Atmosphäre dieser Traumtheaterwelt – die schließlich vor allem in Pauls Gehirn statt findet – becirct für einige Arien und Tänze. Endlich ist man da, wo man mit Paul hin will!
Nur schade, dass dann der kopulierende Teufel als Schattensilhouette wieder alles zunichte macht. Wie konnte die Gruber nur auf eine so peinliche Idee kommen… Sie musste dafür am Ende bei der Premiere ein veritables Buh-Konzert hinnehmen. Die Sänger und Musiker hingegen wurden erst mit häufigem Szenenapplaus und dann mit reichlich Bravoooos beim Verbeugen verwöhnt.
Zurück zum Stückverlauf. Paul gerät immer tiefer in seinen Zwiespalt. Einerseits ist da die ungelöste Schuldfrage zum Tod seiner Gattin. Andererseits sind da die süßen Jungs im Theater… Das wäre der Konflikt, den man sehen sollte.
Statt dessen taucht hier das Hausmädchen Brigitta, das mitunter als Marie / Marietta erscheint, mit dem dicken Bauch einer Schwangeren. Ist das nicht typisch? Wenn Drehbuchautoren und Regisseuren heutzutage sonst nix mehr einfällt, dann erfinden sie eine supertolle Schwangerschaft.
Wer hält denn – nach „Dirty Dancing“ – eigentlich endlich mal wer wieder ein künstlerisches Plädoyer für den Schwangerschaftsabbruch? Fast sind wir ja schon fast wieder soweit, dass zwischen befruchteten Zellen und einem Menschen nicht mehr unterschieden wird. Die Kirchen und die Industrie, die billige Arbeitskräfte und viele Konsumenten geboren sehen will, haben da schon Wirkung gezeitigt.
Am Ende erdrosselt er aufgebracht und ausgeflippt die arme Marietta. Der mit ihr zuvor ersatzweise praktizierte Verkehr auf dem Sofa war wohl nicht so gut, wie er aussehen sollte – und Paul benutzt auch noch die langen abgeschnittenen Haare seiner toten Marie als Mordinstrument. Man könnte meinen, diese Fantasie entstamme einem Stummfilm-Szenario. Und so sollte man es auch inszenieren: surrealistisch, schräg, expressiv. Zumal Paul dann aufwacht – und sich all das Grauen als Alptraum entpuppt.
In Hamburg gibt es nur eine komische Note: Bereitwillig, wie das in Alpträumen mitunter sein mag, sinkt Marietta in eine Art Sargschublade, die schon bereit steht. Solche gruseligen Slapstick-Nummern treffen aber die Atmosphäre dieser Oper. Da hätte man gern mehr von gesehen.
GUMMI-FLÜGEL ZUM ABSCHIED
Leider kommt dann das fatal uminszenierte Ende. Bei Korngold trägt Frank keine schwarzen Gummi-Flügel (Lauri Vasar muss auf Grubers Geheiß erst einen, dann zwei davon spazieren führen). Er ist auch kein Todesengel, wie im Programmheft behauptet wird, sondern er lockt Paul in eine zwar gefährlich glitzernde, aber auch wunderschön verheißungsvolle Welt des befreiten Sexus. Komm, Paul, die Jungens warten schon! Paul wäre schön blöd, das Angebot abzulehnen und im verhassten Brügge zu versauern.
Die Zeitgenossen von Korngold konnten sich ausmalen, was die beiden nach Opernende tun würden. Aussprechen durften sie es nicht. Aber sie inhalierten die aufgeladene Stimmung der „heißen Kerls“ – und waren es gewöhnt, nicht alles, was sie dachten, auch offen zu verbalisieren.
DER KLEINE GROSSE UNTERSCHIED
Heute haben Opernregisseure andere Pflichten als damals. Heute geht es um Aufklärung und um die Bewahrung von demokratischen Werten. Es geht darum, die Diskriminierung von Schwulen aufzuheben, und es geht nicht mehr, wie in den 20er Jahren, darum, Homosexuelle mit dem Mantel des Schweigens zu bedecken.
Bedenkt man, wie viele Sexszenen es in Theatern und vor allem auch in Filmen und Fernsehserien gibt, und vergleicht man mal, wie viele davon den Heteros und wie viele den Schwulen zugeeignet sind, könnte man meinen, wir lebten noch im letzten Jahrhundert.
Denn während die Heteropaare ausgiebig küssen und plastisch koitieren dürfen, wird bei den Schwulen, so sie überhaupt vorhanden sind, lediglich Händchenhalten oder Umarmung ins Bild genommen. Großaufnahmen von Hinterteilen oder sich aneinander reibenden Körpern, von stoßenden Hüften und wabbelnden Bäuchen gar, wie sie bei Heterosexpassagen durchaus üblich sind, werden bei intersexuellen Szenen immer noch ausgespart – wieso eigentlich? Gegen diesen immer noch latent schwulenfeindlichen Mainstream in der Kultur sollte die Oper eine Lanze für die sexuelle Befreiung und Akzeptanz von Minderheiten brechen. Auf höchst ästhetische Weise, versteht sich.
Fazit: Karoline Gruber sollte ihre Regie überdenken und ganz neu anlegen. Weniger dumm – und weniger schwulenfeindlich. Oder man bittet demnächst Andrea Breth (die sich mit „Wozzeck“ und „Lulu“ von Alban Berg als Top-Regiefrau der modernen Oper profilierte), sich mal Korngolds Klangwunderwelt vorzuknöpfen – ihr wird hoffentlich mehr einfallen.
Gisela Sonnenburg