Physische Freude Manche sind entsetzt, aber die meisten freuen sich, sagt die Umfrage: Immer mehr Compagnien finden wie das Stuttgarter Ballett einen Weg in den Ballettsaal. So auch das Hamburg Ballett, wo John Neumeier ab kommender Woche sogar kreieren wird

John Neumeier erklärt, was es für seine Tänzer bedeutet, wieder im Ballettsaal trainieren zu dürfen. Videostill von der ARD: Gisela Sonnenburg

„Man spürt eine physische Freude in jedem Tänzer, diese Bewegungen zu machen.“ Das sagte John Neumeier gestern in der ARD, im Corona-Extra-Beitrag nach der „Tagesschau“. Der Anlass dessen war ein für den Chef vom Hamburg Ballett höchst erfreulicher: Nach wochenlanger Abstinenz dürfen jetzt – mit offizieller behördlicher Genehmigung– wieder einige Tänzerinnen und Tänzer im Ballettzentrum fachgerecht und vor allem mit genügend Platz trainieren. Der Platz, der ihnen zur Verfügung steht, ist indes tatsächlich mehr als ausreichend: nur sechs Mitglieder der Tanztruppe sind mit Abständen von mindestens zwei Metern voneinander im riesigen Saal an den Ballettstangen verteilt. Die Ballettmeisterin Laura Cazzaniga steht dieser Miniatur-Ausgabe vom Hamburg Ballett vor, gibt den Ton und die Übungen an. Gelbe Linien am Boden markieren die Grenzen zu den Kollegen – aber daran sind Bühnentänzer gewöhnt: Markierungen und Vorgaben für Bewegungen einzuhalten. Alles also in Butter? – Nicht ganz: Es gibt Menschen, innerhalb und außerhalb der Profi-Szene, die es für fahrlässig halten, jetzt schon dem Corona-Virus eine lange Nase zu drehen. Schließlich können theoretisch Unfälle oder unvorhergesehene Havarien passieren, die mit Körperkontakt verbunden sind. Und so womöglich mit Infektionen. Darum ist Vorsorge hier sicher besser als Nachsorge: Wenn – wie auch beim Stuttgarter Ballett und dem BallettVorpommern (Ballett-Journal berichtete) – im Ballettsaal trainiert wird, dann sollte die Vorsicht das oberste Gebot sein.

Da ist viel, sehr viel Platz im Ballettsaal: Sechs Tänzer vom Hamburg Ballett trainieren unter der Leitung von Laura Cazzaniga beim Hamburg Ballett. Videostill von der ARD: Gisela Sonnenburg

Leserinnen und Leser vom Ballett-Journal haben sich zum Thema wie folgt geäußert:

„Mit extrem hohen Abständen und ohne gemeinsame Wasch- und Umkleideräume ist das eine durchaus eine akzeptable Sache.“ Das klingt natürlich sehr logisch. So votierten auch die meisten.

Aber auch das leuchtet ein: „Die Dunkelziffer durch so eine Sache könnte erschreckend hoch sein.“ Das hat insofern seine Berechtigung, als die Infektionskette nicht zu kontrollieren ist, wenn sie erstmal neu in Gang gesetzt wird. Wer selbst nicht schwer unter einerInfektion mit Covid-19 leidet, kann jemand anderem den Tod bringen, sogar, ohne es überhaupt zu bemerken.

Dagegen gibt es aber auch drängende Rufe nach Normalisierung: „Das ist zu diesem Zeitpunkt absolut richtig! Es muss eine langsame Öffnung nicht nur auf der wirtschaftlichen, sondern vor allem auch auf der gesellschaftlichen und kulturellen Ebene geben.“ Also ab zum Training?!

Interessant ist, dass nicht nur das Balletttraining im Fokus derer steht, die Öffnungen wünschen, sondern der gesamtgesellschaftliche Kontext eine starke Rolle spielt. So auch hier:

„Ich finde es gut, dass die Tänzer im notwendigen Abstand und mit Vorsicht wieder zusammen trainieren. Ein Null-Risiko gibt es nirgendwo im Leben.“ Und jetzt kommt’s:  „Überhaupt bin ich dafür, die Kontaktsperre zu lockern und den Menschen wieder zu ermöglichen, mit Abstand, gegebenenfalls mit Mundschutz, miteinander zu kommunizieren.“

Was zu diskutieren ist. Die einzelnen Bundesländer haben ja bereits Schritte unternommen, um ihren Bürgern – und vor allem der Wirtschaft – weitere Freiräume zu verschaffen.

Noch ein Blick in den Ballettsaal im Ballettzentrum in Hamburg: Fast luxuriös ist jetzt die Raumsituation für die Trainierenden. Ein neuer Beginn! Videostill von der ARD: Gisela Sonnenburg

Wenn allerdings ab Mitte Mai die Bundesliga mit einem irrsinnigen Test-Verschleiß ihre Spiele wieder aufnehmen darf (für Geisterspiele mit Fernsehübertragungen), wird es schwer sein zu akzeptieren, dass Ballett, Oper, Konzert und Theater weiterhin komplett verboten bleiben sollen.

Schließlich hängt am König Fußball nun wirklich nicht das Wohl und Wehe der Bevölkerung. Nur das Geld der Funktionäre und der Werbewirtschaft.

Aber wer will das Leben von einem geliebten Menschen riskiert sehen, nur damit ein nicht nur beliebter Teil der Bevölkerung seinen zusätzlichen Spaß hat?

Apropos Spaßhaben:In Großbritannien trat just ein Berater der Regierung zurück, weil er – obwohl er ein Miterfinder der Kontaktsperre dort war – seine Geliebte mehrfach für was wohl getroffen hat.

Der Liebe zum Tanz kann hingegen, wer mit genügend Wohnraum ausgestattet ist, ganz gut auch allein daheim gefrönt werden. Zugegeben: Für Profis und für Menschen, die sich lieber in der Gruppe bewegen, ist das eine bittere Notlösung. Und auch für Trainer und Ballettlehrer ist das Hantieren mit Programmen wie Zoom nicht nur das reine Vergnügen.

Aber: Es gibt, wie auf allen Gebieten, auch hier wahre Meister ihres Fachs.

Jahn-Magnus Johansen zeigt mit Astrid vom Norwegian National Ballet (NNB), wie die aktuellen Tendus aussehen. Bravissimo! Videostill von Facebook: Gisela Sonnenburg

In der internationalen Szene bekannt wurde Jahn-Magnus Johansen vom NNB, dem Norwegian National Ballet, mit seinem großzügig via Facebook gezeigten, definitiv vorzüglichen, stets so aufmunternd wie präzise vorgezeigten Online-Training.

Fast täglich „rockt“ Jahn-Magnus im lichtdurchfluteten Studio in Oslo ein neues originelles Training für Profis und Fortgeschrittene. Und sowohl Kristina Lindt vom Bayerischen Staatsballett als auch Ballerinen und Ballerinos in aller Welt schauen zu und machen mit.

Das macht Laune, wirklich!

Mal im Sologang mit Pianist, mal mit ausführender Tänzerin dabei, an der Barre und au milieu oder auch als Floor barre:

Auf Englisch sagt der junge Ballettmeisterassistent seine ausgeklügelten Kombinationen an, tanzt sie dann mit, sagt dabei, worauf man achten muss – und wenn die Ballerina Astrid mit dabei ist, korrigiert er sie und gibt Inspirationen, von denen alle, die zuschauen, profitieren können. Top! Absolut top!

Diese wunderhübsche Beinführung kommt aus Oslo: von Astrid vom Norwegian National Ballet, unter Anleitung von Jahn-Magnus Johansen. Videostill von Facebook: Gisela Sonnenburg

Top ist auch die Übertragung, die Nicolai Nishino-Ekeberg besorgt.  Ein heftiges Dankeschön – „TÜSEND TAK!“ – Thank you very much! –  nach Oslo!

Das NNB sollte diese Trainings sammeln und als DVD veröffentlichen, denn auch nach Corona– Ha! Ja! Es wird ein Training nach Corona geben! – werden Viele ihre Freude damit haben wollen.

Möglichst tägliches Training ist schließlich wichtig, um – wie es John Neumeier sagt – „die Flamme lebendig zu halten“.

Tamas Detrich, Intendant vom Stuttgarter Ballett, geht noch einen Schritt weiter und weckt Hoffnungen für die Zukunft auch beim Publikum: „Das Stuttgarter Ballett befindet sich in der sehr glücklichen Lage, über mindestens fünf talentierte Choreographen innerhalb der Compagnie zu verfügen. Selbstverständlich müssen wir alle etwas umdenken und unsere Sehgewohnheiten anpassen, aber wir sehen diesen Moment als Antrieb für unsere Kreativität.“

Kreativität trotz oder gerade wegen Corona: Beim Stuttgarter Ballett wird schon heftig nachgedacht und ausprobiert. Videostill von YouTube: Gisela Sonnenburg

Das kann Neumeier in Hamburg mit konkreten Plänen bestätigen: „Ab nächster Woche möchte ich ein Ballett beginnen, das unter den Bedingungen der aktuellen Abstandsgebote entsteht. Solch ein Ballett gibt es noch nicht, und ich bin selbst gespannt, wann und wie es möglicherweise zu einer Aufführung kommt!“

Nennen wir es mal: Das erste Corona-Ballett.

Soviel kann man schon verraten: Es wird Klaviermusik von Franz Schubert zu Grunde liegen, und alle 66 Tänzerinnen und Tänzer vom Hamburg Ballett sollen nach und nach darin vorkommen. In Proben mit Kleinstgruppen werden die einzelnen Teile der Choreografie erstellt, bis sie später zusammengesetzt werden.

John Neumeier wird ab kommender Woche das erste Corona-Ballett proben: mit vielen Abständen und zunächst zerlegt in winzige Einzelteile… aber sicher! Porträt / Videostill /ARD: Gisela Sonnenburg

Wenn das – zumindest aus Sicht der Kunst – keine superguten Neuigkeiten sind!

Nur in München, wo man ganz besonders forsch sein wollte und erst nach einem Polizeieinsatz das Balletttraining wegen der Corona-Gefahr stoppte, müssen die Tänzerinnen und Tänzer vom Bayerischen Staatsballett nun noch etwas warten. Aber irgendwann werden auch sie die Genehmigung erhalten, in Mini-Gruppen und mit weiten, sehr weiten Abständen wieder im Ballettsaal zu trainieren. Die Vorfreude darauf dürfte wachsen und wachsen und wachsen und wachsen…
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

www.stuttgarter-ballett.de

www.operaen.no

www.staatsballett.de

 

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