Bayern will sich nicht irritieren lassen. Keinen „Überbietungswettbewerb“ bei Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen will Ministerpräsident Markus Söder (CSU), und bei mehr als 2000 Todesfällen durch den Virus sowie bei lokal ansteigenden Infektionszahlen ist es bestimmt ratsam, in Bayern (trotz heftiger Gegendemonstrationen am Wochenende) weiterhin vor allem die Vorsicht walten zu lassen. Doch das Bayerische Staatsballett, das Ende März beimTraining im Balletthaus Besuch von der Polizei kam und erst daraufhin seine Vor-Ort-Trainings unterließ, drängelt schon wieder. Zumal in anderen Bundesländern – so beim BallettVorpommern, beim Stuttgarter und beim Hamburg Ballett– Trainings in Miniatur-Besetzung, zudem ohne Duschen und mit reichlichen Sicherheitsabständen offiziell genehmigt und ermöglicht werden. In einer Rundmail an seine Tänzerinnen und Tänzer machte der Münchner Ballettchef Igor Zelensky seinen Künstlern allerdings nicht gerade im angenehmen Sinn Hoffnung. Obwohl sein Ballettmeister-Team schon seit Wochen Online-Training mit Live-Musik anbietet, teilte Zelensky nun mit Wirksamkeit zu heute, also zum Montag, dem 11. Mai 2020, eine Neuerung mit: Das tägliche Training im „zoom meeting“ via Internet soll nicht mehr freiwillig sein, sondern Pflicht. Ob die Arbeitsverträge der Tänzerinnen und Tänzer diese drastische Formulierung überhaupt ermöglichen, sei mal dahin gestellt. Fatal ist allein schon der Ton, in dem Zelensky sich seinen Untergebenen nähert. Manche fühlen sich da behandelt, als seien sie „dumme Schafe“.
Irgendwie ist das nicht ganz das, was man in einer modernen Ballettcompagnie sehen und hören möchte. Schauen wir uns die Mail mal genauer an:
„Ihr seid verpflichtet, jeden Tag an diesem Training teilzunehmen“, steht in autokorrekturgeglättetem Englisch zentral in Zelenskys Mail. Und: „Eure Anwesenheit wird von der Ballettverwaltung überprüft werden.“ Mehr noch: „Unentschuldigtes Fehlen wird zu disziplinarischen Handlungen und Konsequenzen führen.“
Damit wäre Zelensky der erste Ballettdirektor weltweit, soweit bekannt, der zum Beispiel wegen eines technischen Ausfalls eines Computers während der Corona-Krise Leute feuert.
Sollen wir ihm den Spitznamen „Trump des Balletts“ zuerkennen?
Während andere Compagnien sachgerecht Tanzteppiche an ihre Hochleistungskünstler ausgeben ließen – wie das Staatsballett Berlin und das Wiener Staatsballett – um ihnen so das Heimtraining zu erleichtern, kommt für die Münchner Ballerinen und Ballerinos etwas, das sie seit Amtsantritt Zelenskys 2016 wohl zunehmend ertragen müssen: Druck, Druck, Druck, zur Abwechslung auch mal mit Drohungen durchmischt.
Aber wofür? Gibt es denn Gründe, ausgerechnet das fleißige Bayerische Staatsballett der Arbeitsscheue zu verdächtigen? Kaum vorstellbar. Gerade die Münchner Staatsballerinen halten es als einzige Truppe in Deutschland aus, dass ihr Chef ihnen vorschreibt, dass sie täglich vollauf in Spitzenschuhen trainieren müssen, statt nach eigenem Ermessen auch in Schläppchen, alsomit weicher Sohle.
Für den Ballerinenfuß kann das einen großen Unterschied machen.
Normalerweise gibt es nämlich ein spezielles Spitzenschuh-Training und ansonsten die Wahlfreiheit für weibliche Tänzer. Denn sie kennen ihre Füße selbst am besten, zudem ist jede Tänzerin etwas anders „gebaut“, und individuell sollte demnach auch die Anwendung ihrer Ausrüstung sein. Damit sie für die Vorstellungen fit sind. Das wird in den meisten Compagnien der Welt auch so gehandhabt.
„Zar Igor“ hat jedoch das Diktat an die Stelle der Selbstbestimmtheit gesetzt.
Vor allem für junge Tänzerinnen hat das nicht nur Vorteile. Das Verletzungsrisiko steigt ohne die Möglichkeit, die Füße auch ohne Pointe Shoes zu trainieren. Und man wird, wenn man von außen draufschaut, den Eindruck nicht los, bei Zelensky gehe es mehr ums blindwütige Beherrschen als um sinnvolle Menschenführung.
Tatsächlich traut sich im derzeitigen Bayerischen Staatsballett offenbar kaum jemand, offen zu widersprechen, wenn etwas fraglich ist. So kam im Nachhinein heraus, dass Manche sich nachgerade erlöst fühlten, als die März-Trainings im Balletthaus ihr Ende fanden.
Was nicht heißt, dass ein Wiederbeginn nicht auch heiß ersehnt wird. Aber eben unter sicheren Bedingungen!
Dass bis dahin jeden Tag daheim trainiert wird, ist für Tänzerinnen und Tänzer sowieso selbstverständlich.
Man darf daran erinnern, dass man es hier mit einem Berufsstand zu tun hat, der erstens den einzelnen Ausübenden denkbar viele Opfer abverlangt und der zweitens nur mit einer starken Leidenschaft und Hingabe überhaupt machbar ist.
Natürlich muss sich da kein Chef einfach nur darauf verlassen. Aber der Ton macht die Musik – und da wirkt in Zelenskys Trainings-Mail sogar das Angebot, zwei Mitarbeiter des Hauses würden bei technischen Problemen mit dem Computer oder Handy helfen, nur wie eine Bestärkung der Androhungen.
Seltsam wirkt die herbe Mail Zelenskys vor allem auch deshalb, weil Tänzer bekanntermaßen wirklich gerne arbeiten.
Die meisten von ihnen sind heilfroh, wenn man sie zur Arbeit ruft, zumal, wenn es ihnen hilft, die wegen der Corona-Schutzmaßnahmen schwierige häusliche Situation und den eigentlich daheim nicht wirklich auszuübenden Beruf zu vereinbaren. Wieso also dieser drastische Stil?
Die meisten anderen Compagnien lassen ihren Tänzerinnen und Tänzern in Corona-Zeiten gern die Wahl, mit welchem Training sie sich fit halten. Ob sie alleine üben, sich über Facebook, Instagram und YouTube als Gast einer anderen Truppe zugesellen (einige, wie das San Francisco Ballet und das Norwegian National Ballet ermöglichen das sehr gern, ebenso einige privat betriebenen Portale und Kanäle) – oder ob das Training des eigenen Ballettmeisters ausgewählt wird. Schon, weil das Feedback von jenen Trainern, die einen am besten kennen, wichtig ist, wird niemand von sich aus der eigenen Company dauerhaft fern bleiben.
Aber man lernt auch dazu, wenn man eigenständig entscheidet, um welche „Class“ man den eigenen Arbeitsplan erweitert.
Immerhin hat diese Methode in den harten Corona-Zeiten den Vorteil, den oftmals gegängelten Tänzern das Üben von selbständigem Arbeiten besser zu ermöglichen.
Dadurch hat das fast den Stellenwert von Weiterbildung, gerade weil es auf eigene Faust passiert: Weltstar Roberto Bolle etwa hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er Vieles an seinem Können dem intensiven Selbststudium seit seiner Schulzeit – allein im Ballettsaal – verdankt.
Das wird dem Bayerischen Staatsballett nun zwar nicht generell verboten. Aber wenn Druck einen von montags bis freitags jeden Morgen um Punkt 10 Uhr für eine Stunde an den häuslich improvisierten Barre-Ersatz zwingt, ist fraglich, wieviel Kraft für Kreativität beim Selbststudium noch übrig bleibt.
Warum behandelt Igor Zelensky sein Ensemble, als handle es sich um lauter Faulpelze?
Sein Englisch im Brief ist aalglatt, aber wenn er Russisch spricht, sagen Manche, drückt er sich weit weniger gewählt aus.
Gehört Respekt nicht zu seiner Kultur?
Wenn wir „Kultur“ und „Zivilisation“ sagen, dann stellen wir uns etwas darunter vor. Aber E-Mails in Krisenzeiten, die auf eine merkwürdig überzogene Art und Weise Strafen und Sanktionen androhen, gehören eher nicht dazu.
Auch das Gebaren seiner als Ballettmeisterin bei ihm beschäftigten Gattin Yana Zelensky ist wohl gelegentlich unpassend. In ihrer Biografie, die auf der Homepage des Bayerischen Staatsballetts nachzulesen ist, gibt sie an, sie habe als junge Tänzerin das russische Publikum „in zahllosen Hauptrollen“ begeistert. Aber ehemalige Kollegen von ihr können sich nur daran erinnern, dass sie zumeist im Corps de ballet tanzte.
Eine Karriere als Primaballerina, die die Formulierung, sie habe „zahllose Hauptrollen“ getanzt, rechtfertigt, hat Yana Zelensky definitiv nicht gehabt. Und wäre ihr Ehemann nicht Ballettdirektor, so würde sie wohl auch kaum als Ballettmeisterin die Tänzer durch den Saal scheuchen. Einen eigenen Werdegang, gar eine entsprechende Ausbildung hat sie nämlich nicht.
Das kompensiert sie mit einem am Verhalten ihres Gatten orientierten, ausgeprägt autoritärem Arbeitsstil.
Strenge und Disziplin gehören zum Ballett wie das Salz in die Suppe. Alle im Ballett wissen das und wollen es auch nicht anders.
Aber wenn Chefs nur noch ihr eigenes Ego pudern, dann ist das zumeist der Anfang vom Ende. Zumindest dessen, was man gemeinhin „die guten alten Zeiten“ nennt.
Gisela Sonnenburg