Weil die Puppen Liebe machen Gefeierte Uraufführung mit „Shakespeare – Sonette“ beim Hamburg Ballett: Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov ersannen ein grandioses Stück frei nach William Shakespeare

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Yaiza Coll und Lizhong Wang, das aschgrau geschminkte Paar in einer besonders originellen Pose in „Shakespeare – Sonette“ von Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Shakespeare war eine arme Sau. Seine „Sonette“ zu lesen, ist ein Schock, weil sie so deutlich von Sexualität, vornehmlich von männlicher Bisexualität sprechen. Der Dramatiker führte ein süffisantes Doppelleben, und seine Ehefrau war vermutlich nur zu bemitleiden. Liebe, Obsession, Treue, Betrug – offenkundig war bei Shakespeare daheim nicht viel in Ordnung. International sind sich die Fachleute darüber einig, also über sein lyrisches Coming-out in den Sonetten. Es gibt in vielen Sprachen belehrende Ausgaben des Gedicht-Zyklus mit entsprechend erklärenden Worten: Der alternde Dramatiker William Shakespeare schrieb seine Gedichte, die erstmals 1609 veröffentlicht wurden, um einem deutlich jüngeren, ebenfalls bisexuellen Mann eine groß angelegte Liebeserklärung zu machen. Ihm sind die Poeme gewidmet: „W. H.“, vulgo William Hughes, einem entzückenden Jungschauspieler am Globe Theatre in London. Shakespeare, der renommierte Theatermogul, ließ somit grandios die Hosen runter! Es handelt sich hierbei nicht um eine von vielen möglichen Deutungen, sondern um die einzige logische. Nur bis zum Hamburg Ballett hat sich das noch nicht rumgesprochen. Mit keiner Zeile wurde diese delikate Wahrheit in den Ankündigungen des Ballettabends erwähnt. Und tatsächlich ist es, als hätten Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov – die drei Jünger von John Neumeier, die hier als Team choreografierten – den schon vom Künstlerkollegen Oscar Wilde im 19. Jahrhundert enthüllten Handlungsablauf der Sonette nicht bemerkt. Besser wäre es gewesen, dem Publikum vorab reinen Wein einzuschenken und zu sagen, dass es sich um sinnlich-intelligente Fantasien handelt, die unter anderem von Shakespeare und seinen Sonetten inspiriert wurden, die aber keineswegs irgendeine Vorlage Eins zu Eins umsetzen. Die Zögerlichkeit im Vorfeld der Uraufführung rächte sich: Erstmals, soweit ich weiß, war eine Premiere zur Eröffnung der Hamburger Ballett-Tage– es handelte sich um die 45. Ausgabe des weltweit berühmten Festivals – nicht mal annähernd ausverkauft. Pech für alle, die fern blieben: Der Abend hat ein grandioses Flair, er verlangt zwar ein wenig Geduld, belohnt das aber mit einer abwechslungsreichen Collage aus klug gefundenen, edelmütig und anmutig getanzten Szenen. Am Ende mündet das Ballett sogar in eine anrührende Abschieds- und Hoffnungsszene, die zwar mit Shakespeare nur noch entfernt zu tun hat, die aber das ganze Stück im Rückblick als Hommage an den Gründer vom Hamburg Ballett erscheinen lässt, an John Neumeier. Bravo für soviel Vielschichtigkeit und Magie! Bravo auch für die Disziplin, jedweden Kitsch zu vermeiden! Bravo schließlich für die Akkuratesse, mit der hier furios getanzt und gewerkelt wird!

Denn Bühne und Kostüme – von den drei Choreografen ersonnen – sind ein Augenschmaus, der die hochrangige Tanzkunst der Solisten wie des Corps vom Hamburg Ballett bestens zur Geltung bringt. Kaum zu fassen, dass all dies in wenigen Wochen, in nicht mal drei Monaten, entstand. Und dabei sind die drei kreativen Talente im Hauptberuf auch noch Ballerino, also Solisten bzw. Erster Solist beim Hamburg Ballett– als wäre das nicht schon genug der Arbeit. Aber es ist gut, dass sie aus dem Schaffensprozess heraus direkt für die Bühne kreierten und nicht diverse Umwege gingen, die sie am Ende vom gemeinsamen Stil womöglich entfernt hätten. Diesen gemeinsamen Stil gibt es, auch wenn die einzelnen Choreografen sich voneinander in ihren Handschriften unterscheiden.

Und ob man nun Shakespeare kennt oder nicht:

Wir sehen zeitkritisches, brandaktuelles Tanztheater, ein Ballett, das seine Herkunft im Neumeier’schen Stil nicht verleugnet, das aber ganz eigene, auch eigenartige, ja eigenartig faszinierende Stimmungen und Symbolismen hervorbringt.

Die Musik kommt vom Band – sie reicht von getragenen Renaissance- und Frühbarockklängen über den hormonhaltigen Gesang von Marilyn Monroe (oh ja!) bis zu geradlinig ausgesteuertem synthetischen Gewummere, das niemals stört oder zu laut ist. Die angekündigten Passagen zu Musik von Philip Glass wurden gestrichen – und werden nicht vermisst.

Ein namentlich nicht benannter Schauspieler spricht, ebenfalls vom Band, Verselemente von Shakespeare ein: Es sind hübsche Zitate aus den Sonetten, die manchmal illustrieren, manchmal ergänzen, was auf der Bühne zu sehen ist. Einmal regnet es durchsichtiges Plastik von der Bühne, ein anderes Mal werden weiße Blumen ausgestreut – die Atmosphäre von getanzten Mahnmalen durchdringt den Abend immer wieder.

Nur einmal wird munterer, ausgelassener Frohsinn praktiziert: in Pumphosen rauschen die Protagonisten über die Bühne, rutschen mal eben ganz locker in den Spagat, rennen, haben Spaß, tollen und toben herum wie auf einem mittelalterlichen Volksfest.

Hervorragende Tänzerinnen und Tänzer wie Florian Pohl, Anna Laudere, Charlotte Larzelere, Nicolas Gläsmann, Mariá Huguet, Olivia Betteridge, Borja Bermudez, Hayley PageEmilie Mazon, Makoda Sugai und Christopher Evans, um jetzt nur einige zu nennen, nehmen die Herausforderung ebenso wie das Choreografen-Trio an, vor allem als Kollektiv zu wirken.

Die exquisiten Werkstätte der Hamburgischen Staatsoper und die Lichttechniker des Hauses können dabei unaufdringlich zeigen, was sie können, und das beginnt mit einer je nach Beleuchtung spiegelnden oder auch durchsichtigen Vorhangwand.

Beim Einlass erscheint sie als Wand aus Spiegelpaneelen, die den Zuschauerraum wiedergibt. Wer will, kann sich selbst darin zuwinken – die meisten belassen es dabei zu staunen, dass sie nun flugs selbst Teil eines Kunstwerks geworden sind. Die Botschaft ist klar:

Es geht um euch, liebe Zuschauer!

Zu Beginn taucht dann im meditativen Stil, fast an die japanische Tanzform Butoh erinnernd, ein von Kopf bis Fuß grauweiß geschminktes, nahezu leichennacktes Paar auf: Yaiza Coll und Lizhong Wang verkörpern für Neumeier-Kenner ein Zitat aus der Endszene von John Neumeiers letzter Fassung von „Peer Gynt“. Geisterhafte Liebe findet zwischen Mann und Frau statt, zeitlos schön und dennoch auch an „Coma“, den gruseligen Spielfilm von Michael Crichton aus dem Jahr 1978 gemahnend.

Damals hatte die Gesellschaft eine Utopie – vom dauerhaften Frieden bei größtmöglicher Freiheit – und die meisten Menschen ahnten noch nichts von Umweltschäden und Klimawandel. Aber dass der Mensch des Menschen Wolf sein kann, war schon bekannt. Crichton imaginierte Organhandel als Grund für Morde in einer Klinik, und wenn man sich das Gefälle zwischen Arm und Reich auf dieser Welt ansieht und es wiederum ins Verhältnis zum technisch-medizinischen Fortschritt setzt, um festzustellen, wer sich diesen Fortschritt leisten kann und wer nicht, dann war Crichton mit seiner Schreckensvision nicht ganz weit weg von den realitären Strukturen, die mafiöse Machenschaften auch und gerade im Bereich der Medizin ermöglichen.

So weit geht man aber beim Hamburg Ballett nicht. Die Pose einer nur halb vollführten Contraction am Boden, die das „Coma“-Zitat von eben in dieser Position schwebenden Fastleichen ausmacht, ist indes eine Leitmetapher dieses aschfarben geschminkten Paares, das immer mal wieder zu den Hauptpersonen wird.

Die wichtigste Location hier ist hingegen eine Fabrik.

Das ist natürlich eine Überraschung, und den drei Inszenatoren ist es gelungen, offen zu halten, ob es sich um eine Art Denkfabrik, um ein Klon-Labor oder um eine Schaufensterpuppen-Manufaktur handelt.

Alle drei Annahmen haben hier ihre Berechtigung, und die „Musterstücke“, die auch so auf dem Programmzettel heißen, werden in vitrinenartigen Schaufenstern ausgestellt.

Konzeptionell stammen sowohl die Puppen als auch die Fabrik von Aleix Martínez. Schaufensterpuppen sind ihm ein Kernsymbol in seiner Arbeit, nicht zum ersten mal bringt er sie auf die Bühne. Die Fabrik aber ist zudem hier das Herz des Bühnenbildes, das solchermaßen zeigt, dass wir uns in der Gegenwelt, ja in der Realität befinden. Zumindest als Ausgangspunkt: Der Bezug zu unserer Gesellschaft, zu unserer Arbeitswelt, zu unseren Ikonen ist somit deutlich.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Silvia Azzoni in „Shakespeare – Sonette“: eine brillante, rührende Schaufensterpuppe, ein Miss Perfect mit doch heftig menschlichem Verlangen. Foto: Kira West

Silvia Azzoni brilliert als zunächst reglose, dann bald auch tanzende Schaufensterpuppe, als Sinnbild einer perfekten Frau aus der Modewelt: mit weißblonder Pagenkopf-Perücke, roséfarbenem Mantelkleid und einer weißen Halskrause, die das Zeitalter der Renaissance so leger zitiert, als handele es sich um ein Requisit aus dem heimlichen Kleiderschrank des kürzlich verstorbenen Modechampion Karl Lagerfeld. Nicht zu vergessen: die weiße Maske, die das Gesicht der Azzoni in ein Puppengesicht verwandelt.

Dieses Püppchen ist eine Sensation, strahlt zugleich Coolness und Einsamkeit, Sensibilität und Unerreichbarkeit aus.

Im Kontrast dazu tragen die Fabrikarbeiter Latex-Schürzen und dunkle Einheitskleidung; versonnen betrachten sie gelegentlich die fertigen Stücke.

Eine moderne Variante des Abendmahls versammelt ein Dutzend von ihnen an einem langen Tisch, der diagonal im Raum steht – und einzelne Gliedmaßen machen hier die Runde, bis sie zu einer neuen Schaufensterpuppe zusammengesetzt sind. Fabelhaft, wie dieses Agieren hier tänzerisch illustriert ist, obwohl alle sitzen und das Bewegungsvokabular von daher eingeschränkt ist. Ein Team im Flow – das ist die gute neue Arbeitswelt.

Es gibt aber auch die schreckliche Arbeitswelt von heute, die ihren einzelnen Teilnehmern alles abverlangt, um sie dann ungerecht zu entlohnen. Wieder sehen wir die Tänzerinnen und Tänzer am Tisch – vor Erschöpfung schlafend. Kopfüber sind manche auf ihrem Stuhl platziert, verkrümmt, verbogen, eingenickt in den unmöglichsten Positionen, weil man im Zustand gänzlicher Übermüdung eben nicht nur im Stehen einschlafen kann.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Das Ensemble vom Hamburg Ballett als (Denk-)Arbeiterschaft in einer (Traum-)Fabrik: So zu sehen in „Shakespeare – Sonette“ von Jubete, Martínez und Revazov. Foto: Kiran West

Die Menschen, die wir hier sehen, sind guten Willens. Es ist kein Party-machen-als-Lebenssinn-Pack, kein Pulk verrückt gewordener Geldgieriger, das den Erdball auf Teufel komm raus zu plündern gedenkt. Es sind nette Menschen, und darin liegt vielleicht auch das Problem dieses Abends: Das Böse, Dämonische, Unterdrückerische – es existiert schlichtweg nicht.

Und zwar finden sich immer wieder Paare, solche, die gut zusammen gehen, andere, die es schwer miteinander haben. Vor allem wenn eine Puppe sich mit einem Menschen paaren will, gibt es verständlicherweise Probleme.

Aber es gibt nicht das, wovon Shakespeares Sonette sämtlich angetrieben sind und wovon oftmals auch die klassischen und modernen Handlungsballette randvoll sind: die obsessive erotische Verliebtheit, die einen Tag und Nacht an nichts anderes denken lässt als diesen einen Menschen (und sei er noch so ein Idiot), und die einen absonderliche Dinge tun lässt, nur um seine Gegenliebe zu erringen und zu halten.

Merkwürdigerweise würde eine solche Verknalltheit ins überwiegend melancholisch-tranceartige Gefüge der zwölf Einzelszenen der ballettösen „Shakespeare – Sonette“ auch gar nicht gut passen. Und gerade darum wäre sie ein Knüller darin!

Eine solche Szene fehlt indes, und ebenfalls fehlt der Grund für all den Schmerz und all die Melancholie, die die Sonette tränken: Liebeskummer.

Für William Shakespeare und sein lyrisches Ich in den 154 Sonetten waren diese beiden Gefühle konstituierend: die Euphorie der zunächst erfüllten Verliebtheit und die Frustration der späteren Zurückweisung.

Drei der Sonette fungieren dabei als Schlüssel, sie verleihen dem Ganzen auch den inneren Zusammenhalt. Wer sie genannt sehen möchte, schreibe bis zum 01.07.2019 eine Mail an info@ballett-journal.de, Stichwort: Shakespeare. Unter den Einsendern wird ein Taschenbuch verlost.

Aber entscheidend ist die Handlung, die sich aus dem Konvolut der Verse der „Sonnets“ (im Englischen mit zwei „n“ und einem „t“ geschrieben) unübersehbar ergibt: Es ist eine Liebesgeschichte mit nicht wirklich gutem Ausgang.

Demnach kommt ein junger Mann, hübsch und erotisch, zunächst nach London, wo der berichtende Dichter (Shakespeare) ihn zum Schauspieler macht und an sein Theater, das berühmte Globe, bindet. Der Theatermitinhaber und Dramatiker Shakespeare, der aus der Ich-Perspektive erzählt, verliebt sich über alle Maße!

Damals mussten ja alle Frauenrollen von Jungs gespielt werden, denn Damen oder Mädchen waren auf der Bühne aus Gründen der Prüderie nicht erlaubt. Schlecht für Heteros, sehr schön aber für heimlich Homosexuelle! Man kann sich also vorstellen, warum die Theater damals nicht eben „unschwul“ waren.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Mariá Huguet in „Shakespeare – Sonette“: Ist er der hübsche Mister Hughes, der dem Dichter den Kopf verdrehte? Für ein paar Bewegungen vielleicht… Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Die Jungs, die für Frauenrollen in Frage kamen, waren bevorzugt zart gebaut und von hoher Stimmlage. Man nimmt an, dass sie vor allem vor dem Stimmbruch auf den damaligen Theaterbühnen zu Stars wurden. So vermutlich auch der Bengel, in den Shakespeare sich verguckt hat.

Doch dann kommt eine „dunkle Frau“, die ihm den Knaben – der wegen der Stimmbruch-Sache womöglich erst 15 oder 16 Jahre alt ist oder zumindest über ein starkes Falsett, also die Kopfstimme, verfügt – abspenstig macht.

Offenbar ist auch der angebetete junge Mann bisexuell – und für verschiedene Reize empfänglich.

Um ihn zurückzugewinnen, buhlt Shakespeare– also das erzählende Ich – alsbald selbst um diese dunkle Lady, die nicht schön, aber womöglich eine vermögende Witwe ist, und der Dichter lässt sich auf ein Verhältnis mit ihr ein. Was für eine irre Geschichte!

Doch auch von anderer Seite droht Gefahr: ein Konkurrent, vermutlich der Dramatiker Christopher Marlowe, holt den jungen talentierten Schauspieler an sein eigenes Theater.

Immerhin: Shakespeare kann ihn ans Globe zurückholen.

Jedoch: Mit der Liebe ist es aus, und enttäuscht muss sich der Dichter damit abfinden, dass er, um etwa zwanzig bis dreißig Jahre älter, nicht aus nächster Nähe die ersten Falten des Geliebten zählen wird. Vom gemeinsamen Altwerden hatte er zuvor in so manchem Sonett geträumt.

Der Abschied von der Hoffnung auf weitere Erfüllung führt zum Abschied von der Liebe überhaupt: Amor wird am Ende der Sonette zu Bett geschickt, und zwar allein.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Olivia Betteridge: Gewiss kein Amor hier, aber ein Stretchwesen, das den von der Pest Bedrohten zur Weiterreise hilft. Foto aus „Shakespeare – Sonett“ von Kiran West / Hamburg Ballett

Gleich zwei solche Amor-ade-Gedichte lässt Shakespeare den Schluss der Gedichtsammlung bilden, und ob das nun eine radikale Bestätigung des radikalen Rückzugs ist oder ob die zweimalige Nennung eine Negierung bedeuten soll, ist ungeklärt.

Natürlich stellt sich außerdem die Gretchenfrage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Dichtung.

Und ob Shakespeares Liebe nun geflunkert ist, also reine Fantasie, ob sie auf wahren Begebenheiten beruht oder sogar ganz der schmerzensreichen Wahrheit von Shakespeares Alltagsleben entspricht, wird wohl nie ganz geklärt werden können.

Es ist die dichterische Freiheit, sich mit dem lyrischen Ich so weit zu identifizieren, dass es ein Eigenleben entwickeln darf.

Aber: Ein Bekenntnis zur Homosexualität ist die Sonett-Kollektion so oder so, ob Shakespeare seinen Schwarm nun im Bett hatte oder nur von ihm träumte.

Wie auch immer: Die Geschichte klingt so wahrhaftig und ergreifend, dass man sie liebt und mitleidet, egal, ob nun der realitäre Shakespeare oder „nur“ sein Fabel-Ich hierin sprechen.

Diese Dualität erneut zu treffen und ebenfalls wie auf Messers Schneide zu balancieren, um von den innersten Gefühlen großartig traurige Kunde zu überbringen, ist choreografisch nicht ganz einfach.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Kein Tod in Venedig: Anna Laudere und Florian Pohl in „Shakespeare – Sonette“ von Jubete, Martínez und Revazov. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

So wehren sich die drei Jungchoreografen vielleicht zurecht gegen die vom Hamburger Ballettboss John Neumeier vorgegebene Vorlage. Warum auch sollen drei junge Männer, die in ein arbeitsreiches Ballettsystem eingebunden sind, die Probleme eines für damalige Begriffe alten, zudem unglücklich und heimlich schwul Verliebten von anno dunnemals wälzen?

Es ist eine Mammutaufgabe, mit der ihr Chef John Neumeier sie bedacht hat, und man erinnert sich an dessen „Tod in Venedig“ nach dem Roman von Thomas Mann. Denn darin geht es um ein ähnliches Thema: Ein älterer Mann liebt einen jungen Burschen bis an den Rand zur Selbstaufgabe.

Natürlich fragt man sich auch, wie ein Ballett nach Shakespeares Sonetten wohl aussehen würde, wenn John Neumeier es selbst in Angriff genommen hätte.

Auf der anderen Seite gewinnt die Sache gerade durch den Verzicht auf Vorlagentreue.

Die Frauen zum Beispiel kommen im Werk von Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov viel besser weg als bei Shakespeare, der sich in den Sonetten als nachgerade frauenverachtend erweist. Nur kann man Shakespeares Hass im Kontext verstehen: Ein Leben lang musste der sensible Dichter den Hetero heucheln, er musste Kinder zeugen, eine vermutlich ungeliebte Gattin in Stratford durchfüttern – und all das, obwohl ihn eigentlich vor allem junge Männer interessierten.

Shakespeare – eine Art Tennessee Williams der Renaissance?! Das ist nicht unmöglich. Liest man die Sonette mit dem Wissen der Forschung, entsteht das Bild eines für Grenzen der Empfindungen nicht eben zu begeisternden Mannes. Er schafft es ja, die erotische Liebe als höchstes Gut zu preisen und ihre Unverbrüchlichkeit immer wieder zu beschwören. Aber er meint damit die ehebrecherische, im Heimlichen verborgene Liebe, eine Liebe, die verboten ist und gegen alle nur denkbaren Hindernisse anzukämpfen hat. Wohl darum fleht Shakespeare, man möge ihm glauben, dass es ihm ernst sei. Die Liebe geht bei ihm fast auf Tod und Leben.

Ein gutes Ventil war ihm sicher das Schreiben der Dramen, denn wenn er darin seine galanten Frauenrollen erdichtete, so dachte er dabei an die jungen Herren, die sie dann auf der Bühne darstellen würden.

Aber insgeheim muss der Frust doch stark gewesen sein…

Dass es ihn im fortgeschrittenen Alter dann noch einmal so durch Amors Pfeil erwischt hat, dass er 154 virtuose, geschliffene, pikant gewürzte, fein gereimte Gedichtgewerke voller Anspielungen und auch Herzblut kreierte, ohne zum eigentlichen Ziel zu kommen, war wohl sein persönliches Waterloo.

Shakespeare zog sich nach Stratford zurück und starb dort 1616; in den letzten Lebensjahren widmete er sich vor allem den Gartenarbeiten und der Verwaltung seines beträchtlichen Vermögens. Er war bis zum Tod ein angesehener Mann, und ob er sich in der englischen Provinz mit einem Stallknecht tröstete oder ob er der ewigen Liebe zum jungen Will Hughes wegen keusch blieb, war dann wirklich sein Geheimnis.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Emilie Mazon im Nachthemd und mit Anna-Laudere-Haaren sowie mit Marià Huguet in „Shakespeare – Sonette“ von Jubete, Martínez und Revazov. Foto: Kiran West

Jedenfalls erhellen die Sonette, warum Shakespeare in seinem Testament seiner Gattin nur sein „zweitbestes Bett“ vererbte. Sein bestes hatte er für sich und seine Träume von heißen Jungs.

Damit sind wir wieder bei einem kritischen Punkt, nämlich der Pädophilie.

Tatsächlich gibt es in den „Shakespeare – Sonetten“ beim Hamburg Ballett ein auftretendes männliches Kind (Joaquin Alcazar), das im Hoody und langen Hosen zunächst einfach nur mit von der Partie bei den Erwachsenen sein will.

Wie das mustergültige unschuldige Ich so manchen Frühromantikers sitzt es vorn und schaut auf das Treiben in der Fabrik, manchmal schaut es sinnierend hoch, tanzt, stellt sich später sogar mal wie ein „Musterstück“ reglos in eine Glasvitrine.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Joaquin Alcazar: Der Schüler der Ballettschule vom Hamburg Ballett tanzt mit in „Shakespeare – Sonette“ von Jubete, Martínez, Revazov. Und die Rolle ist durchaus bedeutsam. Foto: Kiran West

Aber dann, im zweiten Teil, gibt es einen Pas de deux mit einem erwachsenen Mann, und dieses Stückchen hat es in sich.

Die beiden beginnen im Schneidersitz, sich gegenüber sitzend, und man vermutet schon eine „Spiegelübung“, die als Training für Bühnenkommunikation bei Schauspielern beliebt ist.

Doch aus dem Spiel wird mehr, Flugfiguren folgen, und es ist klar, dass das Kind nicht begreift, was den Erwachsenen bewegt, wenn der sich im Tanz mit ihm immer wieder zwischen die Beine des Jungen pressen kann. Man erinnert sich an die fantastische Leistung von Ulrich Tukur im Film über die Odenwald-Schule („Die Auserwählten“ von Christoph Röhl), auch wenn hier im Ballett alles nur Andeutung bleibt und doch überdeutlich ist.

Über Pädophilie hat man zu Shakespeares Zeiten nicht nachgedacht. Heute denkt man noch immer viel zu wenig über sie nach – die Opfer werden abgestempelt und psychiatrisiert, während die Täter offenkundig zu selten erwischt werden.

Wie alt oder jung Shakespeares jugendlicher Lover war, weiß man hingegen tatsächlich nicht. Es ist möglich, dass er noch fast ein Kind war, es ist aber auch möglich, dass er ein  Twen mit geschickt verstellter hoher Stimme (Falsett, Kopfstimme) war. Jedenfalls war er zierlich gebaut und, wenn man Shakespeares Geschmack Glauben schenkt, außerordentlich attraktiv.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Yaiza Coll und Lizhong Wang als Geisterliebespaar in „Shakespeare – Sonette“ von Jubete, Martínez und Revazov. Wow! Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Shakespeare, der zu Beginn dieser Lovestory vielleicht erst Ende 3und höchstens Mitte 40 war, ist jedenfalls nicht zu beneiden, denn die Qualen, von denen er in den Gedichten spricht – es sind die Qualen übermäßiger Begierde nach dem jungen Mann ebenso wie das Leiden unter dessen späterer Ablehnung – müssen ungeheuerlich gewesen sein.

Andererseits hätte er uns womöglich keinen einzigen seiner fantastischen Liebesverse hinterlassen, wäre er nicht so stark und so umsonst verliebt gewesen. So gesehen, dankt man Shakespeare ehrerbietig für das Höllenfeuer aus Liebesweh, das er für uns erlitt.

Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov scheinen nun allerdings von solchem Verlangen nicht wirklich Ahnung zu haben. Das Triumvirat reflektiert mit schöner Sorgfalt viele verschiedene Paarvarianten. Aber diese unbezähmbare Sehnsucht nach einer ganz bestimmten Person, wie sie seit Romeo und seit Julia zu unserer Kulturgeschichte gehört und gerade auch für Shakespeares Lyrik prägend ist, wurde hier vergessen.

Oder, auch das ist möglich, die jungen Hamburger Choreografen halten übermäßiges Begehren schlicht für unmodern, unzeitgemäß, für Schlagerkitsch. Liebe, die einen bis zum Selbstmord führt, weil sie verschmäht wird, ist an diesem Abend jedenfalls out. Und – das ist gar nicht mal so schlimm.

Denn tatsächlich: Mit der Emanzipation der Frau ist der Mann als Versorger überflüssig geworden, und ihr Warten auf den Einen, der dann den Rest des Lebens mit Sinn auffüllen muss, entfällt. Auch Männer müssen sich nicht mehr „hochheiraten“, um gesellschaftlich Karriere zu machen – auch sie werden als Singles akzeptiert und dürfen Berufliches und Privates mischen oder trennen. Jedenfalls sollte es so sein.

Andererseits: Solange Menschen leben, werden sie sich nach erotischen Inspirationen sehnen, sie werden sich nach schönen Männern und Frauen umdrehen, sie begehren und sich – scheinbar ohne Sinn und Verstand – bis an die Grenze des Erträglichen oder auch darüber hinaus verlieben.

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Bei Shakespeare gibt es diese alles umspannende, hysterisch überdrehte Zuneigung – im Ballettabend zu seinen Sonetten gibt es zwar verschiedene Paare, auch homoerotische, und es gibt auch Menagen à trois, bei denen vor allem Charlotte Larzelere durch filigrane Leichtigkeit auffällt.

Aber niemand ist hier durch die Liebe in Lebensgefahr.

Das ist einerseits beruhigend, andererseits ein bisschen brav.

Die Psychologie kann hier weiterhelfen, denn selbstverständlich ist es nie Zufall, in wen wir uns verlieben und warum. Die heimlichen Hoffnungen, die wir mit uns tragen, entfalten sich angesichts eines anderen Lebewesens – und auf einmal erscheint das ganze Dasein wie ausgewechselt, Zukunftsperspektiven inklusive.

Von solchen Höhenflügen berichten die drei Choreografen hier, und es gibt Szenen, die auf starke Gefühle schließen lassen, manche erinnern durchaus an die ganz große Lebensliebe. Wenn auch ohne den Drive der Unbedingtheit und des Habenwollens, den etwa Shakespeare und die Popmusik uns vorleben.

Interessant ist:

Es ist die Liebeskonzeption aus den Balletten von John Neumeier, die wir in „Shakespeare – Sonette“ sehen, sie beruht auf Geben und Nehmen und ist demokratisch geprägt, was man tänzerisch exzellent (wieder)erkennen kann – und sie entspricht nicht dem etwas plumpen rein körperlichen Begehren, das William Shakespeare immer wieder zur wahren Liebe aufplustert.

Die Verherrlichung der rosigen Wangen des Geliebten, sie kann mit einer Liebe, bei der man sich in die Augen schaut und doch die Seele meint, eben nicht mithalten.

Statt rosiger Wangen gibt es in „Shakespeare – Sonette“ die rosafarbenen Musterstücke.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Silvia Azzoni und das Ensemble in der Scheinwelt der Fabrik und der glamourösen Resultate: „Shakespeare – Sonette“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Silvia Azzoni hat als solches Soli, die applausverdächtig sind: Die Schaufensterpuppe mit der weißblonden Perücke wird da mobil, sie erwacht, wird neugierig, will Mensch sein – und Sex haben. Top!

Und als eine Arbeiterin zu ihr an die Glasscheibe tritt, entspinnt sich langsam ein tänzerischer Dialog zwischen den ungleichen Frauen, die sich sofort auch ineinander verlieben.

Schöner kann modernes Ballett nicht sein!

Tatsächlich schafft es die erotische Liebe, dass die Schaufensterpuppe aus ihrem Glaskasten tritt und an der Hand der Arbeiterin das Gehen lernt. Und das Tanzen!

Der Pas de deux der beiden Frauen ist superbe und von erlesener Zartheit, Schönheit, Eleganz. Als Bild vereinen die beiden so viele Gegensätze, dass ein Mann hier wirklich mal nicht vonnöten ist. Toll.

Doch die Liaison, die in einen Kuss mündet, den sich die Puppe endlich traut, ist rasch vorbei. Die grausame Realität holt die beiden wohl ein – die Schaufenstermadame muss zurück in ihr Glasgehäuse, und die Arbeiterin gehört nicht sich, sondern ihrem Chef, für den sie weiter schuften muss.

Aber für einige Momente gehörte diesen beiden das ganze Publikum, und wenn es nicht nur das des Opernhauses war, dann teilte die ganze Welt ihre holde Liebschaft.

Man muss hier doch mal deutliches Lob aussprechen, dass es männlichen Choreografen und Regisseuren gelingt, Frauenliebe so berührend und prägnant ins Bild zu setzen.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

„Musterstücke“ mit Rosa in Glasvitrinen: Blick aufs Bühnenfeld in „Shakespeare – Sonette“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Später verdoppelt sich das Musterstück, dann gibt es sogar vier weißblond Perückte in roséfarbenen Mantelkleidern auf der Bühne. Und auch zwei männliche Gegenstücke, kecke Gecken mit rosa Blousons und weißen Halskrausen, stoßen dazu – eine bedeutende Kommunikation ergibt sich daraus aber nicht, und außer, dass wir die Vervielfältigung sehen, ergibt sich auch kein weiterer Sinn aus diesen lebenden Figuren.

Sie verschwinden dann auch mehr oder weniger spurlos. Gut so.

Aber noch ein Paar ist für Poesie zuständig: Als frostig weiß bekleidetes Ballettpaar, das in Zeitlupe Balanchine-Posen probt. Sie tanzen auch dann noch, wenn alle anderen in Frozen positions still stehen müssen – die Magie des Balletts überdauert alles.

Von Shakespeare sind wir nun ganz, ganz weit entfernt…

Aber kurz vor der Pause gibt es noch ein Einzelstück an Szenerie, das vielen Zuschauern im Gedächtnis bleiben wird:

Edvin Revazov choreografierte im Nebel eine symbolhafte Urszene: einen kleinen Trupp mit Vogelmasken und Kothurnen auf unendlicher Wanderschaft.

Kothurne sind etwa 30 cm hohe Plateauschuhe, die man – auch noch zu Zeiten Shakespeares – aus Schutz vor Unrat trug, wenn man durch die Straßen ging, in denen die Pest auf weitere Opfer lauerte.

Außerdem gab es damals ebenfalls gegen die Ansteckung mit der Pest – obwohl man die Existenz der Bazillen und ihre genauen Übertragungswege noch nicht kannte – die Atemwege schützende Masken, mit schnabelartigen Ausbuchtungen auf Nasenhöhe. Daher ihre Vogelanmutung.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Überlebende aus einer Wagner-Oper, einem Sci-Fi-Film oder eben zeitgenössischem Ballett: Mit Wanderstab, Masken und Kothurnen in „Shakespeare – Sonette“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Wie Überlebende einer Katastrophe – auch als Sci-Fi-Scenario tauglich – wanken hier die vogelmaskierten Gestalten auf den Kothurnen voran, sie üben sich im Weiterleben, in einer kaum noch weltenähnlichen Sphäre, in zeitlupenlangsamen Bewegungen: bis hin zur Hocke.

Andere Gestalten, unter Stretchtextil verborgen, wabern wie klumpige Geister durch die Szene, lassen sich aber auch auf Ko-Tänze ein.

Am Ende ist einer der Tänzer splitternackt, man sieht ihn von hinten, wie er mit einer zarten Ballerina, die noch Kostüm und Kothurne trägt, langsam gen Bühnenhorizont marschiert.

Adam und Eva, mal ganz anders erzählt.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Lloyd Riggins im Solo mit Lichtkegel im zweiten Teil von „Shakespeare – Sonette“ von Jubete, Martínez und Revazov. Sehr anrührend. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Im zweiten Teil, nach der Pause, gewinnt der Gedanke eines menschlichen Schöpfers Raum.

Lloyd Riggins spielt und tanzt eindringlich den Meister der Puppen, der lebende Figuren zusammensetzt und in Stand hält.

Mit einem Lichtkegel weiß er sich so intensiv zu beschäftigen, dass das allein bereits ein Mini-Drama in fünf Akten ist.

Wie ein Lehrer seine Schüler in die weite Welt entlässt, so verabschiedet er später die Tänzerinnen und Tänzer, einen nach dem anderen, mit einer Umarmung, einem Anfassen, das einem Scannen gleicht.

Die Arbeit am Menschen, an den Puppen, an den Puppenmenschen – die Grenzen werden hier zunehmend fließender – erschöpft indes.

Und schließlich kehrt sich das Verhältnis um, der Schöpfer wird zur Puppe, zur Marionette, die Unterstützung braucht, um sich aufrecht zu halten.

Es ist ein zarter Abschied, der hier zelebriert wird: Der Schöpfer verschwindet langsam im Licht hinter der Spiegelwand, die wieder heruntergelassen wird, begleitet und flankiert von dem aschefarbenen Geisterpaar vom Beginn. Natürlich denkt man daran: John Neumeier und seine Geschöpfe werden wohl auch im Jenseits noch weiter Ballette kreieren.

Das ist übrigens von der frühmittelalterlichen Auffassung von Himmel und Erde nicht weit gedacht: Es herrschte zunächst im Christentum der Gedanke vor, dass Menschen im Jenseits dieselben Positionen wie im Diesseits einnehmen würden. Was bedeuten würde: Klassenrechte gelten auch im Himmel und auch noch in der Hölle. Kein Wunder, dass sich diese Ideologie nicht durchgesetzt hat.

"Shakespeare - Sonette" beim Hamburg Ballett stammt von drei Choreografen

Das Hamburg Ballett am Schluss der „Shakespeare – Sonette“: eine wachsende tanzende Blüte als Hommage an den Meister John Neumeier. Foto: Kiran West

In den „Shakespeare – Sonetten“ aber geht es weiter. Vor der Spiegelwand sammelt sich ein kleiner Pulk von Tänzern und leistet als ätherischer Reigen elegische Trauerarbeit. Wie eine lebendige Blüte verändert sich die Formation, bezaubert, rührt, wirkt harmonisch, obwohl sie Trauer und Hoffnung vereint. Ein klarer Fall: Neumeiers Jünger halten die Flamme der Begeisterung hoch, halten das Ballett am Leben, lassen nichts erlöschen.

Diese Kraft zieht weitere Menschen an, die sich organisch um den Blütenkreis einfinden, sich integrieren, um die Magie dieser Blume verstärken.

In Schüben kommen sie alle, alle herbei und tanzen vereint als lebendige Gruppe das Loblied der „Schönheit, um die Welt zu retten“, wie Natalia Makarova es einst sagte.

Und als ich zum Bahnhof kam, stand dort ein junges Mädchen und winkte dem Zug nach, in Tränen aufgelöst. Ein paar Meter entfernt lag eine rote Rose, achtlos weggeworfen. Tragik lag in der Luft, denn nicht jeder Abschied birgt auch Hoffnung. Was Shakespeare himself bestätigen kann.

Der Ballettabend „Shakespeare – Sonette“ aber klingt noch lange nach, und es ist nicht ausgeschlossen, dass das Hamburg Ballett mit solchen Kreationen seine Zukunft sichert.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

P.S. Zur weiteren Einstimmung noch ein Zitat von William Shakespeare aus dem CII. Sonett:

Dem Schein zum Trotz ist meine Lieb erstarkt,

Mehr lieb ich heut, sieht’s auch nach weniger aus.

Wohlfeil wird Liebe, trägt man sie zum Markt,

Schreit lauthals ihren hohen Wert heraus. 

ballett journal