Wenn das Vorspiel nicht nur Nebensache ist Das Ausnahmeballett „Préludes CV“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Préludes CV agiert nicht privatistisch, ist aber privat inspiriert.

Große Gefühle, große Posen, viel Offenheit: „Préludes CV“ ist ein nicht wirklich privates, aber privat inspiriertes Ballett von John Neumeier, der hierin diffizil und auch humoristisch erstellte Tänzerportraits abliefert. Foto: Silvano Ballone

Mitunter ist das Vorspiel das Schönste vom Ganzen: spielerisch, verlockend, lustvoll – und ohne Leistungsdruck. Vielleicht darum nannte der Hamburger Chefchoreograph John Neumeier das kompliziert-persönliche Tänzerballett, das er zu Kammermusiken („Präludien“) von Lera Auerbach schuf, an den Musiktitel angelehnt „Préludes CV“. Also „Vorspiele CV“, wobei das Kürzel für „Cello“ und „Violine“ steht, aber auch „Curriculum Vitae“, also „Lebenslauf“, meint. Denn die Figuren darin tragen nicht nur die Namen ihrer ersten Besetzung. Weil es um ihre persönlichen Beziehungen als Kunstfiguren geht, ist das Stück eine Rarität im Schaffen Neumeiers: ein getanzter Einblick in die Spinde und die Herzen. Zudem hat das Stück politische Bezüge.

In die Vorarbeit zu den „Vorspielen“ fiel nämlich am 20. März 2003 die Bombardierung Bagdads durch die USA: der Beginn des Dritten Golfkriegs. Neumeier, Deutschamerikaner, erzählte bei seiner „Ballett-Werkstatt“ mit dem Titel „Ausnahmeballette“ im Januar 2013, dass er davon sehr berührt war und unter großen Kriegsängsten litt. Aggressionen und Kämpfe zwischen Menschen, die sich weh tun, flossen so ins Stück mit ein; die Verletzungen gelten allerdings auch für Interpretationen in Richtung „Geschlechterkampf“.

BEFINDLICHKEITEN STATT KRIEG

Imaginierte Befindlichkeiten spiegeln in den „Préludes CV“ im Kleinen, was im Großen zu Krieg führt. Nur können auf der privaten Ebene die Konflikte ganz anders, viel differenzierter betrachtet und ausgestanden, auch gelöst werden. Neumeier dokumentiert das mit einem lakonisch-humoristischen Text im Programmheft, der im Nachhinein als Libretto gesehen werden kann und der diffizile Beziehungswege im Stil eines Lifestyle Magazines nachzeichnet. Etwa so: „Jahre später tanzt Heather heimlich in einer Bar mit ihrem neuen Liebhaber Peter. Es wird nicht halten. Lloyd kommt. Erkennt er sie wieder?“

Und weiter: „Silvia ist immer noch allein. Ihre kleine Welt scheint nach einem plötzlichen Anfall von Angst und Aggression zusammenzufallen. Man erinnert sich an einen einfachen Volkstanz… doch die Anspannung ergreift wohl alle und bildet eine Mauer. Trotz allem scheint Lloyds Energie und Aktivität grenzenlos.“

Lera Auerbach, die junge Komponistin, musste indes schon 2003 zwei ihrer 24 Präludien umkomponieren, damit sie, tänzerisch gesehen, gut zum Ballett passen. Dass sie sich so gut auf Neumeiers Bedürfnisse einlassen kann, hat insgesamt viel Anteil an ihrem Erfolg als (Ballett-)Komponistin.

Préludes CV agiert nicht privatistisch, ist aber privat inspiriert.

Immer noch oder schon wieder allein? Die „Préludes CV“ von John Neumeier thematisieren alle Spektralfarben von Beziehungen, auch das etwa zu genießende Alleinsein davor oder danach… Foto: Silvano Ballone

Als Zuschauer nimmt man dann vor allem die Entwicklung wahr, die die Figuren auf der Bühne im Laufe des Abends durchmachen. Am Anfang steht: verzweifelte Stimmung. Krieg. Dann folgt der Alltag: SILVIA geht mit SASCHA aus, nachdem CARSTEN und SASCHA Streit hatten. CARSTEN findet ein neues Flirtopfer – seine spätere Ehefrau ELIZABETH. Wieder Krieg. Noch immer: Krieg. LLOYD war damals noch hinter HEATHER her. CARSTEN, im Hawaiihemd, gibt es plötzlich fünf Mal. Und nur LAURA hat den Mut, allen zu sagen, wie bescheuert sie eigentlich seien. ANNA mausert sich derweil zu einer richtigen Lolita, und letztlich haben die meisten hier noch ihren Spaß. Nur LLOYD zündet traumverloren eine Kerze für HEATHER an. Sie ist heute Ballettmeisterin und die Gattin vom Ballettchef in Kiel, ihr Klarname ist Heather Jurgensen – sie war eine der bislang bedeutendsten Neumeier-Ballerinen.

Natürlich sind die Liebschaften, die wir in „Préludes CV“ sehen, frank und frei vom Choreografen Neumeier und seiner Crew erfunden, es handelt sich um Wahrheiten aus der künstlerischen Schöpfung, aus der Kreation heraus, von privaten Bindungen und Trennungen lediglich inspiriert. Und auch, wenn Einiges deckungsgleich ist: Keineswegs geht es darum, den Privatkram der Tänzer rückhaltlos als Stückvorlage auszubeuten. Aber: Realistisch muten die Irrungen und Wirrungen der Herzen allemal an – das ist ja das Vorrecht gelungener Malereien, Tänze, Musiken, Gedichte…

So entwirrt sich sachte, aber sicher dieses Geflecht aus Er-und-Sie, Wir-und-Ihr, Du-und-Ich. Zwischendurch wird miteinander und umeinander gerungen, als sei das Leben ein einziger Liebestumult: Emotionale Verquickungen und folgenreiche Spontanaktionen herrschen vor. Da darf eine Primaballerina einfach mal das Bustier öffnen und Brust zeigen, um ihren Noch-Liebhaber zu provozieren, zu erschrecken, ihm Contra zu geben – das Entblößen des schönen Busens ist keinesfalls als Anbiederung oder Anlockung gemeint. Interessant.

Préludes CV agiert nicht privatistisch, ist aber privat inspiriert.

Eine Frau im Anmarsch, olalala – Krieg oder Frieden? Situationen wie aus dem wahren Leben gibt es in „Préludes CV“ zu sehen, dem „Ausnahmeballett“ von John Neumeier. Foto: Silvano Ballone

Ungewöhnlich auch die Instrumentierung. Das Cello und das Piano, welches im ersten Teil von der Komponistin selbst gespielt wird, korrespondieren ebenfalls ganz so, als seien sie Liebende oder ehemalige Liebende. Einzelne Tänzer hervorzuheben, geht hier übrigens gar nicht, denn alle haben hier ihren Platz, den sie auszufüllen wissen.

Es tanzen zwei Besetzungen, denn hier ist viel solistischer Raum für den aufrückenden Nachwuchs – und es ist erstaunlich, mit wieviel Fingerspitzengefühl auch die noch ganz jungen Tänzerinnen und Tänzer die Hosen runter lassen, bildlich gesagt.

Lusterfüllung oder Seelenprostitution? „Wir spielen immer“, so nannte der berühmte Film- und Theaterschauspieler Will Quadflieg durchaus selbstkritisch seine Memoiren. Bühnenkünstler leben stets schwankend auf einem Grat zwischen Glaubwürdigkeit und Lüge, Echtheit und Vortäuschung, Liebe und Nuttigkeit. Ist das etwa soul prostitution? Oder eine für die Kunst kultivierte Sensibilität, die im wahren Leben keinen Bestand haben könnte?

Préludes CV agiert nicht privatistisch, ist aber privat inspiriert.

Beziehungskunst auf vielen Ebenen: „Préludes CV“, voll spannungsreicher Pas de deux, beim Hamburg Ballett. Eine fotografische Impression von Silvano Ballone

Es ist indes die Aufgabe der Kunst, die emotionalen Handlungsmuster unbedingt sichtbar und sogar erspürbar zu machen – auch, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie dem Teufelskreis der Alltagslügen zu entkommen sei. Inwieweit die abwechslungsreichen Vorspiele von John Neumeier ein Stück weit auch Tragödie sind, darf jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. Aber letztlich müssen alle Beteiligten – im Guten wie im Bösen – erkennen: No way out! Und die Vorspiele auf der Bühne sind vielleicht vor allem im Hinblick auf das wahre Leben Vorspiele – na, denn man tau!

Am 21., 23. und 24. April in der Hamburgischen Staatsoper

 www.hamburgballett.de

 

 

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