Ein Mensch unter Menschen Standing ovations nach einer ganz „normalen“ Vorstellung beim Hamburg Ballett: Alexandr Trusch und Carolina Agüero im Jahrhundertballett „Nijinsky“ von John Neumeier

"Nijinsky" von John Neumeier

Im Klammergriff einer Beziehung: Nijinsky (Alexandr Trusch) wird lange von Serge Diaghilev (Edvin Revazov) beherrscht. So zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die Rhythmen hämmern, und auf der Bühne scheinen zig Ballette gleichzeitig stattzufinden. Chaos? Nein, alles ist in bester Ordnung. In „Nijinsky“ von John Neumeier, einem Jahrhundertballett und vielleicht dem besten Tanzstück überhaupt, zappelt die Ballettgeschichte neben originären Kreationen, eingebunden in eine Collage aus Denken und Vergessen, Erinnern und Fantasieren. Vaslav Nijinsky, die ukrainisch-polnische Tanzlegende, die mit den Ballets Russes von Serge Diaghilev den Bühnentanz erstmals zu einer Männersache qua Anmut machte, erkrankte auf dem Höhepunkt des Ruhms unheilbar an Schizophrenie. John Neumeier, Chefchoreograf vom Hamburg Ballett, ersann ein Stück über diese menschliche Tragödie, die zugleich die Tragik eines sensiblen Künstlers ist, der an einer rohen, gewalttätigen Weltpolitik leidet. Denn im Grunde ist es ein Leiden am Ersten Weltkrieg, dessen Antizipation und Erfahrung die Sphäre des Nijinsky erschütterte. Die jüngste Aufführung beim Hamburg Ballett– am 08. Februar 2019– machte diesen Aspekt besonders deutlich. Der tollkühn-elegante Primoballerino Alexandr Trusch brüllt, tobt, springt, hüpft, gleitet, rauscht darin als Titelheld von A bis Z in den ballettösen Wahn, begleitet, gestützt und behütet von der sanften, starken, schönen Primaballerina Carolina Agüero als Romola, seiner Gattin.

Dancewear Central bietet speziell Ballett-Journal-Lesern einen Rabatt von zehn Prozent an! Ob tolle Trikots, Tanzschuhe oder Tights – hier gibt es Markenware zu günstigsten Preisen. Einfach mal online shoppen! Foto: Anzeige

Zu Beginn wie am Ende zeigt das Bühnenbild (das hier ebenso wie die Kostüme und das Licht vom Choreografen und studierten bildenden Künstler John Neumeier stammt) einen Saal im Suvretta House in der Schweiz, wo Nijinsky seinen letzten künstlerischen Auftritt hatte, eine Privatvorstellung. Eine „Hochzeit mit Gott“ war es aus Sicht des innerlich bereits tief in ein Wahnsystem verstrickten Künstlers, in dem dennoch Kraft und Anmut um ein Überleben nach den Regeln der Kunst und der Zivilisation pokerten.

Doch sein bestialisches Gebrüll aus dem Off zeigt an, in welchem Zustand sich Nijinsky bereits befindet, bevor er wie in Hypnose ein zweiteiliges Solo offeriert, das uns mitnimmt in seine Welt. Trusch schreit hier rückhaltlos, und all der psychische Schmerz seiner Figur kulminiert zunächst in diesen heiseren, animalischen Lauten.

"Nijinsky" von John Neumeier

Die Erinnerung tanzt! So zu sehen mit Carolina Agüero als Romola in „Nijinsky“ von John Neumeier. Foto: Kiran West vom Hamburg Ballett

Bildschön und in samtenes Tiefrot gewandet, beruhigt seine Ehefrau den Tollwütigen, gibt ihm Kraft, immer wieder in diesem fast dreistündigen Stück – und muss doch hilflos miterleben, wie er abdriftet, immer weiter, wie er zurückkommt, nur um sich daraufhin seelisch noch weiter zu entfernen, in für andere nicht mehr erreichbare gedankliche Schichten. Isolation im Innersten.

Die Diffusion des Individuums – das ist Nijinskys Geschichte, und auch, wenn der Wahnsinn nicht alles in seinem Leben ist, so ist er hier doch der Weisheit letzter Schluss.

Die Wirkung der Parallelschaltung dessen zu abstrahierten Kriegsszenen ist immens – immens pazifistisch.

Solange Menschen sich gegenseitig umbringen – ohne Sinn und Verstand – wird das so sein.

Die Tanzkunst aber rettet uns für Augenblicke des überirdischen Glücks aus diesem Schlamassel – und gebiert Lösungen, wo andere nur schamhaftes Elend anzubieten haben.

Die besagte Vorstellung in der Hamburgischen Staatsoper dürfte sich von daher allen einbrennen, die sie erlebt haben. Und: Je öfter man dieses Stück anschaut, desto mehr Details und Querverbindungen offenbaren sich.

Das überhaupt sehr lesenswerte Programmheft zitiert die Titelfigur, den realen Nijinsky, einen Künstler, der zwar Tagebuch führte und international bejubelt wurde, der sich im Kern seines Wesens aber nicht verstanden fühlte: „Ich bin ein Mensch. Ich gehöre keiner Partei zu. Ich bin ohne Partei. Ich bin ein Mensch. Und alle sind Menschen.“

Nijinsky, ein Mensch unter Menschen – der im Grunde gar nicht mal so sehr anders ist als die geistig Gesunden, die ihn entweder versuchen zu retten oder hämisch immer noch tiefer in die Abgründe stoßen.

Neumeiers Stück macht sowohl die Eigenheiten von Nijinskys Scheitern klar als auch die Verwandtschaften seines Wahns zur Normalität.

"Nijinsky" von John Neumeier

Das Trio einer Männerbeziehung um Diaghilev (Edvin Revazov) mit Nijinsky (Alexandr Trusch) und dem neuen Favoriten Leonid Massine (Lereroy Boone) in „Nijinsky“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Dabei ist wichtig zu wissen, dass es eine lange Verbindung von John Neumeier zu diesem Thema gibt, und „Nijinsky“ ist auch nicht sein einziges Ballett über den legendären Ballerino, wenngleich das einzige abendfüllende. Denn Neumeier wurde von Beginn seines Interesses für Ballett an von der Lebensgeschichte Nijinskys inspiriert, und die Beschäftigung mit dem „Wundertänzer“ auch als tänzerischem und choreografischem Vorläufer riss nie ab.

Wie es John Neumeier im Jahr 2000 dann gelang, aus Musiken wie der Sinfonie Nr. 11 g-moll von Dmitri Schostakowitsch („Das Jahr 1905“ über den blutig niedergeschlagenen Sankt Petersburger Aufstand) und der „Scheherazade“ von Nikolai Rimsky-Korsakow ein Ballett als Kaleidoskop aus Erinnerungssplittern, Gegenwartsgefühlen und Zukunftsplänen zu machen, weiß nur er selbst.

Was man darin alles entdecken kann, würde mehrere Doktorarbeiten füllen, wollte man es explizit beschreiben und analysieren. Zitate anderer Neumeier-Ballette sind ebenso enthalten wie Bezüge zur allgemeinen Kunst- und Ballettgeschichte, vor allem natürlich zu jenen Balletten, die Nijinsky selbst tanzte oder auch als Choreograf kreierte.

Gleich zwei BALLETTSCHULEN stehen in Schleswig-Holstein zum Verkauf! Die hervorragend eingeführten Studios von ION CONSTANTIN – eine in Lübeck, eine in Neustadt – kosten jeweils nur 25.000 Euro. Die Ballettsäle – siehe Foto oben – sind rundum bestens ausgestattet und sind von montags bis freitags mit vielen Kursteilnehmern gut besucht. Der Kundenstamm, bestehend aus begeisterten Kindern und Laien, freut sich auf neue Lehrerschaft! Ideal für eine Tänzerin oder einen Tänzer – oder auch für ein Paar, das sich beruflich verändern möchte. Herr Ion Constantin und Frau Cornelia Constantin erwarten gern Ihren Anruf: 0172 – 421 83 90.  Und hier geht es mit einem Klick zur Homepage der Studios! (Foto: Anzeige)

Nijinskys bahnbrechende Ballette, wie „L’Après-midi d’un Faune“ und „Le Sacre du Printemps“, zeigen ihn als hochprofessionellen Choreografen, der bewusst mit Konventionen brach, um neue künstlerische Wege zu gehen.

Da steht Alexandre Trusch während der Uraufführung vom „Sacre“ auf einem Stuhl wie einst Nijinsky im Seitenbereich der Bühne, um seinen Tänzern den Takt anzugeben.

Privat jedoch bricht das Elend früh aus Nijinsky heraus.

Die Pas de deux von Nijinsky mit Romola, die in den wenigen guten und vielen schlechten Zeiten der beiden unverbrüchlich zu ihm hielt, sind hingegen von einer Delikatheit, wie sie nur John Neumeier zu zelebrieren vermag.

Als Sinnbild der zum Scheitern verurteilten Beziehung, um die dennoch gekämpft wird wie ums Überleben, setzt Romola ihren entrückten Gatten auf einen Schlitten, zieht diesen mühselig über die Bühne. Er springt ihr dennoch davon, aus tiefer Umnachtung heraus, bis sie ihn wieder stützen und halten muss.

"Nijinsky" von John Neumeier

Nijinsky und sein Entdecker Diaghilev: Alexandr Trusch und Edvin Revazov in „Nijinsky“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Schließlich zieht sie ihn auf dem Schlitten in jene Szene hinein, die der Ausgangspunkt dieses fulminanten Bilderbogens war: als Realität fungiert die Rahmenhandlung von Nijinskys letztem Auftritt im Suvretta House, wo zwischendurch sogar der Kronleuchter kunstvoll auseinanderzuklappen droht, weil die Welt sich zerteilt wie bei mehreren Erdbeben zugleich.

Carolina Agüero trägt all diese Last einer Ehe mit so viel Würde und Anmut, mit so viel Grandezza in jedem Blick und aller Chuzpe in den zarten Bewegungen, dass man geneigt ist, ihr den Status einer Heiligen anzutragen.

Wenn sie mit Nijinskys Arzt (Dario Franconi als ein eher smart helfender denn als notgeiler Mediziner) ein Liebesverhältnis beginnt, um sich von den Strapazen ihrer irren Ehe zu erholen, dann fühlt man mit Romola, der es nicht gelingen kann, ihren Vaslaw aus den Fängen der inneren Dunkelheit zu befreien.

"Nijinsky" von John Neumeier

Ein Pas de deux einer hochkomplizierten Ehe: Nijinsky (Alexandr Trusch) und Romola (Carolina Agüero) in John Neumeiers kongenialem Stück über den Welttänzer. Foto: Kiran West

Es ist ihre Stärke, die Vaslaw überhaupt noch lange die Kraft und Möglichkeit gibt, in seiner Kunst ganz bei Trost zu überleben.

Doch einen nachhaltigen Dank gibt es dafür nicht. Nijinsky wird, wie viele psychisch Kranke, gewalttätig, und im Wechsel mit dem Faun, den er einst tanzte und der die triebhafte Männlichkeit verkörpert, vergewaltigt er seine Ehefrau.

Liebe muss sie sich bei einem anderen holen – ihr einst so virtuoser Ehemann verkümmert emotional immer mehr, erstarrt oder rastet aus, und all diese Details sind in stilvoll-glaubhafte Schritte gegossen.

"Nijinsky" von John Neumeier

Im magischen Lichtkreis… Alexandr Trusch als im Wahn versinkender Starballerino Vaslav Nijinsky beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Der Krieg rückt an, immer wieder, verkörpert von dreißig schönen jungen Männern, die in ebenso desolatem wie scheinbar geordnetem Zustand sind: mit offener Militärjacke über der nackten Brust zur Unterhose.

Das Ensemble leistet auch hier soviel, als wäre dieses Corps ein Tanzstück für sich.

Außer den schon Genannten brilliert außerdem Edvin Revazov als in die Kunst wie in die Jungs verliebter, verwegener Impresario Diaghilev, der in Männer-Paartänzen wie auch in Pas de trois den Zwiespalt eines machtvollen Verlassenen zeigt. Denn Nijinsky und Romola heiraten während einer Tournee, ohne ihren Chef davon vorab zu informieren. Diaghilev, der nicht nur der Boss, sondern auch der Liebhaber seines Startänzers ist, fühlt sich zutiefst beleidigt und wirft Nijinsky aus der Truppe.

"Nijinsky" von John Neumeier

Aleix Martínez tanzt ergreifend Stanislaw, den Bruder von „Nijinsky“, der im Ballett von John Neumeier in einem furiosen Solo seine zerstörte Seele offenbart. Foto: Kiran West

Aleix Martínez als Nijinskys ebenfalls und schon in ganz jungen Jahren geisteskrank gewordener, diesen Prozess der Erkrankung in einem ergreifenden Solo zeigender Bruder Stanislaw reißt ebenfalls mit und eröffnet einem schon mit wenigen Gesten das ganze Ausmaß des Leidens und der Zerstörung, von denen Stanislaw betroffen ist. Es ist ein Drama für sich, das man hier auf höchstem Niveau durchlitten sieht.

"Nijinsky" von John Neumeier

Marcelino Libao als „Goldener Sklave“ in „Nijinsky“ von John Neumeier: eine laszive  Traumfigur aus der Ballettgeschichte. Foto: Kiran West

Aber auch  Xue Lin als ätherisch elfenhafte Ballets-Russes-Primaballerina Tamara Karsavina, Leeroy Boone als lasziver Joseph und „Jeux“-Tennisspieler (und späterer Choreograf) Leonid Massine, Borja Bermudez als virtuos-tragikomischer Petruschka und Marcelino Libao als Goldener Sklave, der in Libaos Interpretation vom Tempeltanz inspiriert ist, sowie auch als sinnlicher Faun aus der Traumwelt des Debussy wissen nicht nur zu überzeugen, sondern nachgerade zu berauschen mit all den verschiedenen tänzerischen Welten, denen ihre Figuren entstammen und die sie tanzenderweise heraufbeschwören.

Eine Extraposition nimmt hier Lucia Ríos ein, die sehr gekonnt in einer Vielzahl  verschiedener Partien die Nijinsky-Schwester Bronislava sowie diverse künstlerische Gefährtinnen Nijinskys mimt, mit Tanzstilen, die so unterschiedlich sind wie die Welt des Balletts es durch das Erscheinen der Nijinskys auf der Oberfläche des Erfolgs nunmal wurde.

"Nijinsky" von John Neumeier

Bronislava Nijinska, getanzt von Lucia Ríos, entwickelt einen eigenen choreografischen Stil – und ist in Nijinskys Gedankenwelt eine Schlüsselfigur. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

So werden in diesem Stück unter Aufbietung vieler verschiedener Temperamente und Tanzqualitäten zugleich die Innen- und Außenwelten von Nijinskys Kosmos illustriert, während sich wie nebenbei ein Abriss der Gründungsjahrzehnte des modernen Balletts  ergibt.

Musikalisch wird das betont, durch Partituren aus genau jener Zeit.

Simon Hewett, der junge Erste Dirigent vom Hamburg Ballett, erhielt nach der Pause außerdem einen Extra-Applaus; man war froh, ihn nach einigen Wochen der Abwesenheit wieder als musikalische Führungskraft im Orchestergraben zu wissen.

Bis zum dramatischen Schlussakt, nämlich dem Endstück von Nijinskys letztem Tanz im Ballsaal im Suvretta House, steigert sich die Spannung. Mit Stoffbahnen in Rot und Schwarz schafft sich Nijinsky über Kreuz laufende Teppichwege; als er sich diese Stoffe um den Hals wickelt, verschmilzt er optisch mit seiner Umgebung.

"Nijinsky" von John Neumeier

Carolina Agüero tanzt und spielt die schicksalhafte Figur der Romola in „Nijinsky“ nicht nur, sondern lebt sie. Erschütternd! Foto: Kiran West

Im Hintergrund leidet seine Frau, Nijinskys Gattin Romola, mit ihm.

Er würgt sich, er röchelt. Alexandr Trusch verzichtet aber dieses Mal auf das laute Hecheln, das er im Oktober 2016 bei seinem Debüt in dieser Rolle als wirksames Stilmittel zusätzlich zum Tanz auffuhr. Jetzt leidet sein Nijinsky still, er ergibt sich den dröhnenden Klängen Schostakowitschs, und der letzte Rest Menschlichkeit scheint währenddessen aus ihm zu weichen. Übrig bleibt ein Mann, der wie eine Skulptur dasteht: ein lebendes Kreuz, mit hilflos ausgestreckten Armen und Händen, die mitten in der Bewegung erforen.

Standing ovations beim Schlussapplaus sind der spontane Dank des Publikums für diese fantastische Vorstellung. Da es sich um keine Premiere noch um eine Wiederaufnahme handelt, sondern um eine ganz „normale“ Vorstellung, ist das ein außerordentliches Ergebnis.

"Nijinsky" von John Neumeier

Alexandr Trusch vom Hamburg Ballett tanzt die Titelfigur in „Nijinsky“ von John Neumeier mit atemberaubender Anmut und Ausdruckskraft. Foto: Kiran West

Der Eindruck war so stark, dass man hofft, die Vorstellung von „Nijinsky“ im Sommer während der 45. Hamburger Ballett-Tage wird in dieser Besetzung stattfinden. Vor allem Trusch und Agüero vermitteln darin soviel von der Disperatheit und doch auch Liebe in einer Beziehung, dass man nicht darauf verzichten möchte.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

Unterstützen Sie das Ballett-Journal! Spenden Sie zu Weihnachten nicht irgendwohin, wo sowieso schon viel gespendet wird und wo staatliche Unterstützung fließt. Spenden Sie dahin, wo Sie und Ihre Liebe zum Ballett etwas von haben! Kein Medium in Deutschland widmet sich so stark dem Ballett wie das Ballett-Journal! Sagen Sie dazu nicht Nein. Lehnen Sie das nicht ab. Zeigen Sie, dass Sie das honorieren! Und freuen Sie sich über all die Beiträge, die Sie stets aktuell gelistet im „Spielplan“ hier im Ballett-Journal finden. Wir danken Ihnen von Herzen!

ballett journal