Tänze in die stählerne Unendlichkeit Ballett für lau, aber exquisit: „Portrait Richard Siegal – Noise – Signal – Silence“ mit dem Bayerischen Staatsballett live im Internet

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

„Portrait Richard Siegal“ heißt der Tanzabend, der live aus München online übertragen wurde – das Portrait von Richard Siegal hier im Bild entstammt einem Interview mit ihm, das in der Pause lief. Quelle: Bayerische Staatsoper / Videostill: Gisela Sonnenburg

Der irgendwie alterslos wirkende schlanke Mann, der ein graues Jackett über dem geöffneten weißen Hemd trägt, hat eine merkwürdige Aura. Einerseits schaut Richard Siegal, Allround-Künstler und Choreograf, wie ein Mathematiker oder Logiker drein: neugierig und gespannt, dabei aber ungeheuer gefestigt. Andererseits verrät seine zarte Mimik und behutsame Gestik den Ästheten in ihm. Da fließt die Energie sozusagen schon fast sichtbar ganz harmonisch, kein Rucken und kein Zucken stört sie.

Wer nun aber entsprechend gleichmäßigen Tanz aus seiner Choreografenhand erwartet, liegt falsch. Allerdings ruckelt und zuckelt es bei Siegal keineswegs zufällig, sondern – dem festen Blick eines Logikers entsprechend – wohl dosiert und durchaus berechenbar mit Feingefühl austariert.

Bei einem kostenlosen Live Stream am Freitagabend im Internet zeigte das Bayerische Staatsballett seinen dieses unter Beweis stellenden, jüngst in München premierten Abend: „Portrait Richard Siegal – Noise – Signal – Silence“ ist er betitelt und vereint drei Werke des umtriebigen Künstlers, der früher bevorzugt außerhalb klassischer Opernhäuser seine Crossover-Werke präsentierte.

JOHN CAGE ALS WAHLVERWANDTER

„Ich stehe auf den Schultern von John Cage“, sagte Siegal in einem Interview mal – und er meint damit, dass er der modernen Musik, die vor allem mit maschineller oder elektronischer Hilfe zustande kommt, ästhetisch verpflichtet ist. Allerdings, das sei vorab gesagt, sind die Musiken der drei Stücke zugleich auch die Geißel des ansonsten ungeheuer mitreißenden Abends: Nicht jeder Komponist, der einen Computer oder einen Syntheziser bedienen mag, kann es mit der Genialität von Cage auch nur im entferntesten aufnehmen.

So half es mir, während des Live Streams versuchsweise den Ton abzuschalten – und anstatt von langweiligem Gefiepe, Gepiepse und Techno-Rhythmen genervt zu sein (die man vermutlich nur unter Drogeneinfluss so richtig toll finden kann), war der Tanz in der Stille absolut erbaulich.

Noch besser kam er zur Wirkung, als ich akustisch die „Walküre“ von Richard Wagner dazu schaltete – die hysterische Dramatik Wagners und die volltönenden, bombastischen Akkorde lieferten einen reizvollen Kontrast zu Siegals hochmoderner, oft roboterhaft stilisierter Körpersprache. Rhythmisch ging es sich vorzüglich aus – kein Wunder, denn was auf monotonen Techno funktioniert, hat mit Wagners zumeist brav ausgezählten Takten ebenfalls keine Probleme.

Natürlich wäre neu geschriebene Musik noch besser. Und es gibt auch nicht wenige begabte Komponisten für neue Musik, im U- wie im E- und auch in deren Schnitt-Bereich. Es gibt ja sogar solche, die sich speziell mit Noten und Sounds für Bühnentanz beschäftigen. Aber Carsten Nicolai und die anderen, die hier für Siegal ziemlich oberflächlich ein paar Schockerklänge abmischten, würde ich wirklich bestenfalls in die Rubrik von Hilfsmitteln einordnen, keinesfalls aber als Musiker ernst nehmen können. Daran krankt der Abend – ansonsten hat er viel zu bieten.

„Unitxt“, der erste Stück, entstand 2013 im Auftrag des Bayerischen Staatsballetts. „NOISE“, Lärm, diese Buchstaben erscheinen am Bühnenhorizont. Ein Tänzer erscheint, dann zwei, dann ist es eine Gruppe. Es piept, scratcht, wummert, aus dem Off kommt eine Männerstimme hinzu, die in einer englisch-französischen Melange Textfetzen verkündet.

Zahlen sind dabei, es handelt sich wohl um etwas Technisches. Bühnenbild und Kostüme werden unter „Industrial Design“ subsummiert, in der Ägide von Konstantin Grcic. Es ist aber nicht besonders aufregend, auch nicht sehr „industriell“ – hier hat man den Verdacht einer Künstlermacke. Immerhin stört sie nicht weiter.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Zwei rasante Tänzer vom Bayerischen Staatsballett in „Unitxt“ von Richard Siegal: Die Auslassung des „e“ darf es hier nicht persönlich nehmen… Foto: Wilfried Hösl

Graublau und Blaugrau sind hingegen die farblichen Stimmungen, die das Bühnenbild und das Licht (sehr gekonnt: Richard Siegal) vermitteln. Die Frauen werfen die Beine hoch, die Männer gleiten und springen durch den abstrakten Raum. Die choreografische Nähe zu William Forsythe ist unübersehbar.

Immer aggressiver wird die Stimmung. Das Licht wechselt – streckenweise wird es grell wie in einem bleu ou gris erleuchteten Riesensolarium. Ein Terrarium für diese seltsame Spezies homo ludens…

Ein status intermedius technicus bahn sich an, ein technischer Zwischenzustand. Der Mensch ist hier nicht mehr nur Mensch, sondern auch Maschine. „SIGNAL“ – das Wort erscheint für den zweiten Teil zu dessen Beginn im Hintergrund. Zwei Männer und ein Mann bevölkern in einem Affentempo die Szene, hart und hoch wird die Frau von den Jungs durch die Gegend geschleudert.

Aber sie wird immer noch geworfen, nicht verworfen. Für die Pirouetten der Dame partnern die Männer sie abwechselnd. Sie scheint da keine Präferenz zu haben.

Liebe wäre zwar was anderes. Aber Liebe ist in so einer Atmosphäre auch eher nicht mehr möglich. Vielmehr geht es ja nur noch darum, einen kalt-futuristischen Alltag zu bewältigen, das Miteinander-klar-Kommen steht an erster Stelle, nicht das Sich-nahe-Fühlen oder das altmodische Aufeinander-Eingehen. Es ist ein Tanz in die stählerne Unendlichkeit unserer progressiven Weltverramschung.

Sagenhafte Schnelligkeit und Akrobatik prägen denn auch die folgenden Tanzpassagen.

Ein Pas de deux entwickelt sich, schwupps, mit Sprüngen und Hebungen. Darin kommt die Dame angesprescht, hüpft in einen makellosen Herrenspagat, das Gesicht und die Vorderseite zu ihrem Partner gewandt. Schwupps, dann packt er sie und kreiselt mit ihr, die er jetzt wie ein Paket zusammengepresst in den Armen hält, durch den Raum. Der ist immer noch graublau, blaugrau. Mal heller, mal dunkler.

Man könnte sagen: Das Leben hier ist taubengrau, falls es denn überhaupt ein Leben ist und nicht etwa ein Trip in eine jenseitige Sphäre, in der Menschen und Maschinen austauschbar geworden sind. Oh, du Traumland aller Sci-Fi-Fetischisten!

Heiß, schnell, zuckelnd, brodelnd wird die Atmo. Das Dasein als zeitlose Ansage von Unendlichkeit. Dorthinein trudelt frau in einer brillanten Kette aus Chainés – doch am Ende dieses Akts latscht ein Mann wie ganz privat einfach lässig über die Bühne, von rechts nach links, man muss lachen, ganz leise.

„SLILENCE“, die unvermeidliche Stille wird mit Versalien angekündigt. Aber still ist es nicht wirklich. Ein gestreckter Ballerinenfuß im Spitzenschuh stampft energisch mit der Zehenspitze auf, immer wieder. So viel Schönheit und Nachlässigkeit gepaart könnten die Welt erzittern lassen!

Vor puderleicht wirkendem Grellhellblau stehen die zwölf Tänzerinnen und Tänzer des Stücks wie schwarze Silhouetten. Schnell und hurtig ist das Schlusstempo – wow, Applaus! Das begeisterte Johlen des Publikums trägt in die 25-minütige Pause.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Dionysisch grimassiert es von den Stuckwänden: Das Innere des Opernhauses in München ist bei einer Übertragung via Live Stream gut zu studieren. So bei „Portrait Richard Siegal“ am 8. Mai 2015. Quelle: Bayerische Staatsoper / Videostill: Gisela Sonnenburg

Wer nun nicht zum Kühlschrank wandeln mag, um sich zu laben, bleibt am Computerbildschirm und genießt einen Hinweis auf die Oper „Orfeo“ in der Regie von David Bösch (der ein kluger Kopf ist). „Er hat sein Leben vertrauert“, sagt Bösch über Orpheus, der als Witwer nur einen Gedanken hat: zu seiner toten Frau in diese andere finstere Welt zu gelangen, um sie ins Leben (mit ihm) zurückzuholen. Ab 18. Juli ist die Oper von Monteverdi bei den Münchner Opernfestspielen zu erleben. Ein nützlicher Hinweis, zumal für Klassik-Fans, die von den simplen Beats der Siegal-Stücke nicht nur erbaut sind.

Dann gibt es ein aufschlussreiches, aufgezeichnetes Interview Siegals zu sehen, das Bettina Wagner-Bergelt, die versierte Ballettdramaturgin und Stellvertreterin von Ivan Liška, Münchens Ballettdirektor, geführt hat.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Ballettdirektor Ivan Liska erklärte mit hervorragender Rhetorik und plastischer Wortwahl vorab und in den Pausen die komplizierte, aber furiose Tanzkunst von Richard Siegal. Quelle: Bayerische Staatsoper / Videostill: Gisela Sonnenburg

Liška hatte ja in seiner Einführung zum Abend charmant – wie immer – nur das Beste versprochen. Demnach war eine voll befahrene Straßenkreuzung zur Hauptverkehrszeit die Inspiration für „Unitxt“, und dass dem Titel das „e“ fehlt, ist wohl eine Referenz an die demonstrierte Austauschbarkeit von Text und Zahlen, Text und Wortfetzen, Text und Rhythmus. Man sollte darum keine Diskriminierung des „e“ wittern – der ausgelassene Buchstabe sollte seinen Wegfall nicht persönlich nehmen.

Richard Siegal sagt zudem, die drei Stücke des Abends seien zwar „nicht untrennbar, aber sie gehören zusammen“. Man kann sich also auf was gefasst machen. Ein bisschen wirkt der angenehm disziplinierte Siegal wie ein moderner Clown, wie jemand, der unbedingt ehrlich sein will, aber auf seine Art.

Er habe von seinem Team, also den Designern und Samplern, mit denen er öfters arbeitet, gelernt, sagt er. Ja, warum auch nicht. Man lernt immer von Leuten, wenn man die Augen und die Ohren offen hält. Für „In A Landscape“, das nächste Stück, recherchierte Siegal zudem viel unter freiem Himmel. „Etwas, das ich in den letzten 25 Jahren vermisst habe“, bekennt der Choreograf, denn er verbrachte die Zeit – tanztypisch – vor allem in Studios und Theatern. Seine Erfahrung, die er aus der freien Wildbahn nach ausreichender Reflexion zurück in den Ballettsaal trug: „Der Lärm ist nicht mehr Lärm, sondern Vokabular.“ Zu Musiken verarbeitet, würde aus Lärm viel mehr: „Verkehrslärm hat dann eine Tonalität.“

Also auf zum Mittelstück dieser Tripple Bill, das zugleich die eigentliche Sensation darstellt, zumal es die Uraufführung im Programm ist. Die Kostüme – rosa-grau-schwarz gemusterte Netzanzüge – stammen dieses Mal von Alexandra Bertaut, die offenkundig was von Mode versteht.

Alle 15 Tanzkünstler auf der Bühne tragen „uni“, also das gleiche Muster, den gleichen Schnitt – aber ihre unterschiedlichen Körpergrößen und Figuren verleihen der Nicht-Uniform individuelle Noten. Die Augenpartie ist mit Rosagrau heftig geschminkt, so breitflächig wie für die Peking-Oper.

„Fast pflanzenartig“ würden sich die Tänzer jetzt bewegen, hatte Ivan Liška freundlich in seiner Eingangsrede gesagt. Die Leitfrage des Stücks sei die nach der Definition von Landschaft.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

„In A Landscape“: die Aufsehen erregende Uraufführung des Abends erinnert an ganz große Oper – mit einem Licht- und Bühnenbildkonzept, das sich den tanzkünstlerischen Intentionen unterordnet und dennoch einen eigenen Status hat. Foto: Wilfried Hösl

Landschaft ist also im Sinne der Landschaftsmaler gemeint – und nicht im Sinne der großstädtischen Halbundhalb-Trümmer aus abgerissener Armut und megagroßem Reichtum, wie sie zunehmend die wachsenden Metropolen weltweit besiedeln.

Zurück zur Natur! ICH BIN EIN BAUM. ODER EIN EFEU. ODER DAS GRAS, DAS LANGSAM, ABER STETIG ÜBER ALLES WÄCHST. Das war jetzt von mir, ein spontaner lyrischer Anfall, auch zu so etwas ist Richard Siegal als Muse offenbar tauglich.

Dabei fällt mir die Legende vom liebestollen Zeus ein, der die Nymphe Daphne verfolgt. Diese wird, zu ihrem Schutz, von einer hilfreichen weiblichen Gottheit in einen Baum verwandelt – aber Zeus gibt nicht nach, sondern gibt sich die Gestalt eines Efeus. Als solcher – vermutlich ist Zeus als Göttervater sich als eine außerordentlich schnell wachsende Sorte Grünzeug vorzustellen – umrankt und umarmt und umklammert er den Daphne-Baum. Mensch, Natur, Geschlecht, Pflanzlichkeit – im Mittelalter unterschied man zudem zwischen menschlicher, tierischer und pflanzlicher Liebe.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Ein starker Pas de deux mit assistiertem Ausfallschritt: „In A Landscape“ von Richard Siegal bietet Hochleistungstänzern beste Gelegenheiten, ihr Können jenseits rein klassischer Ballettgestik zu zeigen. Foto: Wilfried Hösl

Die vegetative Liebe, also die pflanzliche, ist die zarteste, geschichtlich aber auch älteste. Wenn eine Blume sich dem Licht zuneigt oder – was es gibt – die Klänge von Mozart liebt (oder auch die von Stockhausen oder Cage, nicht aber die von Techno-Gewummere), so ist das vermutlich schon der Beginn von LIEBE.

So sachte, wie sich Blumen neigen, muten auch die schlängelnden Armbewegungen zu langgezogenen Tendu-Ausfallschritten an, die jetzt eine Frau auf der Bühne in Ruhe mit meditativer, dennoch nach außen geöffneter Konzentration vollführt. SIE IST EINE CLEMATIS!

Sie ist außerdem ganz allein mit sich – und einem kleinen Licht-UFO, das herum schwirrt und von der Tänzerin abzulenken versucht. Sie ignoriert es und verlangt somit stillschweigend von uns, es ihr gleich zu tun. Tatsächlich entspinnt sich ein spannender innerer Monolog im Zuschauenden darüber, ob er nun nur die Tänzerin besehen sollte oder ob er auch ab und an dieses stumm fliegende Lichtbiest im Auge behalten müsse.

Ich taufe das unbekannte Objekt „Lichthubschrauber“. Es könnte allerdings auch eine Drohne sein – Kinderspielzeug oder Rüstungswerk, wer weiß das heutzutage so genau?

Dezent schraubt die grazile Tänzerin ihre Hüften vor und zurück, sie tanzt auf Zehenspitzen in schwarzen Spitzenschuhen (die ja immer etwas diabolisch anmuten), und mit der Grandezza einer überlegenen Ausgestoßenen schiebt sie sich durch den Raum.

Die Musik verlangt wieder nach Wagner als Substitut, denn auf zu wenige Klänge (simples Piepsen, Klingeln, Schrabbeln) ist viel zu viel Hall gelegt. Akustische Hochstapelei ist das – Siegal ist allerdings dafür berüchtigt, in solche Pseudominimalismen viel Interpretation hinein zu legen. Ich sage ja, der Mann hört das Gras wachsen…

Ein Tänzer kommt jetzt auf die Bühne. Der Paartanz, der sich entwickelt, ist eine Herausforderung für die Hochleistungstänzer vom Bayerischen Staatsballett: elegisch und stetig verbindlicher, wächst diese Beziehung sekündlich.

Ihr Höhepunkt ist erreicht, als sie, die Frau, ihre Hände wie eine chinesische Porzellanfigur seitlich aufstellt und dazu mit geschlossenen Beinen den Spitzentanz trippelt. Er, der Mann, zieht mit einem unsichtbaren Faden an ihrer linken Hand – sie folgt ihm nach. Dann gibt er ihr wagemutig einen kleinen Stups – sie trippelt wie ein Perpetuum mobile eine kleine Strecke von ihm weg. Süß sieht das aus. Mann und Frau beim Sichbeschnuppern, dieses Mal mit ironisch verteilten Rollen, und man hat die ganze Zeit das Gefühl, dass der Mann macht, was die Frau will. Schön!

MISSVERSTÄNDNISSE KÖNNEN AUCH HELFEN

Ein kleiner Trupp Tänzerinnen wird auch neugierig und huscht herbei. Es entstehen Posen, wie sie im Museum die Geschöpfe der Bildhauer zeigen. Das Ganze hat eine nachgerade antike Anmutung. Oder eine neoklassizistische. Der Däne Bertel Thorvaldsen fällt einem ein, der mitten im 19. Jahrhundert weiße Marmorstatuen im altrömischen Stil erschuf. Dabei waren die Figuren der Antike knallbunt bemalt und keineswegs in edler Einfalt kalkweiß. Aber das wussten die Romantiker und Idealisten vor zweihundert Jahren noch nicht. Man fragt sich, ob Schinkel und Co. sonst überhaupt in dem bekannten klassizistischen Stil tätig geworden wären. Schließlich war ihnen das makellose Weiß als unschuldiges Ausgangsmaterial die höchste Wertigkeit ihrer Kunst.

Missverständnisse sind ja oft hilfreich. Wer zum Beispiel dieses hingepfuschte, penetrante, plakative Piepen vom Tonband allen Ernstes mit den hehr durchkalkulierten Klängen von John Cage vergleicht, hat entweder Cage nie verstanden oder möchte ein Overstatemement wagen. Vielleicht meinte Siegal aber bei seinem eingangs zitierten Bekenntnis zu Cage auch nur, dass Cage seine Ästhetik geprägt habe. Ein Vergleich mit seinen komponierenden Kumpels muss dann nicht unbedingt tragfähig sein. Es ist nur schade, dass die Chance auf einen rundum gelingenden Tanzabend mit so oberflächlicher Tönerei verplempert wurde.

EIN TADEL AN DEN CHOREOGRAFEN FÜR DIE MUSIKAUSWAHL

Siegal gehört hierfür ordentlich gemaßregelt. Wenn ihn dieses dümmliche Gewummere persönlich inspiriert – was durchaus sein kann und auch legitim ist, weil sich sein vermutlich kastrationsängstliches Künstler-Ego von so simplen Musiken offenkundig nicht unterdrückt, erdrückt oder überfordert, sondern ermuntert fühlt – dann kann er ja danach planen, choreografieren und proben. Aber für die Vorstellungen sollte er sich die Mühe machen, Klänge zu finden und draufzulegen, die auch Menschen ohne Alkohol- oder Drogenproblem spannend finden können. Da sind dann Einfalt und Einfältigkeit plötzlich doch zwei grundverschiedene Dinge.

Nicht wenige Choreografen arbeiten so: Sie entwerfen und proben nach der einen Musik und performen nach einer anderen, die sie meist von Beginn an auch schon im Blick beziehungsweise im Ohr für die Sache hatten. Funktioniert prächtig, keiner merkt was, und selbst wenn – man probt ja auch nicht im vollen Kostümornat, sondern benötigt lockere, unauffällige Kleidung während der Kreationsproben. Genau so ergeht es manchem Schöpfer auch mit der Musik: Er will da keinen akustischen Prunk, sondern das Pure, wonach er die Körper gut arrangieren kann. Nur taugen Probenklamotten in den allermeisten Fällen eben nicht als Kostüme für die Vorstellungen. Und genau so sollte für die Show eine etwas anspruchsvollere und weniger lapidare Beschallung verwendet werden als die musikalischen Schlampenklamotten.

Musik und Tanz können nämlich vielschichtige Beziehungen eingehen, sogar dann, wenn sie über einen Umweg vermählt werden. Um eine bestimmte Stimmung zu beschwören oder zu konterkarieren, sind bekanntlich auch Proben ohne Musik möglich – mitzählen tut man ja beim Ballett sowieso zumeist.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Ein Solo mit Brillanz und Nonchalance: Anfang und Ende von „In A Landscape“ skizzieren die weibliche Situation des Alleinseins, und zwar auf höchstem Niveau. Foto: Wilfried Hösl

Zurück zur „Landscape“. Deren Tempo, im Grundton ist es das Adagio, steigert sich, aber die Bewegungen bleiben im Schmeichelmodus. Da gibt es nix Abgehacktes, nix Zerfetztes, auch die akrobatische Arroganz von „Unitxt“ bleibt außen vor. Es ist Zeit zum Genießen der einzelnen Figurinen, alles fließt, sogar die Synthi-Klänge wirken wie aus dem Weichwaschgang. Softness forever!

Von oben fährt aus dem Schnürboden passenderweise ein hellblau leuchtendes Objekt hernieder, stoppt aber oberhalb des sich dort befindlichen graublauen Wandaufbaus. Wie ein Stück Schwert wirkt das Blaue, eine Schwertklinge eines Riesens müsste es sein. Fafner fällt einem ein, wenn man schon mal gedanklich bei Richard Wagner war. Wirklich. Richard und Richard ergeben die optimale Perversionsattraktion, beide können sich aneinander reiben und schubbern und die nötige moderne Spannkraft verleihen. Meiner Meinung nach.

Zwei Paare tanzen nun synchron, sanft, fast behaglich gehen sie miteinander um, aber insgesamt sind ihre Bewegungen und Hebungen schon etwas schnittiger als zu Beginn dieses Stücks. Ein Paar bleibt übrig, andere Tänzer laufen nicht ohne Emotion, die Stimmung scheint gehoben, einfach übers Feld.

FELD. Man denkt und schreibt einfach mal eben FELD. Obwohl von feldtypischen Ähren oder Feldstoppeln, von Äckern oder Stauden hier wirklich nix zu sehen ist. Aber man fühlt es, das FELD, das weite Feld, das schon Goethe und Fontane in jeder Hinsicht zu faszinieren wusste.

DEEP FIELDS nannte auch Martin Schläpfer seine große Uraufführung im letzten Jahr. Irgendwie sind die Felder, die der Menschheit langsam ausgehen, weil weltweit viel zuviel Monokulturfeldanbau die Böden dauerhaft auslaugt, schwer en vogue. Apropos Mode:

Das Solo einer Frau mit feinen, edlen, Mannequin-haften Tendus wird durch das Hinzukommen eines Mannes – wie schon mal an diesem Abend – zu einem Pas de deux. Der Mann klatscht im Sprung in die Hände, er scheint vergnügt – dann ist er allein, kann sich austoben. Und auch mal mit dem abgewandten Gesicht an der Wand stehen, fast unschlüssig, was er nun tun will. DIE ECKWAND IST BLAU.

Und erinnert an einen Kubus, vielleicht an eine fröhliche Variante dieses Dingsdas in Mekka. Oder es handelt sich um einen Geräteschuppen, was bei der Vorstellung von freier Natur – die nicht unbedingt wild sein muss – auch passend ist.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Ein Mann, der tanzt wie eine Katze – in „Metric Dozen“ von Richard Siegal beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Ein katzenhaftes Männersolo beendet diese Passage, mit kleinen, Bournonville-akkuraten Ronds de jambe en l’air zwischen den Sprüngen wird auch technisch was Besonderes daraus. Zwei vorwitzige Frauen entern das Feld, bis ein Mann alle Aufmerksamkeit auf sich zieht: rasante Pirouetten in Stehposition gelingen ihm. Puh! Soviel Männlichkeit auf so kleinem Raum…

Ein weiteres Paar lässt die Frau ihr Penché üben, dann kommt ein weibliches Solo mit Battements und Piqué-Drehungen zum Zuge. Es ist, als würden Einzelteile des klassischen Trainings ducheinander gewürfelt und verwoben. Dann kommt es mit zwei Männern und einer Frau wieder zu einem Terzett (Siegals heimliche Lieblingskonstellation, scheint mir).

Plötzlich ist auch der Lichthubschrauber wieder da. Ein Mann kniet. Dann geht er ab.

Ein Paar. Kommt rein. Ins FELD. Sie haben vielleicht Sex miteinander, aber es ist etwas unpersönlich. Vielleicht stehen sie auf Swinger-Clubs und sind zu zweit nicht ganz gut drauf. Eine Szene wie von einem modernen Campingplatz. Zwei Paare üben dann bei Lichtwechsel den Partnertausch. Aha. So geht es ihnen wohl besser.

Der Schluss geht zurück zum Anfangsbild: Eine Tänzerin in ihrem floralen Dessin steht in der fünften Position auf Zehenspitzen – dann geht sie ab, lässig, behaglich, so, als hätte sie gerade einen netten Ausflug ins Grüne hinter sich.

Und so fühlt sich auch der Zuschauer: Man ist etwas erschöpft, zufrieden, glücklich – und möchte eigentlich nach Hause gehen oder den Laptop abschalten.

Aber nach 15 Minuten Pause kommt noch ein Drittes. Ivan Liška verspricht wieder was, das man nur zu gern glauben möchte: Das Stück „Metric Dozen“, Metrisches Dutzend (das sich auf keine Tänzeranzahl bezieht, sondern auf ein mathematisches Problem), habe genau so eine hohe Qualität wie die ersten beiden Stücke, die wir schon gesehen haben.

Das Stück für zehn Tänzer entstand 2014 in Marseille, und vier Tänzer von dort sind als Unterstützung nach München gereist. Darunter die auch als Ballettmeisterin coachende, wasserstoffblondgefärbte Katharina Christl, die sichtlich stolz darauf ist, erst zu coachen und dann zu tanzen. Das hat sie schon in Marseille so gemacht, jetzt also auch beim Bayerischen Staatsballett. Bravo!

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Katharina Christl ist sowohl Coach als auch Tänzerin, in Marseille wie in München. Eine hippe Göre mit vermutlich ziemlich abgründigen Gedanken! Foto: Wilfried Hösl

Die Tänzer können sich sowieso bei Siegal gut selbst einbringen, erzählen manche der Tanzprofis in einem Video in der Pause vorm Fortgang der Übertragung. Der Amerikaner ist offen für Vieles und erwartet, dass die Tänzer ihm zeigen, was sie mitbringen, körperlich und mental. Eine Tänzerin lobt Siegals musikalisches Ohr: Er höre in den elektronischen Fiepgewittern, die er mitbringe, oft kleine Nuancen, die sie vorher überhörte. Bis er sie ihr erklärt hat. Nun ja. Mir wäre lieber, er würde ihr Gustav Mahler oder eben Wagner erklären. Die würden auch viel besser und reizvoller mit seiner Arbeit konstrastieren und dennoch auch harmonisieren. Na, vielleicht probiert er die neue Methode ja mal aus, und wir erleben dann ein beglückendes neues Gesamt(kunst)werk.

Ein „unglaubliches Vexierspiel“ verspricht Ivan Liška. Das sich gen Ende ins Dunkle auflösen werde.

Aber das ist noch fast untertrieben. „Metric Dozen“ ist körpersprachlich an Alain Platel angelehnt und macht sich ein Vergnügen daraus, die Bewegungen aus „Unitxt“ zu verschrotten. Zerrissen, aufgeschlitzt, mitunter neu montiert – so kommt, etwas lodderig, aber erkennbar – die Verkehrung des konzis-konzentrierten eigentlichen Siegal-Stils einher. Ich möchte von ritualhaft zelebrierter, zappeliger künstlerischer Selbstauflösung bei Siegal im „Metric Dozen“ sprechen: ein Fest für alle, die gern das Gefühl haben, über den Dingen zu stehen.

Zu Beginn geben Schlaglichter in die komplette Bühnendunkelheit hinein kurz Bicke auf Tänzer frei. Diese bewegen sich so souverän, als seien sie nachtsehend: lasziv, erotisch und barfuß sind sie.

Zwei Frauen bilden fast ein Paar, ein Trio scheint mit sich und der Welt zufrieden.

Alle tragen schwarze Hotpants und schwarze, langärmelige Shirts. Die Kostüme wurden wieder von Alexandra Bertaut ersonnen, die schon in „Landscape“ kreativ war. Das Licht stammt dieses Mal von Gilles Gentner, und es besteht in weiten Teilen des Abends aus schwärzester Nacht.

Im kurz aufblinkenden Lichtkreisen tobt also das Leben, das uns hier ansonsten vorenthalten wird. Vulgo: Menschen schotten sich manchmal ganz gerne ab, zumal, wenn sie reich oder elitär oder solistisch sind. Die blonde Christl im Zentrum einer Gruppe scheint sich denn auch wie der Rockstar Blondie vor 30 Jahren zu fühlen. Hach, ist sie hipp! Lässig latscht sie durch die tanzende, zuckende Körpermenge, ein Star in einem Club, vielleicht nur für eine Nacht oder Urlaubsdauer.

Egal. Was kostet die Welt? Eben! Her damit! Noch ist sie zu haben, unsere Landscape of Fun, und wie irre geleitete Showgirls lassen ein Mann und drei Frauen die Hüften kreisen. Sie haben sich verschworen gegen die Langeweile, obwohl das nicht immer leicht ist, in Tagen wie unseren, in denen im Fernsehen eine Tiersendung auf die nächste folgt und mit Robin Williams in 2014 der letzte große Filmschauspieler des 20. Jahrhunderts verstarb.

Aber das hier ist keine bewusste Hommage an ihn. Sondern an die Kraft der Chainés, die wieder perlenartig aneinander gereiht sind, dieses Mal aber ohne befriedigende Endpose, denn es handelt sich bei diesem Werk auch um eine Referenz an die NON-DANSE-Bewegung, die in Frankreich den Geschmack der freien Tanzszene prägt. Da ist der Bruch mit dem Tanz als Regelwerk vorprogrammiert – Tanz und Nichttanzen wechseln einander ab.

Der Künstler Richard Siegal lässt quasi Salzsäure in sein Werk einträufeln, und langsam zerfrisst diese seine Bewegungsschöpfungen. Es rüttelt und schüttelt sich, wie in einer Selbstkarikatur überdreht Siegal hier seinen sonst so vornehmen Stil.

Ein exzessives Männersolo sorgt für Aufsehen. Zwei Frauen machen Furore. Das Dunkle siegt. Für immer?

Dieser letzte Tanz in die Unendlichkeit sorgte in München nicht nur für Zustimmung. Als erstes platzte ein lautes „Buh!“ in die Stille nach dem Ende – die alsbald von fröhlichem Johlen aufgelockert wurde. So soll es sein in der Kulturszene: Es herrscht Meinungsvielfalt.

Richard Siegal ist ein hypermoderner Choreograf.

Ein flippiges Paar, das zwar nicht besonders persönlich miteinander umgeht, dafür aber ohne falsche Scheu. In „Metric Dozen“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Der Anteil des Publikums, der hier ein wenig überfordert war, dürfte indes nicht ganz gering sein. Mein Tipp für kommende Vorstellungen: sich und den Umsitzenden Ohropax mitbringen (statt Hustenbonbons) oder sogar ein ipod mit Wagners „Walküre“ – als ganz persönlichen Anteil, sich aktiv in die Inszenierung einzubringen. Dann geht’s superbe!
Gisela Sonnenburg

Wieder am 26. und am 30. Mai im Nationaltheater München

www.staatsballett.de

 

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