Stolzer Mann, schamhafte Reue John Neumeiers „Giselle“: eine eigenwillig modernisierte Version, radikalisiert, stark moralisch. Aktuelle Besetzungen geben zudem Ausblicke auf die kommende Spielzeit. Und bei den 41. Hamburger Ballett-Tagen reüssierte die Romantik per se!

Giselle - die Geschichte einer tragisch Liebenden.

Jeder Ballettfan erkennt sofort: Das ist „Giselle“ – obwohl sie hier ganz anders als sonst daher kommt, der zweite Akt in John Neumeiers Version beim Hamburg Ballett spielt nicht im Wald, sondern in einer bis auf den Nebel nackten Betonhölle. Sehr futuristisch. Foto: Marcus Renner

Am Ende des ersten Aktes liegt Giselle tot am Boden. Dieses Zwischenende ist wie immer. Ansonsten aber ist vieles anders, seit John Neumeier im Jahr 2000 seine modernistische Fassung des romantischen Ballettklassikers schuf. Sie beginnt alptraumhaft mit der stilisierten Todesszene, die sich später wiederholt – der ganze erste Akt ist als Rückblende angelegt. Und: Er ist nicht mehr konkret in einem Winzerdorf im deutsch-französischen Grenzgebiet im 19. Jahrhundert verortet, sondern zeigt die Tänzer in Kostümen der Gegenwart in einer kunterbunt skizzierten Heile-Welt-als-Dorf-Kulisse, wie in einem Kindertheater. „Giselle“ als Kasperletheater?

Giselle - die Geschichte einer tragisch Liebenden.

Der Anfang ist das Ende vom ersten Akt in „Giselle“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: Das Mädchen liegt tot mit dem Kopf zur linken Kulisse, ganz traditionell, aber alles sonst ist anders… Foto: Marcus Renner

Ja und nein. Tatsächlich ist manches hier so überzeichnet, dass es kabarettistische Züge trägt. Emilie Mazoń zum Beispiel, die eine lieblich-skurril überzeugende Marie im „Nussknacker“ und eine hinreißende Julia im „Romeo“ darstellt, muss in „Giselle“ die geradezu makabere Karikatur einer neureichen Göre abliefern. Als Bathilde, also als adlige Verlobte von Herzog Albert, flattert sie umher wie eine Horrorausgabe von Paris Hilton.

Als hätte sie Stimmungsmacher intus, will sie überall euphorisch ihren überdimensionalen Plüschteddy andienern – und sich selbst noch gleich dazu. Grips hat dieses Mädel nicht für fünf Cent, aber dass sie instinktiv der lieblichen Giselle ihren Schmuck schenkt, adelt sie, fast unpassenderweise, doch zum irgendwie auch sympathietragenden Oberschichten-Outlaw.

Die beiden Hauptpersonen aber sind Giselle und Albert, wie Albrecht hier doppeldeutig heißt. Doppeldeutig deshalb, weil Albrecht ein eindeutig deutscher Name ist, hingegen Albert auch auf Französisch bekannt klingt. Nun ist es in der traditionellen „Giselle“ (siehe die Texte über Patrice Barts „Giselle“ beim Staatsballett Berlin hier im ballet-journal.de) so, dass die guten Winzer die Deutschen sind und die bösen Adligen die Franzosen. Neumeier aber macht die männliche Hauptperson, die sich standeswidrig verliebt, zum Grenzgänger.

Giselle - die Geschichte einer tragisch Liebenden.

Albert (Alexandr Trusch) versucht Giselles Mutter (Miljana Vracic) zu überreden, Giselle mehr Freiheiten zu geben. Rechts im Bild: Alina Cojocaru als Titelheldin Giselle in Neumeiers Choreografie beim Hamburg Ballett. Foto: Marcus Renner

Alexandr Trusch (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-alexandr-trusch/) verkörpert diesen Albert, der zuerst windig-triebhaft, dann schamvoll und bereuend auftritt, mit einer wirklich seltenen Innigkeit. Als Sunnyboy im ersten Akt, der Giselle verführt hat, wie es ein Gockel mit einer Landpomeranze eben macht, ebenso wie im zweiten Akt, als zu spät Verliebter, der nach Giselles Tod ins Reich der gefährlichen Rachegeister einfährt, um auf seine ganz eigene libidinöse Weise Buße zu tun. Truschs Sprünge sind von grandioser Höhe und dennoch Weichheit, die hohen Cabrioles überzeugen ebenso wie die kleinen Entrechats. Seine ausgesprochen schöne Armarbeit ist an sich bereits Kunst – und in den Pas de deux nimmt man ihm jede Herzensregung fraglos ab.

Trusch und Cojocaru

Alexandr Trusch als Albert mit Alina Cojocaru als „Giselle“ in Neumeiers Fassung des romantischen Balletts. Foto: Holger Badekow

Seine Partnerin ist die Gaststarsolistin Alina Cojocaru, die seit Jahrzehnten weltweit eine legendäre Giselle tanzt. Ihr seitliches Développé ist an Charme und Höhe schier unerreicht, und ihr Kreiseln in der Attitude auf dem Platz im zweiten Akt – womit Giselles Geistwerdung beginnt – ist es wert, alle Alarmglocken innerlich einzuschalten, um diesen Tanz fürs Gedächtnis sozusagen mitzuschneiden.

Bei den 41. Hamburger Ballett-Tagen eroberten sie und Alexandr Trusch denn auch im Sturm die Herzen des Publikums: Sie mit einer Bescheidenheit im ersten Akt, die gerade Neumeiers Giselle sehr zur Zierde gereicht – sie liebt das Tanzen und ihren Herzbuben Albert ohne Allüren, ohne aufgesetzte Grandezza, ganz schlicht, dafür umso ergreifender. Trusch hingegen kann powern ohne Ende – man hat einfach nie genug davon. Da springt er sogar seine Changement-Serie im zweiten Akt nicht etwa nur fußhoch (was auch schon toll wäre, wenn sie akkurat ausgeführt ist), sondern prescht Dutzende von Malen fast meterhoch aus dem Stand. Na, und von seinen mehrfach battierten Cabrioles wollen wir gar nicht erst anfangen… schlicht berauschend! Weitere Details im Spiel erfreuten – so küsst er, wenn er erschöpft ist, mal den Boden oder schaut ihn ganz verliebt an, so, als läge unter ihm die geliebte Giselle. Das gibt diesem Albert die Kraft, weiter zu machen – immerhin muss er ja um sein Leben tanzen, und nur die Kraft der Liebe rettet ihn vor dem Tod.

Neumeiers Albert ist ohnehin noch verliebter als der in den meisten „Giselle“-Inszenierungen. Und er ist weniger rücksichtslos. So verfälscht er hier nicht selbst das Er-liebt-mich-er-liebt-mich-nicht-Ergebnis der Blumenbefragung. Sondern sein Kumpel Hilarion (zünftig und unternehmungslustig getanzt von Graeme Fuhrman) manipuliert das Blümchen, indem er ein Blütenblatt vorab wegzupft, damit die Antwort positiv entschieden wird.

Hervorzuheben ist in der Jagdgesellschaft Alberts aber auch Hayley Page, die sowohl Arroganz als auch Mehrfachflirts so gekonnt zu spielen und dabei technisch so versiert zu tanzen weiß, dass hier eine künftige Erste Solistin heran wächst, dessen bin ich mir sicher. Auch wenn der Weg bis dorthin sicher noch etliche Jahre dauern wird.

Die Vorstellung bei den Ballett-Tagen atmete denn auch von Beginn bis Ende jene zarte Romantik, die unbedingt Vorbild sein sollte, wenn man dieses Stück macht. Ganz großartig. Und dabei gab es sogar eine spontane Umbesetzung: Aleix Martínez tanzte anstelle von Karen Azatyan mit Leslie Heylmann den Bauern-Pas-de-deux, diese furios-verliebte Einlage im ersten Akt. Ein schönes Paar, wobei Martínez mit eleganten Riesensprüngen und feinem Blickkontakt zur Partnerin erfreute, sie ihm wiederum optimal mit Hingabe und Souveränität entgegen kam. Heylmann entwickelt sich zu einer wunderbar starken, vielseitigen Primaballerina, die ihre Ausdruckskraft in wirklich seltenem Ausmaß zu verändern und der Rolle und den Gegebenheiten anzupassen vermag.

Und da ist noch wer, der genannt werden möchte, zumal seine Rolle so oft zu Unrecht stiefmütterlich behandelt wird: Konstantin Tselikov als Hilarion. Hilarion ist der Junge, der eigentlich gut zu Giselle passt und der sie auch will – nur, dass Amor hier leider keine Pfeile in ihr Herz schoss. Als Nebenbuhler des edlen Albrecht hat Hilarion das Schicksal des unglücklich Liebenden – und wenn er zu Beginn des zweiten Aktes mit Giselles Mutter (hervorragend, wie eine Mary Wigman, so kantig und erdig: Laura Cazzaniga) im Wald um die dann schon tote Giselle trauert, um sich später von den Waldgeistern zu Tode tanzen zu lassen, dann hat man doch enorm Mitleid mit Hilarion. Tselikov gab bei den 41. Hamburger Ballett-Tagen alles, ließ sich rücksichtslos gegen sich selbst immer wieder fallen, sah dennoch so anmutig dabei aus, wie es im Ballett sein muss. Toll!

Interessant dürfte für die Kenner der Materie jedoch auch eine seit September 2014 erprobte Neubesetzung gewesen sein: Carolina Agüero, diese vielseitige, präzise Primaballerina des Hamburg Balletts, und Christopher Evans, der erst seit 2012, aus der Ballettschule in Hamburg kommend, überhaupt Mitglied dieses hochkarätigen Ensembles ist, bilden ein reizvoll gemischtes Pärchen. Und niemand würde angesichts dieser beiden Schönheiten darauf kommen, eine Frau dürfe nicht älter sein als ihr Liebhaber.

Christopher Evans langgliedriger, schlanker Körper ist harmonisch-ebenmäßig proportioniert und erinnert an die Statur von Superstar Roberto Bolle. Dazu hat Christopher jene Ausstrahlung von Frische und Unverbrauchtheit, die nur ganz junge Tänzer haben. Damit fiel er bereits vor drei Jahren bei seinen ersten Auftritten angenehm auf. Er wird übrigens ab kommender Saison zum Solisten befördert. Glückwunsch! Carolina, die bereits seit 2007 Erste Solistin ist und knapp zwanzig Jahre älter als Christopher, hat hingegen die ausgewiesene Fähigkeit, dramatische Szenen gestochen scharf zu tanzen und zu spielen. Ihre Technik ist absolut gediegen, ihr tänzerischer Stil ist hinreißend konziliant – wirklich eine superbe und seltene Mischung, diese beiden als Bühnenpaar.

Die dritte Besetzung, die im Mai 2015 in Hamburg angeboten wurde, ist sozusagen ohnehin eine sichere Sache: Silvia Azzoni, langjährige Supertänzerin in Hamburg, und ihr Gatte Alexandre Riabko, ebenfalls kein Neuling mit seinen stets hervorragend abgefederten Sprüngen und seiner durchgehend geschmeidigen Körperkultur, sind ein eingespieltes Team bei der Verkörperung des romantisch-unromantischen Neumeier’schen Paares Giselle und Albert.

Giselle - Tod einer LIebenden

Ein Blick in das Programmheft von „Giselle“ vom Hamburg Ballett: Es fasst die Geschichte und Tradition des Balletts zusammen mit Hintergründen zu Neumeiers Inszenierung. Rechts unten im BIld: John Neumeier am Grab von Heinrich Heine in Paris. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und kaum lernen wir die beiden Hauptfiguren im Verlauf des Stücks näher kennen, stellt sich auch schon heraus, dass Albert ein Schurke und Herzensbetrüger ist. Darum also befand sich Giselles Mutter – sehr kühl und beherrscht von Miljana Vracaric verkörpert – im ersten Bild, das die Eingangssymbolik liefert, so stocksteif an der Seite ihrer toten Tochter: dieses Standbild, das ganz zu Beginn des Stücks dem Ablauf des eigentlichen Dramas voraus geht, zeigt schon viele kleine Details, die sich erst peu à peu enträtseln lassen.

Albert ist dabei zumeist der interpretatorische Schlüssel. Er ist ja wirklich das Muster eines Hallodri! Darum auch ist seine Braut Bathilde hier, in dieser Inszenierung, ein so lockeres Früchtchen und zugleich so kindlich-albern-unnahbar: weil ihr Verlobter wirklich ein krass gemeiner Kerl ist. Ein Typ, der schon vor der Hochzeit fremd geht und erst nach dem Ableben seiner Geliebten bemerkt, dass er sie mehr begehrte als jemals irgendwen zuvor. Aber wer will so so einen Macho wie Albert schon ehelichen? Und kann es ein Glück sein, ihn zu lieben? Nein, weder Bathilde noch Giselle sind zu beneiden.

Giselle - Tod einer LIebenden

Das Programmheft zu „Giselle“ beim Hamburg Ballett zeigt: Es gab auch im 20. Jahrhundert viele berühmte Gisellen, darunter Galina Ulanowa und Yvette Chauviré. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Gerade deshalb ist die Partie des Alberts so spannend. Der Ballerino, dem sie anvertraut wird, muss etwas draus machen, etwas, das nicht abartig oder pervers oder plakativ ist – sondern uns als Zuschauer rührt, mitreißt, an unser Verständnis appelliert. Er muss ein Charmebolzen sein, darf aber nicht zu oberflächlich wirken. Er muss klar machen, dass er selbst unter seinem wechselhaften Triebleben leidet, dass er hin- und hergerissen ist zwischen erotischer Liebe und gesellschaftlicher Verpflichtung, zwischen Herzensschwur und der Unmöglichkeit, diesen einzuhalten.

Ein Hochkarat an Spieltalent ist darum jedes Mal aufs Neue gefordert – und dass das Hamburg Ballett hier ursprünglich gleich vier verschiedene Besetzungen in nur einem Monat vorsah, ist sicherlich eine Besonderheit.

Die vierte vorgesehene Besetzung, die mein persönlicher Favorit war, musste leider abgesagt werden: Anna Laudere, die in ihrer weiblich-aparten Art auch eine fantastische klassisch-traditionelle „Giselle“ abgeben könnte, und ihr Gatte Edvin Revazov, der „blonde Riese“ vom Hamburg Ballett, setzen aus – vermutlich, weil Revazov von einer langwierigen Verletzung noch nicht ausreichend genesen ist. Gute Besserung!

Revazov hat auf der Bühne eine sehr starke Kraft der Erotik, die diese Partie des Albert dringend benötigt. Denn nur sie kann jene mit Schuld und Scham aufgeladene Metaphysik hervorbringen, die den stolzen Charmeur im zweiten Akt zu einem reuigen Sünder werden lässt und die auch Giselle, die seine Verliebtheit entfacht, den Nimbus von hoher Glaubhaftigkeit als verführerische Untote verleiht.

SIE SIND NUR ALS PAAR WIRKLICH GLAUBHAFTE FIGUREN

Nur als Paar sind Giselle und Albert im zweiten Neumeier’schen Akt wirklich überzeugend – sonst würde man sich fragen, was mit diesen Figuren eigentlich los sei.

Im Grunde bahnt sich all dies aber auch schon im ersten Akt an.

Es ist immer die Frage, inwieweit sich erster und zweiter Akt bei „Giselle“ ergänzen oder widersprechen. Inwieweit sie einfach nur Gegensätze sind – oder inwieweit der erste den zweiten Akt vorbereitet und der zweite den ersten dann vollendet.

Bei John Neumeier sind die beiden Akte äußerlich große Gegensätze, schon durch das Bühnenbild von Yannis Kokkos. Der erste ist hell und freundlich (bis auf Giselles Sterben, das ins Idyll einbricht wie ein Alp) – zeitgenössisch heute angesiedelt und zudem noch so etwas wie trendy, modisch, hybrid. Denn nur angedeutet sind Häuschen und Wald, eine Berglandschaft mit Schloss auf dem Gipfel im Hintergrund, zudem ist all dies mit sommerlich-fröhlichen Farben hingetupft, ganz so, als sei es die Saaltapete für ein großartiges Kinderfest.

Und sind hier nicht im Grunde alle noch wie Kinder? So unbeschwert und eigennützig, so unkontrolliert und begeistert von sich selbst?

Giselle - Tod einer LIebenden

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so zeigt das Programmheft vom Hamburg Ballett zu „Giselle“ eindrücklich anhand von Exponaten aus dem Besitz der Stiftung John Neumeier, sah man Giselle vor allem als Geisterhafte, weniger als betont sinnliche Untote. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Auch der „Bauern-Pas-de-deux“, ein Meisterstück der Einlagenkunst – in den traditionellen Versionen von „Giselle“ ebenso wie hier in der von Neumeier choreografisch stark in Richtung Tanztheater modernisierten Fassung des ersten Akts – ist und bleibt ein vor Freude sprühendes Highlight der klassischen Ballettkunst, und dieser Paartanz hat was Clowneskes, Übermütiges, darum extrem Jugendliches, gar Kindhaftes.

John Neumeier fragte sich, als er 2000 seine „Giselle“ in Angriff nahm, warum diese Bauern so überschäumend happy seien. War das bäuerliche Leben im 19. Jahrhundert – „Giselle“ wurde 1841 uraufgeführt – nicht mühselig und im Grunde eine einzige Plage? – Neumeier hat nicht bedacht, dass es sich beim Original um ein Winzerdorf handelt – und die Weintraubenpflücker dort vermutlich auch selbst keltern und des öfteren sozusagen ihre eigenen Kunden sind. Flappsig gesagt: Die Winzer und Bauern in „Giselle“ sind halt ziemlich oft betrunken und darum so überaus lustig drauf.

Giselle - die tragische Geschichte einer Liebenden.

Der „Bauern-Pas-de-deux“ ist der Höhepunkt der Festivitäten im ersten Akt in „Giselle“, auch in der Fassung von Neumeier beim Hamburg Ballett. Hier das virtuose Tanzpaar Leslie Heylmann (links) und Karen Azatyan (rechts). Foto: Marcus Renner

Das Fest, das in der originalen „Giselle“ gefeiert wird, hofiert denn auch unverhohlen ein großes Weinfass als Erntedank. Zumal sich ja ursprünglich alles im Rhein-Main-Gebiet abspielt, wo Wein von vorzüglicher Qualität zu erwarten ist.

Diese unbedachte, alkoholselige Glücklichkeit im ersten Akt – Party, Party! – verlangt nach einem starken Kontrast.

Giselle - die tragische Geschichte einer Liebenden.

Anna Laudere tanzt hier die Myrtha, die Königin der rachsüchtigen Wilis, kühl und dominant in John Neumeiers Version von „Giselle“ beim Hamburg Ballett. Foto: Marcus Renner

Der zweite Akt ist denn auch düster und kahl bis zur Finsternis in der Wüstenei. Im Original ist es zwar ein geheimnisvoller Wald bei Vollmond, der zwischen Nebelschwaden das unkirchliche Grab Giselles enthüllt. Bei Neumeier aber ist es ein modernes, steinernes, kaltes Elysium, das Albert anlockt: Er hat etwas von Hölle oder Vorhölle, von Jenseits allemal, dieser nackte Raum mit den wenigen Stellwänden.

Albert ist darin die Personifikation des vor lauter Schuldgefühlen fast Hinscheidenden. Er büßt. Er kommt auf die Bühne und verbiegt sich in modern-ekstatischen, äußerst zerknirscht, aber auch kompliziert unglücklich wirkenden Schritten. Der fesche Bursche in ihm verschwand zu Gunsten eines Renegaten. Ach, hätte er doch beizeiten so geliebt!

Dabei ist er ja fast so etwas ein Mörder. Er hat durch seine Untreue und seine Feigheit die arme Giselle erst in den Wahnsinn und dann in den schnellen Herztod gejagt – und auch nach ihrem Ableben fiel es ihm zunächst schwer, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Ihm begegnen jetzt passenderweise die Furien, die Wilis: Das sind junge „weiße Frauen“, die vor ihrem Tod verliebt waren, aber nicht geheiratet wurden, und die jetzt, aus Rache am männlichen Geschlecht, alle Männer, die nachts ihren Weg im Wald kreuzen, sich zu Tode tanzen lassen.

Der Mythos stammt von Heinrich Heine, der in seinem Essay über die „Elementargeister“ von gefährlichen nächtlichen Nymphen berichtet, die mittels der Tanzwut, die sie in jungen Männern erwecken, deren Tod herbei führen. Die Librettisten der Original-Giselle bauten diese Idee aus: zu einer nachgerade feministisch anmutenden Rachefantasie mit vorehelich geschwängerten und darum ehrlos gewordenen Mädchen, die an ihrer Ehrlosigkeit sprich durch Selbstmord oder Abtreibungsfieber verstorben waren.

Giselle - die tragische Geschichte einer Liebenden.

Die Wilis in John Neumeiers „Giselle“ bei Giselles Grab, das sich nicht auf dem Friedhof befindet, weil Giselle von der Kirche nicht für ehrbar gehalten wird. Aber die Liebe ist stärker! Foto: Marcus Renner

Die so genannte Kindsmörderin, die ihre Schwangerschaft verheimlichen wollte und ihr Baby gleich nach der Geburt umbrachte, war im 19. Jahrhundert ein bekanntes Problem: Häufig wurden pubertierende Mädchen wegen Mordes an ihrem von niemandem unerwünschten Kind hingerichtet. Susanna Brandt in Frankfurt am Main ist die berühmteste solcher Frauen: Johann Wolfgang von Goethe nahm sie zum Vorbild für seine Margarete im „Urfaust“ und „Faust“.

Im Ballett jedoch erhält sie eine Folie der Fantasie, die aus ihr einen Racheengel macht: Die Wilis, theatertechnisch inspiriert von den um Mitternacht auf den Gräbern tanzenden Nonnen aus der Oper „Robert le Diable“, machen aus verdächtigen und zu verurteilenden jungen Frauen eine Art Heldinnen der späten Rache.

EIN PHILOSOPHISCHER TOD

Man stelle sich Nebelschwaden vor, aus denen hübsche, totenweiß gekleidete Frauen erwachsen, die wie Nymphen anmutig und einmütig einher tänzeln – und an denen man dennoch verzweifeln möchte, weil man sie haben möchte, aber nicht haben kann; man möchte allen Glauben aufgeben, weil sie einen an die (womöglich beim illegalen Schwangerschaftsabbruch) verblichene Geliebte erinnern und dennoch so ganz anders sind als die lebendigen Feen der Liebe. Die Wilis sind nämlich tödlich! Und man(n) tanzt sich wegen ihnen zu Tode, aus lauter Habenwollen und Nichtmehrhabenkönnen, aus lauter Sehnsucht nach einer Liebe, die es nicht mehr gibt. Das hat schon was Philosophisches, wenn man es so besieht.

Die Königin der Wilis heißt zudem auch noch verlockend Myrtha – nach der hübschen Myrthe, dem Brautschmuck – und damit wird die zweite, durchaus dekadente Lesart der Wilis angesprochen: Die weißen Tüllröcke der Wilis erinnern an Brautkleider, und mit Efeu berankt und mit Blumen bekränzt, rauschen diese seltsamen Wesen denn auch traditionell brautähnlich über die nächtliche Szenerie. Über den Tod als Braut ist viel gedichtet worden – hier ist er zudem so tänzerisch-mutwillig wie eine Frühlingselfe.

Anna Laudere ist als Myrtha bei den 41. Hamburger Ballett-Tagen mädchenhaft, zurückhaltend, wunderbar schwebend, technisch brillant, aber nie so eiskalt-diamanten gewesen, dass man sagen könnte, das Böse sei am Ende schöner als das Gute in diesem Stück. Es gehört zur festen Einrichtung in Neumeiers Interpretation des Stücks, dass das Diabolische eben in keiner Hinsicht wirklich letztgültig triumphieren kann. Schon gar nicht in ästhetischer Hinsicht! Darum muss Neumeiers Myrtha sich zurücknehmen und sozusagen als vermenschlichte Nebelschwade ganz leicht, ganz luftig wirken – und zugleich bemitleidenswert entseelt, was Anna Laudere meiner Ansicht nach in höchstem Maße gelang. Dabei muss man, zumal im Vergleich mit den verherrlichten Totenköniginnen in anderen „Giselle“-Fassungen, von einer im Grunde undankbaren Partie sprechen: das Aufregend-Emotionale, das Tollkühn-Exotische, das Rasant-Glitzernde muss diese Myrtha den Damen und Herren überlassen, die auch im ersten Akt auftreten. Neumeiers Myrtha braucht also viel, viel Nonchalance – und die Lässigkeit, ihre Sache perfekt zu machen, ohne dafür besonders belohnt zu werden. Eine sehr lehrreiche Aufgabe für Ballerinen, im übrigen!

Und auch Leslie Heylmann verspricht als Myrtha eine vielversprechende Interpretin zu sein: Sie hat vor allem die nötige Eleganz, auch das Mondäne, das die Rolle durchaus haben sollte – und sie ist kein allzu niedliches Ballerinchen, sondern verfügt auch über die Dominanz, die eine Königin der Wilis so respektierlich macht.

Giselle - Tod einer LIebenden

Philippe Ariès (1914 – 1984) war einer der bedeutendsten Mediävisten, also Erforscher des Mittelalters. Er ging strukturalistisch vor und setzte literarische Fakten in Zusammenhang mit dem jeweiligen Lebensstil einer Epoche. Da die Romantik laut Heinrich Heine auf der Wiederentdeckung von mittelalterlichen Mythen basiert, ist Ariès hier passend. Ein aufschlussreicher, überzeitlicher Aufsatz von ihm erhellt das Verhältnis verschiedener Epochen zum Tod – nachzulesen im Programmheft zu „Giselle“ vom Hamburg Ballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Myrthas Soli sind nämlich nicht ohne: Sie verlangen Selbstbeherrschung und Stil – und dennoch auch ein Stückchen nekrophile Erotik. Myrtha führt den Reigen der Rachsüchtigen leidenschaftlich gerne an, auch wenn in Neumeiers Version die Wilis insgesamt eher höhnisch und emotional kalt sind – und zudem noch bösartiger als in den traditionellen oder in anderen modernen „Giselle“-Versionen.

So geben sie tatsächlich ein schräges, boshaftes, gruseliges Lachen von sich, es ist ein Auslachen, das den Männern gilt, wegen denen sie starben und die ihnen jetzt hilflos ausgeliefert sind und, im Umkehrschluss, an den Frauen zu Grunde gehen.

Giselle - die tragische Geschichte einer Liebenden.

Hilarion (Carsten Jung) liebt Giselle auch – und er erliegt der Macfht der Wilis und tanzt sich zu Tode… in John Neumeiers „Giselle“ beim Hamburg Ballett in einer kalten Betonwüste statt nachts im Wald. Foto: Marcus Renner

So tragen Neumeiers Wilis auch noch militante schwarze Armbinden zum Weißkleid, denn sie sind eine Armee des Todes. Ihre Reigen tanzen sie in kühlem Stil, fast unterkühlt, und keineswegs so lieblich und anheimelnd wie in den romantisch-klassischen Fassungen des Balletts.

Giselle - die tragische Geschichte einer Liebenden.

Als wäre sein Leben nichts wert: Hilarion (Carsten Jung) wurde in den Tod gehetzt, stellvertretend für alle Männer, die Frauen opfern – in John Neumeiers „Giselle“ beim Hamburg Ballett. Eine berührende Szene. Foto: Marcus Renner

Blutrache statt Liebe – das ist das Programm der Wilis. Sie werden von maßloser Gier nach Genugtuung getrieben.

Dagegen leuchtet die Titelheldin Giselle in lauterer Reinheit der Gedanken und Gefühle – denn sie hegt nicht einen Moment lang Rachegelüste. Im Gegenteil: Sie liebt ihren Albert so über alle Maße, dass sie nahezu willig an ihm zu Grunde geht und im zweiten Akt nur an sein Leben und an sein Seelenheil denkt.

Wie nebenbei erlöst sie sich damit auch selbst, indem sie ihm hilft, die Nacht durchzutanzen, ohne daran zu versterben – und nach den geheimnisvollsten Pas de deux darf sie entschwinden in die Ewigkeit, ohne sich Myrtha und ihrer sanktionierten Bosheit anzupassen, während Albert, dem sie verziehen hat, geläutert und gereift sein weiteres Leben antreten darf.

Giselle ist und bleibt ein Engel, wird kein Teufel, keine Wili, und Albert bekommt noch mal eine zweite Chance, ein aufrechter Kerl zu werden.

DAS BÖSE WURDE RADIKALISERT

Das ist zwar in allen „Giselle“-Versionen so – verschärft findet sich allerdings das Element des Bösen bei Neumeier, der sowohl Albert im ersten Akt als besonders feige inszeniert und dann, im zweiten Akt, die Wilis extrem hartherzig und nicht etwa verspielt-naiv oder unschuldig-verdorben zeigt.

Die krasse Aufteilung in Gut und Böse in dieser radikalen Neumeier-Version ist vielleicht etwas moralinsauer – und man fragt sich zudem, wieso man ausgerechnet mit dem fahrlässig untreuen Bengel Albert Mitleid haben soll statt mit der einen oder anderen Wili. Aber im Kontext machen diese Verfremdungen des ursprünglichen Librettos Sinn: Neumeier nutzt die originale, überlieferte Version von „Giselle“ als Steinbruch, als Experimentierfeld, um seine eigene Fantasie von weiblichen Rachegeistern und einem unfähigen, sozial inkompetenten männlichen Liebhaber zu installieren.

Giselle - die tragische Geschichte einer Liebenden.

Attitüden und Sprünge: Der zweite Akt von „Giselle“ verlangt technische Raffinesse, ebenso wie differenziertes Spiel. Hier Alina Cojocaru udn Alexandr Trusch in den Hauptrollen beim Hamburg Ballett. Foto: Marcus Renner

Weshalb seine Myrtha auch eine wirklich schwere Rolle ist, viel schwerer noch darzustellen als die klassisch-traditionelle Myrtha, die immerhin mit majestätischer Sexiness beeindrucken darf. Neumeiers Myrtha aber ist kalt wie Stein, sie erinnert im Duktus fast an eine exekutierende KZ-Wächterin, und selbst durch ihre beiden Lieblingsnovizinnen Zulma und Moyna wird sie nicht menschlicher. Höchstens lesbischer!

Zulma wird übrigens von Mayo Arii getanzt, einer sehr zarten Japanerin, die bislang nicht wirklich positiv auffiel, die aber dennoch – weil sie sehr belastbar ist – in der kommenden Spielzeit zur Solistin befördert wird. Diese Entscheidung kam für alle Beobachter des Hamburg Balletts völlig überraschend. Man darf neugierig sein, inwieweit sich die 1989 geborene Mayo dann noch entwickeln wird beziehungsweise von den Ballettmeistern entwickelt wird. Ob es ihr gelingen wird, eine charaktervolle Darstellerin mit eigenem Profil zu werden, bleibt abzuwarten.

Als Zulma gab sie bei den 41. Hamburger Ballett-Tagen zusammen mit Futaba Ishizaki als Moyna ein entzückendes Jungdamenduo ab: Mayo war anmutig, leicht und schwerelos und Futaba zusätzlich feminin, erotisch, bodenständiger. Man könnte sagen, man sah ein Mädchen und eine junge Frau zusammen tanzen – sehr anheimelnd und ins Konzept der Wilis, der unglücklich und ehrlos verstorbenen Verführten, sehr passend. Und Futabas Armarbeit war wirklich sensationell schön – ein Hochgenuss für jeden Ballettomane.

Immerhin hat Mayo, rein technisch gesehen, zudem einen stets ruhig gehaltenen Brustbeinbereich zu bieten, was ihre Arabesken, Attitüden und Pirouetten mit einer gewissen Sicherheit segnet. Tänzerinnen, die im Oberkörperbereich unwillkürlich wackeln oder sich verkrampfen, haben da stets das Nachsehen, so talentiert sie sonst auch sein mögen. Die Schönheit einer Pose entscheidet sich nämlich nicht erst, wenn die Tänzerin bereits auf einem Bein steht – schon das Hinkommen, das Aufsteigen auf die Spitze beispielsweise, muss von Anmut und fester Körperhaltung getragen sein. Darin ist Mayo wirklich gut.

Giselle - Tod einer LIebenden

Ein letzter Blick ins Programmheft zu „Giselle“ beim Hamburg Ballett: Auch fast ganz nackt, nur mit einem Schleier bekleidet, wurden die Wilis malerisch imaginiert. Oder ihr Körper und ihr Gewand verschmolzen in den Darstellungen zu einer weißen, nebligen Masse… fast an Aliens aus einem Sci-Fi-Film erinnernd. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und sie hat eine weitere Qualität: Sie ist konstant leistungsfähig und zuverlässig als Vortänzerin.

Entdeckt wurde Mayo Arii für solche Aufgaben im Dezember 2010 vom Ersten Ballettmeister Kevin Haigen, während einer Probe des „Blumenwalzers“ für John Neumeiers „Nussknacker“ (Haigen hat später den „Blumenwalzer“ für die Hamburger Ballettschülerinnen neu choreografiert, aber 2010 handelte es sich noch um die Neumeier’sche Version, die einzustudieren war). Bei einem damals rund 70 Tänzer umfassenden Ensemble kann auch eine Führungskraft nicht immer alle einzelnen Tänzerinnen gut kennen, und weil die jungen Mädchen mit ihrem Walzer noch gar nicht auf Trab waren, suchte Haigen sich ein Zugpferd für diese Damengruppe.

Er fragte Mayo nach ihrem Namen, pickte sie sich als Vorführobjekt heraus und demonstrierte mit bester Laune, wie es gehen sollte und wie nicht. Offenbar bewährte sich Mayo auch in den folgenden Jahren als stete Vortänzerin innerhalb des Damencorps – schön für ihre eigene Karriere wie auch fürs Hamburg Ballett, das somit eine weitere zuverlässige „Zugmaschine“ im Ensemble hat.

Die Solistin Yuka Oishi, die die Compagnie mit Ende dieser Spielzeit leider verlassen wird, hatte in den letzten Jahren ebenfalls eine solche Position inne: Taktsicher und „unverrutschbar“ war sie häufig die unmerkliche „Vorturnerin“, wenn auf der Bühne ein Trupp junger Damen die Orientierung suchte. Ob im klassischen Schritt im fürstlichen Gefolge des „Sommernachtstraums“ oder ob in der modernen Unterwasserwelt der „Meerjungfrau“ – von nichts kommt nichts, und da Ballerinen keinen Teleprompter haben (wie Opernsänger manchmal), ist es sinnvoll, eine besonders linientreue Tänzerin zur Ersten unter den Vielen zu machen.

Giselle - die tragische Geschichte einer Liebenden.

Eine geisterhafte Annäherung in diesem merkwürdigen Jenseits, das ein Diesseits ist: Alina Cojocaru als Giselle und Alexandr Trusch als Albert in Neumeiers „Giselle“ beim Hamburg Ballett. Foto: Marcus Renner

Yuka hätte man zwar gern auch mal als Titelfigur der „Meerjungfrau“, als Hermia im „Sommernachtstraum“ oder in einer anderen größeren Rolle gesehen – aber bis auf kleine Soloparts war ihr dieses Glück nicht vergönnt. Wie schön, dass sie ihre Karriere diesen Sommer auf einer Gala im Ausland mit einem Pas de deux zusammen mit dem Ex-Hamburger Startänzer Thiago Bordin (heute Nederlands Dans Theater) krönen wird. Alles Gute, Yuka!

Eine japanische Giselle könnte man sich in Hamburg übrigens auch vorstellen. Das Jungtalent Madoka Sugai, mit einer für Ballett ganz untypischen Beinfigur, wäre sicher eine Neufassung des Balletts wert, auch Futaba Ishizaki würde mir als eine erotisch-zarte, modern-zielstrebige Giselle sehr gut passen.

FRAUEN MIT EINER GEWISSEN REIFE

Aber Neumeier geht es wohl um eine gewisse Reife, die so sehr junge Damen einfach noch nicht haben können. Im übrigen ist es ja äußerst erquicklich, dass mit ihm jemand als Choreograf und Ballettintendant – im Gegensatz zu all den jugendsüchtigen Bossen in der Branche, die Ballerinen nicht mal mehr für einen einzelnen Gala-Auftritt buchen, nur weil sie die dreißig Lenze überschritten hat – Frauen auch und gerade dann als Künstlerinnen etwas gelten lässt, wenn sie keine „knackigen“ Anfängerinnen mehr sind.

Hierzu ein kleiner Vorausblick: Neumeier wird im Dezember 2015 ein Ballett über die legendäre Schauspielerin Eleonore Duse choreografieren („Duse“ betitelt), mit Musik von Arvo Pärt und Benjamin Britten. In der Titelrolle wird die wunderbare Alttänzerin Alessandra Ferri auf der Bühne in Hamburg stehen. Die Italienerin war bis zu ihrem Bühnenabschied 2005 ein großer Star an der Mailänder Scala, sie tanzte aber auch international viel und überall umjubelt, etwa in Frankreich, Moskau oder beim ABT (American Ballet Theatre) in New York, und sie ist eine auf Video unsterblich gewordene großartige „Giselle“ (im frivol durchsichtigen Blüschen!). Alessandra Ferri hat sich als uneitle, dafür emanzipiert-hingebungsvolle Dame von Welt bewährt. Eine echte Diva – im Gegensatz zu so mancher Möchte-gern-Superhure der Ballettbranche!

Ferris Giselle spielte den Gegensatz von lebendiger Fleischlichkeit im ersten Akt und vergeistigter Ätherik im zweiten Akt voll aus. Kaum eine der zeitgenössischen Gisellen – außer von der wirklich herausragenden Starballerina Polina Semionova (siehe unter „Staatsballett Berlin“) – hat diese Palette so breit aufspannen können.

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle/

Er hält sie, und obwohl sie ein Geist ist, ist es Liebe: Alexandr Trusch und Alina Cojocaru als bestrickendes Paar in John Neumeiers „Giselle“, im zweiten Akt. Tanz die LIebe, nicht den Tod! Foto: Holger Badekow

Die Hamburger Gisellen versuchen eher, den ersten und den zweiten Akt zu verbinden; vor allem Silvia Azzoni ist eigentlich schon im ersten Akt so etwas wie eine Waldnymphe – und mitnichten ein dörfliches, lustvoll liebendes, irgendwie auch zünftiges Mädel. Die eigentliche Bestimmung der Giselle ist denn auch die Entrückung: ein Schicksal, das sie mit Albert teilt, wenngleich der Mann hier der Überlebende ist – und darum aber nicht nur zu beneiden ist, denn trotz Läuterung und Reue werden sich die Scham und die Schuld wohl nie ganz von seinem Gesicht waschen lassen.

Schlussendlich leidet Giselle im zweiten Akt in dem sterilen Höllenraum aus Beton und Nebel vor allem in harmonischer Gemeinsamkeit mit dem reuigen Albert. Wie ein geisterhafter Koitus mutet ihr Paartanz an – und wenn die Glocke zum Tagesaufbruch schlägt, entfernt sich Giselle, während Albert das Drama der Rückkehr ins so genannte wahre Leben bevorsteht.

Irgendwie hat das Ganze sogar was von einer gemeinsam durchzechten Nacht, in deren Verlauf sich Halluzinationen (von weißen Frauen), aber auch Zusammengehörigkeitsgefühle einstellen. Wer weiß, wie modern diese Giselle und ihr Albert wirklich sind… Ich könnte mir vorstellen, dass Neumeier seine „Giselle“ irgendwann nochmals überarbeiten wird.

Zunächst aber ist Albert seine Giselle los. Vermutlich wartet ein Dorf weiter schon das nächste Abenteuer in Gestalt einer hübschen jungen Dame auf ihn, und wie er sich dann verhalten wird… wer weiß!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Weitere Hintergründe zu John Neumeiers „Giselle“ gibt es hier:

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Und Carolina Agüero tanzte auch schon mit Alexandr Trusch – hier dazu der Bericht:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle-umbesetzung/

Abschließend 2017 folgender Bericht:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle-trusch-aguero-2017/

Und Christophet Evans interpretierte zuvor ebenfalls den Albert;

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle-christopher-evans/

Weitere Texte zu anderen „Giselle“-Inszenierungen:

siehe unter „Staatsballett Berlin“ und „Semperoper Ballett“

www.hamburgballett.de

 

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