Glückwunsch! Das ist in der Tat paradigmatisch, also vorbildhaft: Das Bayerische Staatsballett feierte als erste deutsche Company – unter Einhaltung der Corona-Schutzauflagen – die Neueröffnung der laufenden Spielzeit. Diese war in München letztes Jahr erst durch eine Corona-Quarantäne und dann mit dem November-Lockdown abrupt abgebrochen. Sieben Monate lang genoss das Publikum nur die Online-Streams, die Zuschauerplätze im Opernhaus blieben quasi unbenutzt – aber jetzt wurde die Wiedereröffnung stürmisch bejubelt. Den Beginn machte der Opernbetrieb, der am 13. Mai mit einer konzertanten Aufführung von Wagners „Walküre“ vor 700 glücklichen Zuschauer*innen eröffnete. Gestern abend folgte das Ballett, mit der ersten, makellos ausgestatteten Live-Aufführung vor Zuschauern des bereits im Januar online premierten Dreiteilers „Paradigma“. Fußgetrappel und massiver Beifall belohnten die tapferen Künstlerinnen und Künstler! Zudem hat das Nationaltheater, also das Münchner Opernhaus, direkt vor seiner Freitreppe das „Theater-Testzentrum am Marstallplatz“, wo das für die meisten willigen Zuschauer notwendige Testergebnis kostenlos eingeholt werden kann. Und wie auf Verabredung öffneten auch etliche Münchner Gastwirte erstmals in diesem Jahr ihren Außenbereich, was zweifelsfrei ebenfalls gern angenommen wurde.
Was für eine Freude, was für eine Aufregung!
Man ist zurück beim ungetrübten Kulturgenuss live im Opernhaus, und nur die eigene Maske im Gesicht könnte das Vergnügen leicht beeinträchtigen. Dafür kann diese Leben retten.
Und dann gibt es im Inneren des Nationaltheaters einige Neuerungen zu bewundern, frei nach dem Motto: Alles neu macht der Mai!
So wurde der Kassenbereich neu gestaltet und bietet jetzt mehr Platz, um – mit Distanzen – zu warten. Das Souterrain mit seinen großzügigen Räumlichkeiten im Vorfeld der Toiletten erfuhr gleich eine ganz neue Gestaltung: mit theaterrotem Teppichboden und ebenfalls roten Sesseln. Fertiggestellt ist das neue Innere nebst neuem Restaurant allerdings noch nicht. Der niederländische Designer Marcel Wanders ist hier noch tätig – man darf gespannt sein.
Der Eindruck einer modernen Lounge im ehrwürdigen Opernhaus ergibt sich aber bereits schon und nötigt einen nachgerade, die Sessel zum Ausruhen auszuprobieren. Fazit: schön und bequem!
Dann gibt der Vorhang die Bühne frei – und es rockt.
Eine ausführliche Rezension des „Paradigma“ genannten Programms gibt es seit seiner Online-Premiere hier.
Gestern versprühten die Tänzer*innen zusätzlich jene gute Laune, die nicht nur Premieren und besondere Vorstellungen ausmacht, sondern die hier selbstredend einen nachgerade heiligenden Grund hatte.
Nach so vielen Monaten endlich zurück auf der Bühne zu sein, das ist einfach etwas ganz Tolles!
Den Beginn macht „Broken Fall“ von Russell Maliphant, 2003 für Sylvie Guillem in Paris zur Musik von Barry Adamson entstanden, in München mit Lucia Lacarra als Primaballerina unsterblich geworden – und auch heute mit Jeannette Kakareka in der einzigen weiblich zu besetzenden Partie ein unbedingter Hingucker.
Jinhao Zhang und Jonah Cook stehen ihr zur Seite, nutzen ihre Elastizität und Hingabe, um sie hin- und herzuwerfen, aufzufangen, hochzuheben, zu lenken, zu umarmen.
Viele der Unebenheiten aus der Online-Premiere sind ausgeräumt, die Figuren erscheinen stärker als im Januar auch als glaubhafte Individuen, nicht nur als sich bewegende Körper.
Der Applaus feierte natürlich auch die Tatsache, dass es endlich wieder Ballett im Opernhaus gibt – die vorzügliche Leistung der Tänzerschaft potenzierte die Freude im Publikum.
Die Gastronomie des Hauses ist vernünftigerweise noch geschlossen: Man muss Corona-Infektionsrisiken ja nicht heraufbeschwören.
Manche Zuschauer*innen hatten selbst vorgesorgt und standen in den Pausen draußen vorm Theater mit dem mitgebrachten Piccolo im Arm. Prosit!
Andere blieben einfach auf ihren Plätzen, standen höchstens mal auf, etwa um das prächtige Interieur oder die immer wieder imposante Deckengestaltung zu betrachten.
Und schon läutete es zum zweiten Stück: „Bedroom Folk“ von Sharon Eyal gehört nun nicht zu unserem Lieblingsrepertoire, aber angesichts der Umstände nimmt man auch so etwas dankbar einfach mit.
Das Ensemble zeigt, dass es nichts verlernt hat in der langen Zwangspausierung vom angestammten Aufführungsort: Spannung und Entspannung, Posen und penetrant zu wiederholende Bewegungen kamen wie aus dem Effeff.
Nach der zweiten Pause dann der Höhepunkt des Abends: „With a Chance of Rain“ von dem kürzlich verstorbenen britischen Choreografen Liam Scarlett, der sich binnen weniger Monate vom Wunderknaben zum Skandalkünstler entwickelte. Einen Nachruf auf Scarlett gibt es hier – aber sein Werk bleibt von seinem Tod unberührt, und gerade „With a Chance of Rain“ zu Klaviermusik von Rachmaninow gilt als eines seiner Meisterwerke.
Dmitry Mayboroda am Piano zeigt, dass Einfühlung kein Privileg der Dirigenten ist. Auch ein Klaviersolist kann so viel Empathie mitbringen, dass er nicht nur ein Künstler, sondern auch eine ernstzunehmende Begleitung voll Liebe und Kollegialität wird.
Und dann erst die Paare, die hier helterskelter mal dem Partnertausch frönen, um dann letztlich doch den ureigenen Weg zu gehen. Die Einsamkeit, unter der man auch in einer Beziehung leiden kann, ist hier das mal eindeutige, mal versteckte Grundthema.
Elvira Ibraimova und Ariel Merkuri bilden so ein Paar, dann Ksenia Ryzhkova mit Emilio Pavan, Madison Young mit Jonah Cook – und die Münchner Sensationsballerina Laurretta Summerscales mit dem vielseitigen Jinhao Zhang.
Selten sieht man eine Parabel auf unsere Gesellschaft so präzise und doch so vieldeutig vorgetragen. Nicht nur dafür: Dankeschön für diesen hoffnungsvollen Auftakt!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg