Ein Stern, der keiner sein wollte, verlosch Der Performer, Tänzer, Choreograf, Dramaturg, Film- und Feuilleton-Autor Raimund Hoghe, Träger des Deutschen Tanzpreis 2020, verstarb

Raimund Hoghe verstarb

Wie ein Mensch im ständigen Wartezustand: Raimund Hoghe stellte auf der Bühne eine abstrakte und dennoch stets wiedererkennbare Figur dar. Faksimile von Gisela Sonnenburg von der Homepage www.raimundhoghe.com

Fast war es ein Irrtum, als ich ihn mal überschwänglich lobte. Raimund Hoghe war ein interessanter Außenseiter als Künstler, doch er vertrat mit Performance eine Kunstrichtung, die mich nur im Ausnahmefall wirklich stark zu fesseln weiß. Hoghe brachte solche Ausnahmen zustande, er konnte mitunter auf der Bühne einen so unerwartet selbstironischen Charme versprühen, dass er darin ohne Beispiel war. Als ich ihn – das war in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts – in einem Artikel dafür lobte, rief er prompt in der Redaktion an und bedankte sich sehr herzlich. Ich hatte seine Begabung früh erkannt. Dann machte er weiter ohne mich Karriere: als Tänzer, Performer, Choreograf. Autor und Dramaturg war er ja schon vor seiner eigenen Bühnenlaufbahn gewesen. Stück für Stück eroberte sich der bucklig gewachsene, großköpfige Hoghe alle Festivals, für die er auch nur entfernt in Frage kam. Zwischen Tanz und Performance bewegte er sich in einem Niemandsland der Kulturgeschichte, das sich damals erst langsam mit Protagonisten füllte. Ein Behinderter als Tänzer, ein Autodidakt als Choreograf, ein Intellektueller als Bühnendarsteller – Raimund Hoghe war gleich in mehrfacher Hinsicht ein Pionier. Preise und Lobreden aus dem In- und Ausland prasselten denn auch auf den extrovertierten Kleinwüchsigen herab: auf jemanden, der sein körperliches Anderssein mustergültig zur Schau zu stellen wusste. Den Deutschen Tanzpreis erhielt er zwar erst 2020, aber keineswegs überraschend. Dass er gestern, im Alter von 72 Jahren, verstarb, reißt eine dramatische Lücke ins experimentelle Tanzgeschehen.

Hoghe, ein Allrounder wie aus dem Märchenbuch für moderne Künstlerlaufbahnen, steht für eine Generation, für die alles möglich schien. Er steht aber auch für all jene, die ihre Chancen bewusst nutzen, ohne sich dabei von sich selbst zu entfremden.

Hineingeboren in die Schickeria wurde er nicht gerade. Seine Mutter war Näherin, er selbst kam unehelich zur Welt, und zwar am 12. Mai 1949 in Wuppertal, in einem Viertel, in dem die Welt nicht wirklich schön war.

Raimund Hoghe verstarb

Raimund Hoghe im Bühnenraum: weniger in einer theatralen Szene als vielmehr in einem Kunstraum. Faksimile von Gisela Sonnenburg von der Homepage www.raimundhoghe.com

Seine körperliche Behinderung, der sich unterhalb der Schulterhöhe krümmende Rücken, wurde nach dem 5. Lebensjahr offenbar. Da war die mentale Prägungsphase des kleinen Raimund bereits abgeschlossen. Glück für ihn!

Seine Mutter liebte ihn mit einer Hingabe, auf die andere Kinder vielleicht neidisch waren. Sie hatte wohl die Geduld einer Heiligen. Sogar Raimunds Vater, der die junge Frau sitzen ließ, der aber über ihren frühen Tod 1966 hinaus den Unterhalt für seinen Sohn bezahlte, verdammte sie nie. Mit einer unbedingten Liebe ohne Erwartungshaltung verzieh sie alles – und förderte ihren Sohn, wie sie nur konnte.

Nach der Schule begann dieser ein Volontariat, gewann mit einem Behindertenthema (einer Reportage über die wechselvolle Geschichte der Behinderteneinrichtung Bethel) einen Preis – und wurde daraufhin prompt von der damals ehrwürdigen „Zeit“ als Autor engagiert. Auch für das Magazin „Theater heute“, das damals noch von seinem Gründer, dem seit dem Krieg einarmigen Theaterwissenschaftler Henning Rischbieter geleitet wurde, war Hoghe früh tätig.

Nach einem Bericht über die Tanztheater-Erfinderin Pina Bausch und ihre Wuppertaler Truppe erhielt er von Bausch das Angebot, als Dramaturg bei ihr zu bleiben. Zehn Jahre der Zusammenarbeit wurden daraus.

Raimund Hoghe verstarb

Zusammen mit Luca Giacomo Schulte entwickelte Raimund Hoghe seine Stücke im Zwischenbereich von bildender und performativer Kunst. Faksimile von www.raimundhoghe.com: Gisela Sonnenburg

Doch während Bausch ihr Werk pflegte und auch frühere Arbeiten neu einstudieren ließ, quälte Raimund Hoghe die ewige Sehnsucht nach immer Neuem. Er wollte eine stete  Entwicklung nach vorn, die er so verstand, dass sie die eigene Vergangenheit verließ.

Die Neueinstudierung älterer Arbeiten lehnte er in der Tat bis zuletzt ab.

Ein Star wollte er nicht sein, aber das eigene Gefühl musste für ihn unbedingt stimmen.

Er machte sich nach der Trennung vom Bausch-Tanztheater mit seinen eigenen Ideen und seiner eigenwilligen Kunstauffassung selbständig. Er verband fortan tänzerische Aktionen mit avantgardistischer Performance. Das Wort „Experimentalkunst“ hätte man für ihn erfinden können, wäre er einige Jahrzehnte früher tätig geworden.

Videokunst, damals in der bildenden Kunst – vor allem im Fluxus – noch eine bahnbrechende Neuerung, fand rasch auch in seiner Arbeit ihren Platz.

Bewegung und Theatralik definierte Hoghe neu, indem er das, was ihn stören könnte, kategorisch ausließ. Spartanisch, oft langsam, oft still, meist simpel und doch mehr als nur einprägsam: Sein Stil war alles andere als eine etwa zu vermutende Nachfolge der Arbeit von Pina Bausch.

Hoghe war nicht verspielt oder vor Lebenslust sprühend. Hoghe war intensiv und mit voller Absicht penetrant. Er dealte mit den Schuldgefühlen der Gesellschaft, und er scheute sich nicht, davon zu profitieren.

Raimund Hoghe verstarb

Mit großen Schritten voran, auch mal in Mutters Schuhen: Raimund Hoghe hatte keine Scheu vor der Selbstironie, sie war eine seiner künstlerischen Qualitäten. Faksimile von der Homepage www.raimundhoghe.com: Gisela Sonnenburg

Über seine Schmerzen, die vermutlich nicht unerheblich waren, sprach er nicht. Seine Augen verrieten manchmal, dass da im Innern mehr war als nur Inspiration: Tapferkeit, Durchhaltevermögen, Disziplin. Typisch für Tänzer.

Er konnte nicht wirklich tanzen, wenn man so will. Aber er konnte eben das vorführen: zu tanzen ohne zu tanzen. Er konnte keine Pirouetten drehen oder Spagatsprünge absolvieren. Aber er konnte sich selbstbewusst und ausdrucksstark bewegen, trotz zwangsläufiger Reduktion des Bewegungsvokabulars. Und ohne eine bestimmte Gelenkigkeit oder Geschmeidigkeit zu trainieren.

Er war eigentlich wie ein Schauspieler ohne Ausbildung, ein Ballerino ohne gestreckte Füße, ein Pantomime ohne unsichtbare Wand. Und dennoch war er glaubhaft, weil er das nach Außen kehrte, was ihn selbst im Innersten bewegte.

Während Andere von der Praxis des Tanzes nur gelegentlich zur Theorie finden, führte ihn sein Weg von der Theorie direkt zur Praxis, und das alles andere als gelegentlich.

Raimund Hoghe verstarb

Rufe eines Künstlers in die Welt: Raimund Hoghe verstand es, die Körpersprache sozusagen laut einzusetzen. Faksimile von www.raimundhoge.com: Gisela Sonnenburg

Wie Raimund Hoghe mit Musik umging, das verriet allerdings seine Nähe zu Pina Bausch. Auch sie bevorzugte lapidare Tanz- oder Gesellschaftsmusik, und auch sie ließ diese taktsicheren Klänge gern einfach sanft vor sich hinplätschern, um mit dieser akustischen Kulisse das Bühnengeschehen zu verfremden.

Bis heute prägt das ja den zeitgenössischen Tanz: Sich nicht präzise und auf den Taktschlag genau mit der Musik zu verabreden, sondern die Musik als allgemeine Untermalung oder auch irrlaufende Gegenspur für die vorgeführte Bewegung zu benutzen.

Live-Musik war nicht Hoghes große Sache. Aber der Live-Tanz derer, für die er kreierte, bildete stets ein Gespinst aus einerseits leicht fasslichen, sogar eingängigen und andererseits schwer zu begreifenden, exotischen Fantasien.

Das mochte Raimund: Das Gewöhnliche mit dem Ungewöhnlichen zu verbandeln.

Zusammen mit jungen, bildschönen, in ihrem Beruf aber auch „gewöhnlichen“ Tänzern auf der Bühne zu erscheinen, war Raimund Hoghe von Beginn an nicht fremd. Schon in „Verdi Prati“, einer sehr frühen Bühnenarbeit von 1992 über einen , ließ er einen jungen Kerl tanzen, der wie ein wandelnder Gegenentwurf zu ihm selbst wirkte. Hoghe selbst betätigte sich in diesem Stück mit nicht uneitler Gestik als eine Art sichtbarer Kulissenschieber.

In „Boléro Variations“ von 2007 kreiste Hoghe zu Maurice Ravels klangmächtigem „Boléro“ auf allen Vieren am Boden, seinen Buckel nackt herzeigend. Unmittelbar vor ihm hatten fünf gut gebaute Tänzer zum seicht gedudelten „Amor, Amor, Amor“-Gesang tangoschrittartigen Soli geübt. Hoghe hatte sich selbst mit eingebaut in diese halberotischen Tänze, indem er mit zwei ejakulierenden Gummiflaschen in den Händen im strammen Gehschritt eine Runde über die Bühne drehte.

Seine Homosexualität hat er nie verleugnet, sie allerdings auch nie so demonstrativ für sich als Künstler verwendet wie seine Behinderung. Seine Themen umkreisten vielmehr historische Themen von Schuld und Aufarbeitung, die er abstrahierte und mit persönlichen Assoziationen anreicherte.

Eine langjährige Kooperation verband ihn mit dem ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen stammenden bildenden Künstler Luca Giacomo Schulte. In gewisser Weise ist auch die Bühnenauffassung von Hoghe eine, die aus dem Bereich der bildenden Kunst stammen könnte. Er baute nie quasi-nachvollziehbare Bühnenräume, sondern präsentierte die Spielfläche stets als das, was sie vordergründig ist: eine offensive Plattform für Darbietungen.

Symbolismus in einer höchst eigenwilligen Umsetzung ist typisch für Hoghes oftmals  minimalistische Inszenierungen. Ein Stück Rasen, ein totes Huhn, ein Pappkarton, eine Decke, ein Kleidungsstück, gleich zwei spritzende Gummiflaschen – alles und nichts konnte bei Hoghe ein pars pro toto für das Weltgeschehen werden.

Und er hatte eine weitere Laufbahn als Autor: Seine Bücher, die er etwa über Pina Bausch schrieb, fanden ihren Weg in die Universitätsbibliotheken ebenso wie zu den Übersetzern für den internationalen Handel. Für arte drehte er Dokumentarfilme, die pures Feuilleton waren.

Die Verbindungen der verbalen Sprache zur Körpersprache riss bei Hoghe auch nie ab. Textfetzen baute er gern ein, ließ sie als Gegenwelten zu den stummen Aktionen auf der Bühne aufflackern.

Raimund Hoghe verstarb

Tapferkeit, Durchhaltevermögen, Disziplin: Das sind die Werte von Tänzern, gleich welcher Facon. Faksimile von der Homepage www.raimundhoghe.com: Gisela Sonnenburg

Schon Hoghes erstes Solo, das er selbst tanzte – es wurde 1994 uraufgeführt – zitiert Weltliteratur. „Meinwärts“: Diesen Titel entlehnte Hoghe einem Gedicht von Else Lasker-Schüler.

Als Epitaph für Raimund Hoghe ist es ebenso geeignet wie es als Lebensmotto passte:

„Ich will in das Grenzenlose / Zu mir zurück, / Schon blüht die Herbstzeitlose / meiner Seele, / Vielleicht ist’s schon zu spät zurück. / O, ich sterbe unter euch! / Da ihr mich erstickt mit euch. / Fäden möchte ich um mich ziehen / Wirrwarr endend! Beirrend. / Euch verwirrend, / Zu entfliehn / Meinwärts.“

Düsseldorf, die Stadt Heinrich Heines, war der Ort, den er für sein Leben als Wohnort gewählt hatte. Düsseldorf liegt am Rhein, nicht am Main. Trotzdem heißt es für Hoghe nunmehr ohne Grenzen: meinwärts!
Gisela Sonnenburg

In diesem Beitrag stecken 6 Stunden Arbeit. Wenn Sie das Ballett-Journal, das ohne Festgehalt und ohne reguläre Förderung auskommen muss, unterstützen wollen, tun Sie das bitte bald:

www.raimundhoghe.com

 

 

ballett journal