Da ist viel, viel Schatten In den neuen Besetzungen hat „La Bayadère“ beim Bayerischen Staatsballett viel von ihrem Charme verloren. Aber Ivy Amista und Jonah Cook retten, was Sergej Polunin verbockt.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Schlussapplaus im Nationaltheater in München nach „La Bayadère“ im Oktober 2016: Ivy Amista (links), Sergej Polunin (mittig) und Ksenia Ryzhkova (rechts). Kehren neue Besen besser? Foto: Charles Tandy

Der Stoßseufzer aus dem Parkett kam von Herzen: „Erst jetzt sieht man so richtig, wie gut die Arbeit von Ivan Liška war“, meint eine Zuschauerin, die nicht zum ersten Mal eine Vorstellung von „La Bayadère“ von Patrice Bart beim Bayerischen Staatsballett besucht. Sie meint mit ihrem Lob des soeben abgetretenen Ballettdirektoren Liška die elegante Stückauswahl, das bunt-berauschende Ambiente, die bewegend-dramatische Geschichte, aber vor allem eine brillierende Ballerina, die ihr stärker denn je ins Auge fällt, und die sich in den letzten Jahren in München kontinuierlich entwickelt hat: Ivy Amista, eine Brasilianerin, die an diesem Sonntagabend die Gamzatti tanzt. „Sie hat so eine warme Ausstrahlung, so viel Menschlichkeit, und obwohl ihre Rolle die der Bösen ist, kann man alles nachvollziehen, alles verstehen, was sie macht. Man denkt richtig mit mit ihr.“ Für den nach München angereisten Star der Aufführung, Sergej Polunin, als umschwärmten Krieger Solor, hat die Zuschauerin solche Prädikate nicht übrig: „Der scheint ja innerlich eiskalt zu sein. Mich berührt er wenig.“

Nach dem Besuch von zwei Vorstellungen im Oktober – in verschiedenen Besetzungen – bestätigt sich dieser Eindruck: Die neuen Besen, die der neue Ballettdirektor Igor Zelensy engagierte, kehren nicht wirklich gut.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Igor Zelensky steht für Strenge und zirkusartigen Pseudoglamour im Ballett. Der neue Ballettdirektor in München hat viele Fans vom Bayerischen Staatsballett bereits enttäuscht. Foto: Bayerisches Staatsballett

Zelensky, einst ein Gala-erfahrender Startänzer des Mariinsky Theaters (früher Kirov) in Sankt Petersburg, dann Leiter verschiedener russischer Compagnien in Nowosibirsk und Moskau, versucht geradezu krampfhaft, den Glanz des Münchner Balletts mit Gaststars nochmals kräftig aufzupolieren. Aber taugt so eine Strategie für die Führung eines Ballettensembles?

Die Gefahr, dass sich die temporären Zuzügler zumeist keineswegs in ein gewachsenes Ensemble einfügen können, hat er dabei übersehen.

Aber was heißt „gewachsenes Ensemble“?

Das heißt, dass Künstler miteinander arbeiten, intensiv und über Jahre hinweg, dass sie eine wie auch immer geartete Einheit bilden und von daher bei aller erlaubten Heterogenität eine Gesamtheit darstellen.

Ein solches Ensemble gab es in München mal. Achtzehn Jahre lang wuchs unter Ivan Liškas Gilde eine in Deutschland solchermaßen zu Recht mit führende Compagnie heran.

Lebendigkeit und Frische, eine ausdrucksstarke Darstellung und eine gelegentliche, aber niemals pur ausgestellte technische Brillanz prägten das Bayerische Staatsballett.

Heute ist etwa die Hälfte der Tänzerinnen und Tänzer ausgewechselt. Zelensky hat, so könnte man lapidar meinen, das Mariinsky Theater in Sankt Petersburg entrümpelt und reihenweise Ballerinen und Ballerini von dort engagiert.

Problem: Das Mariinsky ist ohnehin nicht mehr, was es mal war, seit die Konkurrenztruppe vom Mikhailovsky Theater, ebenfalls in Petersburg ansässig, mächtig aufdreht und die meisten der besten tänzerischen Kräfte vom Mariinsky regelmäßig abwirbt.

So wird der Reigen der Tutu-Ballerinen im „Reich der Schatten“ in „La Bayadère“ zwar hoch akkurat und präzise getanzt. Der weibliche Corps de Ballet wird offenkundig ordentlich dafür gedrillt.

Aber Seele und Herzlichkeit kann man auf der Ballettbühne des Nationaltheaters neuerdings oftmals vermissen… Und das ausgerechnet in München, der „Weltstadt mit Herz“, wie es so schön heißt!

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Ivy Amista, Erste Solistin in München, tanzt die Gamzatti in „La Bayadère“ mit mustergültigem Schmelz und plausibler Rolleninterpretation. Foto: Bayerisches Staatsballett

Und so könnte man sich ärgern, überhaupt hingegangen zu sein.Wäre da nicht Ivy Amista, jedenfalls in dieser einen Vorstellung!

Mit ihr kann man die Geschichte aus der Sicht ihrer Rolle, aus der Perspektive von Gamzatti erzählen.

Gamzatti, Tochter eines einflussreichen Potentaten, ist verliebt in Solor, den Krieger, der sich mit Tapferkeit und auch mit dem Glück des Jägers einen Namen gemacht hat. Der Radscha, Gamzattis Vater, tut alles, um eine glückliche Ehe zwischen den beiden zu arrangieren. Gamzatti (in manchen Bajaderen-Versionen auch „Hamsatti“ geschrieben) hat allerdings eine aussichtsreiche Nebenbuhlerin um Solors Herz: Die Tempeltänzerin und Bajadere Nikija.

Ksenia Ryzhkova, am Moskauer Bolschoi ausgebildet, tanzt an Polunins Seite eine rasante, aber wenig expressive Nikija. Das heißblütige Temperament, das diese Frauenrolle auszeichnet, fehlt Ryzhkova – und auch die Leiden der betrogenen Liebe, denen sie sich schließlich bis zum freiwilligen Tod ergibt, nimmt man ihr beim besten Willen nicht ab.

In anderer Besetzung tanzt das Ehepaar Maria Shirinkina und Vladimir Shklyarov das Liebespaar Nikija-Solor. Beide tanzten zuvor fest am Mariinsky und sollen nun von Zelensky in München offenbar zum „Ersatz“ für die gefeuerten Superstars Lucia Lacarra und Marlon Dino aufgebaut werden.

Na, da hat „Igor, der Schreckliche“ aber noch viel vor im Land der Bajuwaren!

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Zu devot für die Rolle einer echten Primaballerina: Maria Shirinkina. Sie tanzt „La Bayadère“ in der Besetzung mit ihrem Ehemann als Solor. Foto: Bayerisches Staatsballett

Shirinkina ist zu gehemmt, zu mädchenhaft-scheu, zu introvertiert, um eine großartige Ballerina nach mitteleuropäischen Maßstäben zu sein. Alles wirkt ein bisschen zwanghaft bei ihr, schlimmstenfalls sogar ein bisschen aufgesetzt. So etwas geht gar nicht im klassischen Ballett. Vielleicht liegen ihr moderne Parts mehr – aber für die Verkörperung konkreter Handlungsmomente, in denen es knistern und Funken schlagen muss, scheint sie eher ungeeignet.

Nur für einige Sekunden taut sie auf, erwacht aus ihrer starren Haltung von Untertänigkeit: Als Solor ihr einen Handkuss aufdrückt. Da ist das Stück „La Bayadère“ allerdings schon vorbei, die zärtliche Geste respektvoller Anerkennung findet beim Schlussapplaus statt und ist sozusagen privat. Als Künstlerin aber scheint Shirinkina zu unreif, um als Primaballerina wirklich glaubhaft zu sein.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Vladimir Shklyarov ist jetzt Erster Solist in München und tanzt mit seiner Frau in „La Bayadère“. Foto: Bayerisches Staatsballett

Ihr Mann, Shklyarov, hat da weniger Ladehemmungen. Im Gegenteil: Er tanzte schon mit großformatigen Starballerinen wie Evgenia Obraztsova, gewann eine Menge Preise und gilt bereits als gestandener Weltstar. Den Solor legt er durchaus spannend an: als einen zwischen zwei Frauen hin- und hergerissenen Schürzenjäger, der sich nicht aktiv zwischen zwei Lieben entscheiden kann, sondern der sich mehr oder weniger widerwillig von der energischen Herrschertochter Gamzatti die Handschellen der Ehe anlegen lässt. Shklyarovs Solor fügt sich sozusagen in sein Schicksal, indem er neben Gamzatti Platz nimmt.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Tatiana Tiliguzova, Demi-Solistin beim Bayerischen Staatsballett. Sie tanzt die Rolle der Gamzatti im Wechsel mit Ivy Amista. Foto: Bayerisches Staatsballett

Tatiana Tiliguzova, von der Vaganova-Akademie in Sankt Petersburg kommend und neue Demi-Solistin in München, vermag als Gamzatti allerdings nicht genügend Persönlichkeit für eine plausible Rollengestaltung aufzubringen. Ja, sie kann tanzen, wenn man darunter vor allem die technischen Abläufe versteht. Und ja, sie ist untertänig und heuchlerisch devot in ihrer Darstellung, wenn man das Weiblichkeit definieren will (was Igor Zelensky offenkundig macht). Aber Temperament, Lockerheit, Gelöstheit – all das geht ihr ab.

Dabei ist der feurige Clinch zwischen Nikija und Gamzatti ein Kernaspekt in „La Bayadère“!

Und in der großen Streitszene, in der Gamzatti ihre Rivalin mit Schmuck bestechen und ihren Solor solchermaßen freikaufen will, wofür Nikija ihr im Affekt mit einem Dolch zu Leibe rückt, da muss die Chemie zwischen den Damen im kämpferischen Sinne stimmen.

Aber um dieses Vergnügen wird man jetzt in München nahezu geprellt. Kalte technische Leistungen ersetzen nun mal keine Kunst, die mit Seele arbeitet.

Das gilt auch für die Liebesszenen.

Hier enttäuscht Sergej Polunin auf ganzer Linie. Der in der Ukraine geborene Superstar hat zweifelsohne viel Talent, was Technik und hohe Sprünge angeht. Ein Teil des Publikums in München johlt denn auch jedes Mal begeistert, wenn ein scheinbarer Fünfmeter-Sprung kommt.

Aber anhaltende Effekte haben solche Kunststückchen natürlich nicht.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Sergej Polunin, Superstar, mit der hier zu Lande noch eher unbekannten Ksenia Ryzhkova beim Bayerischen Staatsballett in „La Bayadère“. Foto: Charles Tandy

Und Polunin hat schon lange, bevor er begann, in München zu gastieren, aufgehört, ein Künstler mit Herz zu sein. Als Wunderknabe bejubelt und – den völlig abgedrehten Maßstäben für internationale Stargagen von heute entsprechend – total überbezahlt, hat er von London aus eine beispiellose Karriere als menschliches Zirkuspferd gestartet.

Seine Entwicklung als Bühnenkünstler aber blieb auf der Strecke.

So tanzt er den Solor hart, kalt und von Beginn an mit lediglich zwei Gesichtsausdrücken bestückt, also außerordentlich grob gemeißelt.

Entweder Polunin grinst wie ein Honigkuchenpferd, was aber nicht wirklich zur Rolle und ihren Situationen im Stück passt. Oder er setzt eine arrogante, etwas gelangweilte Miene auf, die vermutlich Edelmut darstellen soll, die aber vor allem ignorant und dümmlich wirkt.

Die verliebte Süffisanz, mit der Solor sich heimlich mit der Tempeltänzerin Nikija trifft, sie erscheint durch Polunins Allerweltgegrinse darstellerisch beliebig wie ein Pas de deux auf Sparflamme.

Und statt erregter Hingabe an die Schattenfrau Nikija im „Weißen Akt“ sieht man ein fast störrisch anmutendes, ausschließlich auf sich bezogenes Big Ego tanzen. Hier ist ein Mann bei sich selbst und nur bei sich selbst!

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Sergej Polunin in dem Video „Take me to Church“, das im Internet ein Renner ist. Auch auf youtube ist Polunin ein gut vermarkteter Superstar, obwohl er auch dort sichtlich „reißt“, also die im Ballett eigentlich in jedem Moment geforderte Geschmeidigkeit nicht einhält. Er wirkt dadurch oft grob und hart. Aber: Er springt sehr hoch! Videostill von youtube: Gisela Sonnenburg

Nikija ist da wirklich doppelt bestraft, weil sie sich in einen solchen selbstgefälligen, darin auch einfältig wirkenden Knaben auf Leben und Tod verknallt hat.

So wurde Polunin zwar früh sehr reich mit seinem Können, aber in seiner künstlerischen Entwicklung machte er vermutlich mehr Rückschritte als irgend jemand sonst in der Ballettwelt in den letzten Jahren.

Da lohnt es sich eher, auf youtube oder sonst im Internet nach früheren Zeugnissen seiner nicht mehr durchgängig  geschmeidigen Sprungkraft zu suchen, um sich daran zu delektieren (falls man darauf so sehr steht).

Glück hat Polunin allerdings mit Ivy Amista als Gamzatti.

Die Wahlmünchnerin wickelt ihn mit jedem Blick, jedem Kopfnicken, jeder Geste um den kleinen Finger, sozusagen. Kein Solor hätte eine Chance, ihren weiblichen Fängen zu entkommen. Sie ist eine Verführungsbombe! Und wenn sie neben ihm auf der Bank sitzt, dann zwingt sie ihn mit lasziven Bewegungen, ihr das Gesicht zuzuwenden. Oh, sie beflirtet ihn wie eine orientalische Konkubine!

Da ist dann schon fast egal, wer da als Solor sitzt. In diesen Szenen jedenfalls stimmt das Fluidum.

Das Stück lebt derweil von solchen zwischenmenschlichen Aufgeregtheiten.

Wenn zwei Frauen in denselben Kerl verliebt sind, geht das ja normalerweise auch mindestens für eine Person schlimm aus.

In der Geschichte der Bajadere stirbt Nikija. Denn Gamzatti schickt ihr einen tödlichen Blumenkorb, mit dem Nikija tanzt, bis eine Schlange herausfährt und sie beißt. Sich in Schmerzen windend, muss sie dann auch noch erkennen, dass Solor sich mitleidlos von ihr abwendet, weil er sich für Gamzatti entschieden hat. Ein in Nikija verliebter Brahmane bietet der Vergifteten zwar noch ein Antidot an. Aber die jetzt auch an gebrochenem Herzen Leidende lehnt das lebensrettende Gegengift ab. Sie stirbt, ganz bewusst, weil ihr Leben ohne Hoffnung auf diesen einen Mann Solor für sie keinen Wert mehr hat.

Als Solor später begreift, dass er durch sein doppeltes Spiel mit schuldig ist an Nikijas Tod, berauscht er sich mit einer Opiumpfeife. Im Traum reist er in das „Reich der Schatten“, wo er unter Dutzenden schönen, jungen, weiß gekleideten (also unschuldigen) Tutu-Mädchen der einzige Mann ist.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Das Damencorps vom Staatsballett Berlin tanzte wunderbar das „Reich der Schatten“ in Vladimir Malakhovs Version „Die Bajadere“. Hier ein Schlussapplaus aus der Deutschen Oper Berlin vom Sommer 2015. Foto: Gisela Sonnenburg

Man bemerkt einen islamischen Einfluss auf diese Haremsfantasie: Dutzende von Jungfrauen erwarten einen Mann im Jenseits…

Allerdings setzt sich ansonsten wieder rasch die christliche Vorstellung durch: Solor würdigt die übrigen Geistermädchen keines Blicks, sondern tanzt nur mit seiner Nikija, die auch schon zu Lebzeiten seine Geliebte oder zumindest Verliebte war.

Der Schatten, also der Geist, von Nikija kehrt auch später in Solors Fantasie zurück. Und so kommt es zu einem atemberaubend schönen Dreiertanz zwischen ihm, seiner irdischen Braut Gamzatti und der vergeistigten Nikija. Man kann da schon fast von einer imaginierten Dreiecksbeziehung sprechen.

Und auch, wenn dieses Gespann nicht ganz so auf Gegensätze aufbaut wie der berühmte Pas de trois in „La Sylphide“, wo es um die lyrisch-ätherische Weiblichkeit auf der einen und um die sinnlich-irdische Fraulichkeit auf der anderen Seite geht, so haben wir es doch mit dem Grundkonflikt eines sexuell aktiven Mannes zu tun, der sich zwischen zwei verschiedenen Qualitäten von Frauen nicht zu entscheiden vermag. Noch nicht einmal, als die eine von beiden schon verstarb!

In Patrice Barts Version der klassischen „Bayadère“ ist der Pas de trois, den Solor mit Gamzatti und dem Geist der Nikija tanzt, allerdings nicht nur Ausdruck der Verwirrung des doppelt verknallten Mannes, der vor lauter Liebeshormonen nicht mehr weiß, wo er hingehört und der im Grunde so triebhaft wie ein Tiermännchen agiert.

Nein, dieser Pas de trois, voll von Poesie und Traumhaftigkeit, ist zugleich eine Prophezeiung – und das ist er nur in der Version von Bart.

Normalerweise nämlich endet die Sache rundum tragisch. Nach der Hochzeit von Gamzatti und Solor greifen die Götter ein und lassen die Stadt und den Tempel an einem Unwetter mit integriertem Erdbeben untergehen. Im Jenseits dann sieht man Nikija und Solor in Seligkeit posieren – und Schluss.

Bei Bart aber stehen drei Personen am Ende im himmlischen Elysium und frönen gemeinsam dem ewigen Glück: Solor, Nikija und Gamzatti in neckischer Dreifaltigkeit vereint.

Das kann man unverfroren finden, aber man kann auch sagen: Es passt zu den üblichen Männerfantasien.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Auf Facebook tauschen sich die Fans von Ivy Amista aus. Auf ihrem aktuellen Coverbild trägt sie das Kostüm der Titania aus John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“, der etliche Jahre beim Bayerischen Staatsballett für Begeisterung sorgte. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Inwieweit es plausibel ist, zwei Rivalinnen, die sich zu Lebzeiten am liebsten gegenseitig umgebracht hätten, im Jenseits ganz friedliebend nebeneinander als Dreieckskiste zu positionieren – nun ja, das muss man nicht weiter diskutieren. Es ist schlicht eine Wunschvorstellung, die jeder psychologischen Grundlage entbehrt.

Für eine auch in feministischer Hinsicht akzeptable Lösung fehlt hier die Versöhnungsgeste zwischen Nikija und Gamzatti.

Aber wer weiß schon, welche Mächte in einem Jenseits walten, das ausschließlich weiße Schatten hervorbringt, und das auch sonst nicht mehr nach Gut und Böse fragt?

Die Schuldfrage wird also nicht geklärt – schuld sind auf Erden natürlich vor allem die sozialen Verhältnisse, denn Solor wählte mit der Radscha-Tochter den Reichtum statt die große Liebe.

Insofern ist „La Bayadère“ also sehr realistisch.

In einer anderen Hinsicht ist „La Bayadère“ aber auch wundervoll mystisch. Es gibt darin nämlich dieses superfuriose, fetzige, sprunggeladene Solo des „Goldenen Idols“, einer Gottheit, die aus einem Schrein kommt und für die Minuten des Tanzes zum Leben erwacht.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Jonah Cook, Brite, tanzt seit 2012 in München. Was für ein Talent! Er macht mit dem Solo des „Goldenen Idols“ aus dem Schlussteil der „Bayadère“ einen Hochgenuss. Foto: Bayerisches Staatsballett

Jonah Cook, der in beiden gesehenen Besetzungen diese Rolle einnimmt, erweist sich als wahre Sensation! Es ist ja ein undankbarer Part aus Sicht eines Tänzers, denn er hat einen sehr hohen Vorbereitungs- und Maskeradenaufwand, um dann nur zwei Minuten lang auf der Bühne zu tanzen.

Aber das Solo ist ein Wow-Thing ohnegleichen!

Cook, der bereits den Bayerischen Kunstförderpreis erhielt, stammt aus England, wurde beim Royal Ballet in London ausgebildet und kam, von Konstance Vernon ausgesucht, als Volontär nach München. Damals tanzte er sowohl für die Nachwuchstruppe – die Juniorcompany vom Bayerischen Staatsballett (Bayerisches Staatsballett II) – als auch für die Hauptcompany.

Ivan Liška bewies mit dem Großmachen dieses Talents einen exzellenten Instinkt.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Ivan Liska baute eine Compagnie mit Charakter auf – einige Talente daraus haben den Chefwechsel in München überlebt. Foto: Gisela Sonnenburg

Jonah Cook vermittelt denn auch an mehreren Vorstellungen an einem Tag noch all die übermenschliche Kraft des Goldgottes, aber eben auch – sozusagen zwischen den Sprüngen – die Gerechtigkeit, für die die Götter hier in der „Bayadère“ einstehen. Der Sinn für die Weltordnung und ein heftig-wütendes Auftrumpfen mit Macht schließen sich hier nicht aus.

Die Faszination der im Kreis gesprungenen Asymmetrien und der in einer Linie gezeigten, immens hoch und akkurat zu springenden Échappés wirkt hier durch eine extreme Stilisierung. Diese wird noch verstärkt durch altägyptisch anmutende Kopf-, Arm- und Oberkörperdrehungen. Die Finger sind wie im thailändischen Tempeltanz gespreizt, manchmal bilden Zeigefinger und Daumen einen geschlossenen Kreis, wie auf der Darstellung buddhistischer Götzen.

Das „Goldene Idol“ ist eine hoch faszinierende Skurrilität!

Marius Petipa, der die „Bayadère“ 1877 in Sankt Petersburg uraufführte, wusste schon, was er tat, als er einen Handlungsrahmen für kleine solistische Meisterwerk in seinem großen, auch auf Großartigkeit angelegten Meisterwerk schuf. Die Choreografie, der wir vom Stil her sonst auch so viele sanfte ballettöse Träume verdanken (und eben nicht nur die Tschaikowsky-Ballette „Dornröschen“ etc.), lässt im Tanz des Goldenen Idols die Vorzüge maskuliner Klassik so richtig virtuos auf den Punkt bringen. Wenn man einen entsprechenden Tänzer dafür hat – was mit Jonah Cook zweifellos der Fall ist.

Derzeit ist er Solist, und man wünscht ihn sich als Solor oder auch als Albrecht in „Giselle“ – aber noch hat Jonah Cook da all die russisch-ukrainische Konkurrenz vor der Nase, die Igor Zelensky angeheuert hat.

Jedenfalls ist es ein Oh- und Ah-Erlebnis, Cook tanzen zu sehen, und dass er die Klassik wie die Moderne beherrscht, hat er im Grunde trotz seines jungen Alters schon zur Genüge in etlichen Ballettauftritten in München seit 2012 bewiesen.

Zurück zur „Bayadère“. Die Musik von Léon Minkus, nicht gerade puristisch, eher bombastisch zu nennen, tut auch beim Auftritt des „Goldenen Idols“ das ihre: Kurz vor dem Ende dreht dieses Ballett in jeder Hinsicht noch einmal voll auf.

La Bayadère in München verlor ihren Charme.

Beim Staatsballett Berlin reüssierte Alexander Shpak in der Rolle des „Goldenen Idols“: mit anmutiger Akkuratesse und wundervollen Sprüngen. Foto vom Schlussapplaus nach „Die Bajadere“ aus der Deutschen Oper Berlin vom Sommer 2015: Gisela Sonnenburg

Damit ist man aufgeladen und wach genug für das grollende Untergangsszenario und die daraufhin besänftigende Vorstellung vom Paradies à trois als Schlussbild…

Eines muss jetzt allerdings noch angemerkt werden: Indisch ist die Münchner „La Bayadère“ mitnichten, so betörend sie in ihrer knalligen Entfaltungspracht auch einherkommt.

Die Ausstattung von Tomio Mohri ist aber ganz allgemein exotisch gehalten, eher noch orientalisch und asiatisch inspiriert als typisch indisch. Wir hoffen, dass sich keine Inderin und kein Inder davon beleidigt fühlt.

Genuss bereiten der Prunk und die Funktionalität des bunt glänzenden Bühnenbildes und der vielen im Licht glitzernden Kostüme ja in jedem Fall.

Ein altes Sprichwort bewahrheitet sich denn auch: „Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten.“
Nina Lisa Dorn / Gisela Sonnenburg

Ivy Amista tanzt am 29.10.2016 noch einmal in „La Bayadère“!

Und hier bitte ein weiterer Beitrag zur „Bayadère“ in München, aus der Spielzeit 2015/16, man sieht darin die damaligen Münchner Tänzer und auch viel von der Ausstattung:

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-la-bayadere/

www.staatsballett.de

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