Sage und schreibe sechzehn (16!) Einzelauftritte vereint die diesjährige Internationale Ballettgala XXIII in Dortmund in sich. Die Mehrzahl dessen klingt so glamourös und vielversprechend, dass man eigentlich sofort anreisen möchte. Das Programm ist wirklich hochkarätig, und man glaubt, man sei damit in einer jener Städte, die als Ballettmetropole auf eine jahrzehntelange Tradition zurückblicken können.
Nun ist Xin Peng Wang, der schon seit 2003 Ballettdirektor vom Ballett Dortmund ist und dessen chinesischer erster Vorname mit scharfem „S“ ausgesprochen wird, auch kein Anfänger mehr. Aber er hat es, einst als Ballettdirektor aus Meiningen (Thüringen) kommend, eben auch nicht nur leicht gehabt. Doch steter Tropfen höhlt den Stein: Nach etlichen Verdiensten wie groß in Angriff genommenen Choreografien zu deutscher Weltliteratur – so zum „Zauberberg“ nach Thomas Mann und aktuell mit einem zweiteiligen „Faust“-Projekt – sowie als Begründer des Juniorballetts Nordrhein-Westfalen unter Raimondo Rebeck und, ganz aktuell, auch als Retter für die aus München vergrämten Superstars Lucia Lacarra und Marlon Dino darf man Wang besten Gewissens wohl zur ersten Garde der Ballettmacher in Deutschland zählen. Dieser Mann hat zweifelsohne viel superben Instinkt – und einen Sinn für das, was den abendländischen Hochkulturbegriff ausmacht.
Das Gala-Programm wird denn auch standesgemäß moderiert, zwar nicht von Xin Peng Wang selbst, aber vom Kammersänger Hannes Brock. Der gestandene Tenor wird mit feinem Wohlklang in der Stimme und bestens vorbereitet die Juwelen und Goldstücke, die Wang seinem Publikum präsentiert, nahe bringen.
Als da sind: „Leckerbissen“ vom Miami City Ballet, das mit Rainer Krenstetter einen echten österreichischen Superballerino vorzuzeigen vermag. Berliner Ballettgängern und Stammlesern vom ballett-journal.de ist Krenstetter als eleganter, wendiger, erotischer Tänzer bekannt, der sich nach dem Weggang von Vladimir Malakhov als Chef vom Staatsballett Berlin in Miami auf die Choreografien und den Stil von George Balanchine konzentrierte.
Von Balanchine, dem Begründer der ballettösen Neoklassik, stammt denn auch das „Allegro Brillante“, das Krenstetter mit der ladylike-femininen Tricia Albertson als Bühnenpartnerin sowie mit weiteren voll motivierten Kolleginnen und Kollegen vom Miami City Ballett offerieren wird.
Heißa, da springen die jungen Herren synchron, sie gleiten geschmeidig in die Arabesken, sie feiern das Dasein mit Spitzigkeit und klaren Linien. Die flinken Damen stehen ihnen aber nichts nach, und auch die Paartänze aus dem „Allegro Brillante“, diesem Neoklassiker nach Klängen von Peter I. Tschaikowsky, sind legendär in ihrer Gediegenheit, Fröhlichkeit und Schönheit. Hier tanzen Mann und Frau himmelhochjauchzend – und gar nicht betrübt!
Weniger euphorisch, dafür von einer gewissen Innerlichkeit geprägt, gepaart mit echtem Avantgardismus, geht es in „To whom it may concern…“ von Miquel G. Font zu. Font war Tänzer in Braunschweig und hat insofern eine ungewöhnlich-interessante Ausbildung, als er Musik und Tanz studierte, statt nur Tanz, und zwar in Barcelona. Er hat heute eine kleine Compagnie in Barcelona.
Rainer Krenstetter aus Miami wird ein Solo zeigen, das Font passgenau für ihn kreierte, und zwar zur Lieblingsmusik von Krenstetters Mutter, die ebenfalls Tänzerin war. Es handelt sich um Franz Schubert, den heimlichen König aller tief empfindenden Herzen, und es war des Tänzers Wunsch, seine Frau Mama auf diese Weise zu ehren. Rainer Krenstetter wird die Verbindung von Romantik und Zeitgenössischem, die in diesem Solo steckt, mit einer so zielstrebigen, dennoch sehnsüchtigen Haltung tanzen, wie eben nur er sie zu bieten hat. Vorsicht aber bitte, der Suchtfaktor dürfte hier sehr hoch sein!
Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit gern an Krenstetters Interpretation der durchtriebenen, zugleich aber auch sehr menschlich agierenden Figur Loge in Maurice Béjarts „Ring um den Ring“, die mich 2013 in Berlin so sehr animierte, dass ich mir nur wegen Krenstetter alle Vorstellungen dieses Jahrhundertstücks in dem Frühjahr damals ansah. Krenstetters hohe, in der Luft nachgestreckten Sprünge sind, ob mit etwas Anlauf oder ob aus dem Stand heraus praktiziert, so richtig was zum Staunen, und in Verbindung mit seiner anmutigen Schauspielkunst und seinem „Drive“ gibt es einfach gar keinen Anlass zum Mosern.
Und noch einen Star der Ballettgala XXIII kennt die hiesige Ballettwelt auch aus Berlin sowie aus Dresden: Dmitry „Dima“ Semionov. Er tanzt, zusammen mit Haruka Sassa vom Dortmund Ballett, Xin Peng Wangs „Duett“ aus dem zweiten Akt des „Zauberbergs“ nach dem Roman von Thomas Mann. Die Musik stammt vom estnischen Komponisten und Politiker Lepo Sumera. Der verstarb 2000, aber er hinterließ ein reichhaltiges Werk an stimmungsvollen, modern-cineastischen Musiken. Hier wird allein die Liebe die Hoffnung auch der Todgeweihten sein, und das leicht morbide Flair von Thomas Manns modern-bürgerlicher Literatur trägt wie ein Flügel der Poesie die Choreografie. Toll.
Ganz klassisch und dennoch unsterblich mutet dagegen ein Beitrag von der Pariser Oper an: Dorothée Gilbert, die Göttliche, und Hugo Marchand, ein bildschönes junges Kraftpaket, werden mit einem Paartanz aus „Romeo und Julia“ in der Choreografie von Rudolf Nurejew, unserem Abgott der späten Klassik, verzaubern.
Wieder ein „Duet“ gibt es außerdem von Christopher Wheeldon, der einer der innovativsten Choreografen unserer Zeit ist. Der 1973 geborene Brite wird von Anna Tsygankova und Jozef Varga vom Het Nationale Ballet interpretiert. Ein sehr spannendes Tänzerduo! Nicht nur die Musik von Maurice Ravel (Konzert in G-Dur) dürfte da neugierig machen.
Aber auch der ambivalente „Faust“-Paartanz aus der Choreografenhand des Hausherrn Xin Peng Wang mit Barbara Melo Freire und Harold Quintero vom Dortmund Ballett klingt sehr verlockend, zumal die Musik von Henryk M. Gorecki anspruchsvoll gewählt ist.
Eine echte Entdeckung in Sachen Musik war für mich die klangliche Begleitung von „Regen in deinen dunklen Augen“, das Raimondo Rebeck für „sein“ 2014 gegründetes NRW Juniorballett kreierte. Rebeck, ein Martin-Puttke-Schüler, der früher an der Deutschen Oper in Berlin Primoballerino war, ließ sich von Ezio Bosso inspirieren, dessen einfühlsamer Stil zwischen Frédéric Chopin und Minimal Music à la Steve Reich changiert. Absolut mitreißend!
Wenn dann auch noch Melissa „Wow!“ Hamilton und István Simon vom Semperoper Ballett mit „Giselle“-Geflirte in der historischen Choreografie von Marius Petipa auftreten, dürfte so manches Ballettfanherz überschäumen vor Freude.
Melissas Paraderolle, die „Manon“ von Kenneth MacMillan, wird allerdings in diesem Gala-Programm von Dorothée Gilbert mit Hugo Marchand gezeigt. Ach, die Seelen der Zuschauer werden auch da glücklich und traurig zugleich erzittern… Ballett ist und bleibt eines der probatesten Mittel zur Gefühlsbereinigung. Ob man es aktiv oder passiv ausübt.
Da lässt dann das deutlich sportivere „Full half turn“ von Raimondo Rebeck an Bodenhaftung gewinnen. Die „volle halbe Drehung“ aus dem Titel ist nämlich witzig und scheinbar auch locker, aber ebenso voll akrobatischen Muts vom NRW Juniorballett umgesetzt. Viel Spaß macht es, sowohl den Tänzern als auch dem Publikum, mit diesem Tempomacher!
Wer hingegen vor allem schier ohne Ende kichern möchte, ist mit „The Sofa“, der definitiven Brillanz-und-Humor-Nummer von Itzik Galili, genau richtig.
Die bezaubernde Moonsun Yun, der kecke Giacomo Altovino und der vielseitige Dayne Florence vom Juniorballett aus NRW tanzen, springen, durchwirbeln diese klamaukig-komödiantische, dabei aber echt heiße Dreiecksgeschichte, die so viel mehr Zivilcourage hat als all die biederen Lippenbekenntnisse, die man heutzutage nach dem ersten Entsetzen wegen des Orlando-Attentats auf Homosexuelle zu hören bekommt. Vielleicht wird jetzt ja mal verstärkt nachgedacht, vor allem über die Intoleranz sämtlicher Religionen.
Es ist ohnehin ein Glanzstück für Galas seit Jahren, dieses schmissige Stück von Galili, aber es heute auf den Spielplan zu setzen, ist ganz besonders wichtig!
Eher abstrakt und elektrifizierend im wörtlichen Sinn sind die Arbeiten von Jacopo Godani, der mit Dortmunder Tänzern zwei eigene Beiträge für die Gala einstudierte. Die Musik, jeweils von der Münchner Formation 48nord stammend, driftet gern mal ins Quietschig-Nervige ab, was dem Kunstgenuss aber keinen Abbruch tun sollte.
Nur Johann Sebastian Bach kann da beruhigen: Stijn Celis, derzeit Ballettdirektor in Saarbrücken, schuf mit „Vertigo Maze“, also einem Schwindel erregenden Labyrinth (der Übersetzung nach), einen Tanz, der vor allem der kompliziert-ziselierten Struktur von Bachs Musik Rechnung trägt. Melissa Hamilton und István Simon aus Dresden trauen sich dieses Stück Moderne mit barocker Grundlage zu.
Dass diese Gala etwas Besonderes ist, daran dürfte niemand zweifeln. Und Xin Peng Wang weiß auch, warum: „Viele der Stars, die diesmal auf der Bühne des Dortmunder Opernhauses auftreten, werden zum ersten Mal in der Ruhr-Metropole zu Gast sein.“ Und mehr noch: „Dortmund ist mittlerweile in der internationalen Tanzszene für seine Gastfreundschaft und sein großes Interesse an den verschiedenen Sprachen der Bewegungskunst bekannt.“ Ja, es sieht so aus, als werde in Dortmund jenes Ruder der Tanzkunst in die Hand genommen, das man Vladimir Malakhov in Berlin entrissen hat. Von daher darf man sehr viel Vergnügen in Dortmund wünschen!
Gisela Sonnenburg
Am 25. und 26. Juni 2016
Es gibt noch Restkarten! Nichts wie hin!