Abschied und Neuanfang Ballette von John Neumeier in Europa: In Wien premieren „Verklungene Feste / Josephs Legende“, und in Paris kreiert Neumeier gerade „Das Lied der Erde“

Haigen als Ur-Joseph

Kevin Haigen 1977 als Titelheld der „Josephs Legende“ von John Neumeier in der gleichnamigen DVD von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wenn ein Choreograf so viele weltbedeutende Ballette geschaffen hat wie John Neumeier, ist es schwierig, seine einzelnen Schaffensphasen klar und eindeutig voneinander abzugrenzen. Der kommende Premierenabend beim Wiener Staatsballett vereint jedoch ein eindeutiges Frühwerk Neumeiers – „Josephs Legende“ von 1977 – mit einem Spätwerk, nämlich den „Verklungenen Festen“ von 2008. Allerdings ist auch der „Joseph“ 2008 von Neumeier im stilistischen Ausdruck überarbeitet und stark verändert worden: Das Niedlich-Verspielte, auch Schwülstig-Erotische der Uraufführung wich einer modernen Strenge, einem geradlinigen Purismus und einer abstrahierenden Harmonie.

"Josephs Legende" im Nebel

Nebelschwaden prägen die Urversion der „Josephs Legende“, ganz im Gegensatz zur Neuversion. Hier ein Videstill (Gisela Sonnenburg) aus der DVD von Unitel mit Kevin Haigen.

Dennoch bedeutet der „Joseph“ in Wien ein Wiedersehen mit einem lnag vermissten Stück. Schließlich war die „Josephs Legende“ bei ihrer Uraufführung während der Wiener Festwochen im Februar 1977 ad hoc ein Welterfolg! Und Wien stand Kopf…. Es waren aber auch viele Kräfte gebündelt, um etwas ganz Besonderes zu erschaffen. John Neumeier hatte sich mit dem gut einstündigen Ballett von Richard Strauss ein selten gespieltes Stück ausgesucht, das vom Libretto her schwer zu machen ist, dessen Musik aber ein einziger tänzelnder Rausch ist. Blumig und emotional, melodienreich und rhythmisch pointiert. Und ganz ohne depressive Einsprengsel, wie sie etwa „Also sprach Zarathrustra“ von Strauss schwergewichtig auffährt.

Fürs Bühnenbild und die Kostüme wurde Ernst Fuchs, der Meister des rekonstruierten und fantasievoll ergänzten Jugendstils (Phantastischer Realismus), gewonnen. Neumeier hat sich später von der Opulenz dieses Bühnenbildes distanziert und für seine Hamburger Aufnahme des Stückes ins Repertoire 1979 Marco Arturo Marelli mit einer weniger ausschweifenden Version beauftragt. Aber viele Kenner finden bis heute, dass der „Joseph“ genau den fast schwülstigen Jugendstil braucht, um der im Grunde traurigen, dennoch als Erleuchtungsgeschichte gefeierten Legende einen passenden Rahmen zu geben. Und auch bei der Wiederaufnahme des Stücks 1990 in Wien dominierte noch Ernst Fuchs – ein Zugeständnis an den Wiener Geschmack und die Gegebenheiten.

Nebel satt

Noch mehr Nebel: Manche freuen sich auf eine klare Luft in der modernen Wiener Version, manche hängen der vernebelten Romantik der Urfassung an. „Josephs Legende“ von 1977 auf DVD bei Unitel, Videostill: Gisela Sonnenburg

Legendär wurde Neumeiers Werk aber vor allem als Zeitgeist-Stück der 70er Jahre. Vieles, das der geniale Choreograf da schuf, war unerhört neu und lag dennoch in der Luft: als die sexuelle Revolution der 68er, die diversen Befreiungsbewegungen in den USA und in Europa sowie die modische Frivolität der aufkommenden androgynen Looks fröhliche Urständ‘ feierten.

Verewigt wurde diese erste Wiener Fassung im Sommer 1977: mit einer zweitägigen Videoaufzeichnung in einem Wiener Filmstudio, in dem das Ballett en detail und bis auf die letzte Nebelschwade rekonstruiert wurde. Die DVD ist nach wie vor beliebt und bis heute im Handel (mit dem Label der Deutschen Grammophon erscheint sie bei Unitel).

Maßgeblich beteiligt am großen Erfolg dieser Inszenierung war der damalige Hauptdarsteller, der heutige Erste Ballettmeister Neumeiers, Kevin Haigen. Als 22-jähriger Jungtänzer begründete er einen ganz neuen Typus für Ballett. Neu waren seine Androgynität, die scheinbare sexuelle Unentschiedenheit, das Wechselspiel von männlichen und weiblichen Anteilen in einer Person; damit einher ging der im Ausdruck begründete Wille zu dienen und aufopferungsbereit zu sein.

Haigen coacht Joseph

Kevin Haigen (links) kürzlich bei den Proben in Wien, mit Denis Cherevychko als Joseph. Zwischen ihnen Rebecca Horner, die Potiphars Weib tanzt. Die Passage aus Josephs großem Solo, die hier geübt wird, bildet den Abschluss des Solos. Sie erinnert in den Grundlagenschritten der Füße an Folklore, aber auch an Steptanz. Der Hintergrund: Kevin Haigen, der die Rolle ja 1977 kreierte, war als Kind Steptänzer, bevor er zum Ballett kam. Im Solo erzählt Joseph von seiner Kindheit – und auch davon, dass er kein Kind mehr ist. Beim Solo-Ende wird er von Potiphars Weib ins Auge gefasst und gewissermaßen belästigt: Sie geht ihm nach, rückt ihm auf den Leib. Er wehrt das ab – und tanzt mit den Schritten dieser Probe zu Potiphar, der sich auf der anderen Bühnenseite befindet. Videostill vom Werbefilm des Wiener Staatsballetts: Gisela Sonnenburg

Spätere Darsteller des Josephs wurden zwar von Kevin Haigen in der Rolle gecoacht – wie auch jetzt die beiden Wiener Tänzer Denys Cherevychko und Davide Dato. Und manche – wie der Hamburger Alexandr Trusch – passten sich ins schillernde Wechselspiel des Joseph auch hervorragend ein. Aber mit der Urbesetzung konnte bislang niemand konkurrieren – was nicht an den technischen Fertigkeiten oder den schauspielerischen Talenten liegt, sondern schlicht an der künstlerischen Persönlichkeit. Die muss beim Joseph eigentlich sehr speziell sein, und angesichts des internationalen Erfolgsdrucks, der in der Ballettwelt herrscht, muss man solche wirklich ausgeprägten Indviduen eben doch mit der Lupe suchen.

Kevin Haigen sagte mir, dass er mit den beiden aktuellen Besetzungen des Joseph, mit Denys Cherevychko und Davide Dato, mit denen er in mehreren Etappen intensiv geprobt hat, sehr zufrieden sei. Nehmen wir also an, alles sei zum besten bestellt – immerhin wird die Premiere in der Wiener Staatsoper am 4. Februar ganz hoch gespielt und mit entsprechenden PR-Maßnahmen fachkundig begleitet. So bereiten Videos des Wiener Staatsballetts auf Youtube die Öffentlichkeit auf die beiden premierenden Neumeier-Stücke vor, sie zeigen Ausschnitte aus der Probenarbeit und auch ein Interview mit John Neumeier (siehe unten).

DIE GESCHICHTE IST BIBLISCH, ABER VOM EROS GEPRÄGT

Die Geschichte von Joseph, die „Josephs Legende“, ist biblisch, aber dennoch vom Eros geprägt. Sie ist zudem fast politisch, aber auch spirituell in einem universellen Sinn, denn sie träumt von Erleuchtung und Erlösung. Das Libretto hält sich weitestgehend ans Alte Testament, legt aber einen Schwerpunkt einerseits auf die erotischen Gaben Josephs und andererseits auf seinen Hang zum Übersinnlichen. Josephs Brüder, die in der Literatur häufig eine Rolle spielen, bleiben hier übrigens vollends außen vor.

Haigen und Jamisons Arm

Joseph wird verführt – und vorher wie ein Sklave behandelt. Kevin Haigen in der DVD von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Neumeier’sche Ballettlegende von Joseph geht so: Ein junger Mann, der als Hirte in prähistorischer Zeit arbeitet, wird entführt und als Sklave nach Ägypten verkauft. Die Gattin seines neuen Besitzers verführt ihn, aber er selbst wird dafür abgestraft und gefoltert. Schon öfters hatte er Visionen von einem Engel, der auch jetzt erscheint – und ihn zum Zeitpunkt seines fast erfolgenden Todes mit sich nimmt.

Allen voran bezauberte der Uraufführung der in den USA bei George Balanchine ausgebildete Kevin Haigen, der bei Probenbeginn erst 21 Jahre alt war. Im dekorativen Lendenschurz, also mit einem Minimum an Textilien versehen, aber einem Maximum an emotionaler Ausstrahlung gesegnet, verkörperte er in bester Ballett- und Stummfilmmanier ein noch kindhaftes, seherisch begabtes Lebewesen, das zwischen allen Gegensätzen steht: zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Realität und Traum, zwischen Prophetentum und Sklavendasein, zwischen Aktivität und Passivität.

Haigen als Träumer Joseph

Ein Träumer sei der Joseph, befand schon Librettist Hugo von Hofmannsthal. Hier Kevin Haigen in der DVD von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Sein erster Auftritt am Hofe Potiphars, der Joseph als Sklaven erwirbt, ist gleich ein theaterwirksamer Knaller: Der Junge kullert aus einem zusammen gerollten Teppich, wie einst Kleopatra es zu Cäsars Füßen tat. Arg- und angstlos, aber in höchster Spannung – schließlich geht es im Sklavenhandel auch um Leben und Tod – tanzt Joseph für Potiphar. Es ist ein berühmtes dreiteiliges Solo, voller Demutsbezeugungen, aber auch strotzend vor stolzen Sprüngen und vierfachen Pirouetten, unterbrochen von zwei Pas de deux.

Die Kreationsproben damals, so Kevin Haigen, sei die aufregendste Zeit seines Lebens gewesen. Er war für einen Hauptdarsteller im Ballett irrsinnig jung und zwar nicht unerfahren, hatte aber an eine so wichtige Partie damals kaum zu denken gewagt. Und dann lag der Joseph ihm auch vom Typ her, die Rolle war, wie Haigen es metaphorisch sagte, wie eine zweite Haut, in die er problemlos hineinschlüpfen konnte.

WIE AUS DEM BILDERBUCH FÜR GLÜCKSANMUTUNG

Der erste Teil des großen Joseph-Solos ist denn auch die Selbstdarstellung Josephs. Folklore-Elemente, kleine Sprünge und temperamentvolles Hinknien ergeben ein festes Bild von diesem Hirten aus einer kinderreichen Familie: Joseph ist ein naturhafter Junge, sinnlich und sich seiner Ausstrahlung bewusst. Er erzählt Potiphar von seinem fleißigen Leben in freier Natur – es ist ein munteres Hüpfen und Springen, wie aus dem Bilderbuch für Glücksanmutung. Sogar Tours en l’air stehen in diesem Kontext: nicht um zu imponieren, sondern um Dienstbereitschaft und Lebensfreude zu signalisieren.

Kevin Haigen als Joseph

Joseph erschreckt sich: am Hof von Potiphar, einem Machtmenschen. Videostill aus der DVD von Unitel: Gisela Sonnenburg

Aber dann wird die Musik finster und bedrohlich, und Joseph hat eine Vision. Er landet dazu knapp vor Potiphar, greift ihm fast ins Gesicht (er „begreift“ ihn) – und involviert den mächtigen, reichen Mann in einen prophetischen Pas de deux. Zwölf magere Jahre werden kommen, steht in der Bibel, erzählt Joseph – bei Neumeier ist die Katastrophe nicht genau benannt, aber sie ist als apokalyptische Vision zu erkennen.

Joseph lenkt und leitet den König durch diesen Alptraum – ein seltener Männer-Pas-de-deux, in dem der Ranghöhere von dem Rangniedrigeren aufgeklärt und animiert wird. Potiphar begreift, welche Bedeutung Josephs Rede für ihn haben kann – er lässt sich auf den Knaben ein, macht ihn zu seinem Berater.

Es folgt der zweite Teil von Josephs Solo. Hier sind die Sprünge höher als im ersten Teil, und die Drehungen sind komplizierter. Kevin Haigens Cabrioles hatten hier eine ganz eigene Qualität: einfach, nicht doubliert, aber langsam und besonders hoch gesprungen, wirkten sie wie feierliche Ermahnungen.

Grand pas Landung

Eine schöne und saubere Landung: Kevin Haigen nach einem Grand pas de chat auf der DVD mit John Neumeiers „Josephs Legende“ von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Und dann erst Haigens Grand pas de chat! Legendär und durchaus mit denen von Mikhail Baryshnikov zu messen, wenn auch ganz anders in der Art der Ausführung. Die „großen Katzensprünge“ werden vom jungen Haigen als Mittel genutzt, vorwärts zu kommen und die Bühne mit scheinbar schwereloser, männlicher Kraft zu überqueren, und zwar überwiegend diagonal.

Im Unterschied zu Baryshnikows Grands pas de chat sind sie weit, nicht vornehmlich hoch gesprungen, mit präzisen Mustern des In-der-Luft-Gehens. Vom Ausdruck her, der elegant, graziös und freundlich ist, gleichen sie zudem ritterlichen Referenzen. Sie erheben den Menschen, den Tänzer, den Joseph – und machen aus ihm ein übersinnlich begabtes Wesen. Die Spiritualität Josephs liegt somit tatsächlich nicht nur in seiner Mimik und seiner verspielten Gestik, sondern auch in diesen knallharten Leistungsstücken: dem Grand pas de chat, das er mehrfach wiederholt.

Das choreografische Gegenstück findet sich in Pirouetten, die in einer Attitude nach hinten enden, bei der der Oberkörper rund und weich nach vorn gebeugt ist. Eine tänzerische Erdung, die aber ebenfalls zugleich der Unterordnung unter den Hofstaat dient.

Haigen und Musil

Tanzt mit Joseph mehr als die anderen: Der Engel (hier: Karl Musil) mit Kevin Haigen als Joseph auf der DVD von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Auf dieses mittlere Solostück folgt ein zweiter Pas de deux, der sich, wie der erste mit Potiphar, aus dem Solo heraus quasi organisch entwickelt: Joseph und sein Engel tanzen. Plötzlich steht er da, diese Lichtgestalt, die bei Ernst Fuchs goldglitzernd und gleichsam futuristisch wie ein Rauschgoldengel des übernächsten Jahrtausends aussehend war. Karl Musil tanzte ihn mit Leidenschaft und Erhabenheit, auch mit männlicher Liebe im Ausdruck. Er führt und leitet Joseph mit Hand- und Armgesten, die dieser wie automatisiert nachahmt. Dem Engel gegenüber nimmt Joseph den weiblichen Part ein, lässt sich halten, anleiten, sogar über den Kopf hoch heben – Joseph fühlt sich dabei wie erleuchtet. Es ist eine zweite, eine jenseitige Welt, die der Engel verkörpert und in die er Joseph mit hinein nimmt. Warum er ihm gerade jetzt erscheint? Damit der Junge Joseph nicht vergisst, was seine eigentliche Bestimmung ist. Er soll einer spirituellen Mission frönen, soll sich nicht als materialistisch ausgerichteter Berater von Potiphar auf eine weltliche Karriere freuen. Sein innerer Halt ist übersinnlich – und dem Göttlichen muss Joseph sich stets beugen, egal, wie mächtig und wichtig die irdische Außenwelt gerade erscheinen mag.

Engel und Visionär

Der Engel hilft Joseph, seine Bestimmung zu erkennen. Karl Musil und Kevin Haigen in Neumeiers „Josephs Legende“ auf der DVD von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Wieder allein vor dem Hofstaat, tanzt Joseph den dritten Teil seines Solos, räumlich zwischen Potiphars Weib und Potiphar angesiedelt. Pirouetten mit dem Spielbein à la seconde, erneute Grands pas de chat, dieses Mal schnelle und auch doppelte Cabrioles sowie ein neckischer Lauf im Halbkreis: der Charakter und die Absichten von Joseph werden hier deutlich. Er will dienen unf hilfreich sein, er erzählt von seiner alttestamentarischen Power, er will stark und dennoch spirituell wirken – und untertänigst kniet er daher am Ende vor Potiphar und erbittet dessen Segen zu seinen Plänen.

Potiphars Weib hat derweil während des gesamten Tanzes bereits versucht, Kontakt zu Joseph aufzunehmen. Sie windet sich vor offenbar lang aufgestauter unerfüllter Lust; ein Begehren ohne Maß und ohne Anstand wächst in ihr beim Anblick dieses „leckeren“, nur leicht bekleideten Jünglings. Sie umschleicht den neuen Höfling Joseph wie ein Raubtier – und nutzt die Gelegenheit zu einem ersten Pas de deux mit ihm, allerdings aus der Distanz heraus und zunächst, ohne ihn zu berühren. Dann aber schlängelt sie sich an ihn heran, umgarnt ihn, berührt ihn wie zufällig – eine klassische sexistische Anmache, wie man sie vor allem von Männern kennt. Aber Joseph ist jung, unerfahren und empfänglich für alles Sinnenhafte. Diese Frau verwirrt ihn, er beugt sich ihr, er kniet auch vor ihr, wie zuvor vor ihrem Ehemann.

Judith Jamison

Judith Jamison 1977 als Potiphars Weib: glutvolle Blicke gelten Joseph. Auch auf der DVD „Josephs Legende“ von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Besetzung dieser für Ballett absolut ungewöhnlichen weiblichen Partie war bei der Uraufführung ein positiver Skandal für sich: Mit der dunkelhäutigen, langbeinigen Judith Jamison vom Alvin Ailey American Dance Theatre stand da eine Sexbombe in einem glutorangefarbenen Negligée (später in einem weißglitzernden Flatterfummel) auf der Bühne. Jamison hatte relativ wenige technische Tanzfähigkeiten, konnte dafür aber pantomimisch-gestisch so Einiges aufbringen. Man musste diesen braven Jungen Joseph ja verstehen können, darum wählte Neumeier keine Schauspielerin, wie manch anderer Choreograph vor ihm und auch keine typische zarte Ballerina.

Haigen und Jamison

Ein Jüngling, der sich nicht wehren kann: Joseph (Kevin Haigen), entkleidet von Potiphars Weib (Judith Jamison). Videostill von der DVD „Josephs Legende“ von Unitel: Gisela Sonnenburg

Judith Jamison wird ihren Joseph auf eine Art verführen, die dominant, rückhaltlos und unmoralisch ist: Sie lockt Joseph aus dem Schlaf heraus in die Intimsphäre ihrer Weiblichkeit. Sie überrumpelt ihn nachts, weckt ihn mit Streicheleinheiten. Es fehlten eigentlich nur noch die KO-Tropfen… Willenlos und erregt, begibt sich Joseph mit ihr zunächst in eine Art geschlechtlichen Zweikampf, der darin gipfelt, dass sie ihm das Wams, also seinen Schurz abreißt. Fast nackt, wird Joseph zunehmend ihre Beute, bemüht sich zwar weiterhin, ihr zu widerstehen und den Ehebruch zu verhindern, letztlich aber ergibt er sich ihrem Begehren, mit dem Gesichtsausdruck des schlechten Gewissens statt der lustvollen Hingabe.

Statt Herzenswärme und Zuneigung beherrschen eine grausam-perverse emotionale Kälte und ein zwanghafter Sexus diese Szene. Choreografisch ist sie ein Meisterstück Neumeiers, denn genau um diese Art verdorbener Sexualität geht es hier ja – und keineswegs um eine wie auch immer geartete zarte Verliebtheit oder humanistisch entflammte Neigung. „Judy und ich waren wie Salz und Pfeffer“, sagt Kevin Haigen, der die große Gegensätzlichkeit der Charaktere immer betont sehen möchte.

Judy und Kevin

Eine vertrackte Beziehung: Joseph (Kevin Haigen) und Potiphars Weib (Judith Jamison). Zu sehen auf der DVD „Josephs Legende“ von Unitel. Videostill: Gisela Sonnenburg

Imposant an diesem Verführungspaartanz sind nicht nur die Gelage, sondern auch die Hebungen: der klein gewachsene Kevin Haigen hob und manövrierte die große „Gazelle“ Judith Jamison durch die Luft, als sei sie kaum drei Pfund schwer. Kopfüber schwenkt er sie gen Boden, wirbelt sie kreuz und quer herum – ihr Lustempfinden kommt dabei deutlich zum Ausdruck, obwohl er diese Wirbeleien als Abwehrbewegungen meint.

Haigen und Jamison in "Josephs Legende"

Joseph und Potiphars Weib – eine Annäherung mit großen Folgen. Videostill von der bei Unitel erschienenen DVD „Josephs Legende“: Gisela Sonnenburg

Als sie von Potiphar erwischt werden, sind sie ein notgeiles Paar auf ehebrecherischen Abwegen: Es ist keine Liebe und auch keine aufrichtige Neigung zwischen Joseph und Potiphars Weib, sondern lediglich simple Triebabfuhr. Nicht umsonst hat diese Frau noch nicht mal einen Namen im Libretto, sondern wird nur durch ihre Funktion als Gattin bezeichnet. Man kann nun darüber nachdenken, ob künftige Interpreten des Librettos hier feministischer herangehen wollen und Potiphars Weib einen inneren Konflikt unterstellen werden. Aber in Neumeiers Version zögert sie nicht eine Sekunde, ihren Gatten zu betrügen – sie ist die Personifikation von Sünde und zügelloser Lust.

Blick ins Programmheft von 1979

Ein Blick ins Programmheft der Hamburgischen Staatsoper zur „Josephs Legende“ von 1979: Haigen und Jamison waren schon damals Geschichte. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Potiphar sollte seine Frau kennen, aber nur zu gerne glaubt er ihr, Joseph habe sich an ihr vergangen. Später bereut sie ihre falsche Denunziation und wird, von dem gleichbleibend gutherzigen Engel und dem ohnehin nicht rachsüchtigen Joseph in einen finalen Pas de trois mit aufgenommen.

Zu dritt reiten die zwei Männer und diese Frau durch Unmengen Nebelschwaden – wie eine Art symbolische Ersatzfamilie, wie Vater, Mutter und Kind sehen sie in manchen Posen und Figuren aus. Dieser Pas de trois ist übrigens nicht ohne Grund weltberühmt, denn er vermischt Erotik und sublimierte Zuneigung und scheint auf seine Art eine positive Lösung der ödipalen Dreieckskonflikte anzubieten. Josephs sexuelle Bestimmung ist damit ebenfalls deutlich: Die „Josephs Legende“ erzählt auf der tiefenpsychologischen Ebene von Bisexualität.

Folterszene Joseph

Die Folterszene in der „Josephs Legende“ ist von John Neumeier wie ein Tableau aus der späten Renaissance oder dem frühen Barock inszeniert. Videostill von der DVD von Unitel: Gisela Sonnenburg

Die Folterszene, die Joseph zu Unrecht sühnen lässt und insofern christliche Antizipation enthält, löste der Choreograf John Neumeier mit einem Tableau, das einem Renaissance- oder Barock-Gemälde entnommen scheint. Die Schergen Potiphars rücken rhythmisch an, heben Joseph als wehrloses Bündel Mensch in die Senkrechte und nehmen ihn solchermaßen in Besitz. Dann legen sie ihn auf den Boden und stürzen sich auf ihn, erst schlagend, später auch peitschend.

Potiphars Weib wirft sich schließlich dazwischen und rettet Joseph vor dem sicheren Foltertod. Als Dank darf sie mit Joseph und dem nun wieder erscheinenden Engel den großen Pas de trois tanzen. Bis sie allein zurückbleibt: im Schneidersitz mit großer Sehnsuchtsgeste.

1979 in Hamburg

Noch ein Blick ins Programmheft von 1979. Damals wurde die „Josephs Legende“ von John Neumeier vom heutigen Hamburg Ballett aufgeführt. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Inwieweit diese Geschichte romantisch ist oder nicht, ist nicht sicher auszumachen. In der Urversion ist der romantische Aspekt, der weniger die librettistischen Fakten als vielmehr die Gefühle der handelnden Personen betont, noch sehr stark.

Deutlich entschlackter, puristischer, strenger gibt sich dagegen die Version, die Neumeier 2008 mit dem Hamburg Ballett und Alexandre Riabko in als Titelfigur entwickelte. Schon die Kostüme von Albert Kriemler vom Modelabel Akris sorgen für eine gar nicht pompös-schwülstige, sondern modernistisch-simple Anmutung der Figuren. Der Engel trägt gar ein geschlitztes Wams, das hautfarben ist, den Engel aber dennoch durch die überweite Passform entsexualisiert. Auch Joseph ist zwar nach wie vor beinahe nackt, wirkt aber viel weniger aufregend aufgemacht als in Fuchs’ und Marellis Lendenschurzen. Potiphars Weib hingegen darf endlich zeitgenössische Eleganz vorführen, Potiphar hingegen wirkt in olivgrüner Turbanaufmachung wie aus einem Kostümfest auf die Bühne rauschend.

Das Bühnenbild, nach Neumeiers Ideen gebaut, ist zeitlos-modern, verzichtet auf althistorische Zitate, in denen Ernst Fuchs voll Freude am Detail nur so zu schwelgen wusste. Und noch etwas entfiel: Die rigorosen Mengen Trockeneisnebel, die den „Ur-Joseph“ zu einem mysteriös-theatralisch wirkenden Werk machten. Die neue „Josephs Legende“ von Neumeier ist transparenter – und weniger trickreich.

Joseph in Wien heute

So wird es jetzt in Wien sein: Denys Cherevychko als Joseph und Rebecca Horner als Potiphars Weib in der „Josephs Legende“ von Neumeier. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

So ist auch der Tanz in einigen Kleinigkeiten ebenfalls vereinfacht, verzichtet im Ausdruck auf das vor Temperament und Überdrehtheit nur so Sprühende, das den Joseph der Uraufführung auszeichnete. Dafür sind die Bühnenvorgänge nun klarer gezeichnet, und auch Potiphars Weib hat an nachvollziehbarer Psychologie gewonnen. Sie ist 2008 sozusagen mehr Leidende und sogar Liebende geworden, und die Eheprobleme dieser Figur konnte die Solistin Kusha Alexi in Hamburg explizit mit geschmeidigen Biegungen des Leibs und weit ausholenden, starken Beinbewegungen deutlich machen.

In Wien werden Rebecca Horner (bei der Premiere) und Ketevan Papava alternierend diese hervorzuhebende Damenpartie tanzen. Die Version von 2008 wird ja übernommen, sowohl, was die Choreo als auch, was Bühnenbild und Kostüme betrifft.

IM HINBLICK AUF DEN „JOSEPH“ MUTEN DIE „FESTE“ WIE EINE EINSTIMMUNG AN

Der große Bringer des Wiener Abends wird zweifelsohne die „Josephs Legende“ sein: ein Meisterwerk, voll erotischer Anspielungen und Verzückungen, mit einer dramatischen inneren Handlung versehen, die im äußeren Handlungsablauf ihre Entsprechung findet. Sowas geht einfach immer. Von den Kurzballetten Neumeiers ist es mit Sicherheit das beste und bedeutendste: Mehr Neumeier in einer guten Stunde geht eigentlich gar nicht!

Niurka Moredo auf der Probe

Niurka Moredo (mittig), Ballettmeisterin vom Hamburg Ballett, bei einer Probe für „Verklungene Feste“ in Wien. Videostill aus dem Werbefilm des Wiener Staatsballetts bei youtube: Gisela Sonnenburg

„Verklungene Feste“ ist zwar ein nicht ganz so prägnantes Werk des großen Könners – aber als Einstimmung und Hinführung zum „Joseph“ absolut geeignet. Wie ein Stück zum Abschied wirken die „Verklungenen Feste“, während die „Josephs Legende“ wie ein Neuanfang der Menschheit auf der Suche nach Werten und Zivilisation anmutet. Das Bühnenbild der „Feste“, das wie die Choreografie und das Licht von Neumeier stammt, hat hier starke metaphorische Kraft: Ein Tisch, voll beladen mit leeren Gläsern, steht symbolisch für eine abgefeierte Gesellschaft, die sich gerade trennt, auflöst, in ihr Nichts hinein trudelt.

Verklungene Feste

Eine Gesellschaft im Abgesang auf sich selbst: „Verklungene Feste“ von John Neumeier. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Die wandelnden Partyreste raufen sich zusammen und erinnern sich an vergangene Zeiten, an Glück und Dekadenz, an sorgloses Feiern, aber auch an erlittenes Unglück. Die großen historischen Gegensätze Krieg und Frieden werden mit Kostümen und in mal alptraumartigen, mal hoffnungsvollen Szenen zitiert – schließlich wurde die zu Grunde liegende Musik von Richard Strauss während des Zweiten Weltkriegs geschrieben und uraufgeführt (1940/41).

Dieses „Divertimento“ nach barocken Klavierstücken von Francois Couperin inspirierte letztes Jahr übrigens auch Alexei Ratmansky, den absoluten Shooting Star der internationalen Choreografieszene, zu einer Uraufführung: Das Dresdner Semperoper Ballett tanzte die munteren, auf die Musik bezogene Fantasien Ratmanskys unter dem Titel „Tanzsuite“ mit dem nötigen Drive und auch immer wieder aufblitzenden Humor.

Jetzt sind wir schon von Wien nach Dresden gekommen – folgen wir der Spur John Neumeiers und seines Hamburg Ballett, kommen wir noch weiter durch die Welt. In Europa ist Neumeier mit seinen abendfüllenden Werken nämlich präsent wie kaum ein anderer lebender Künstler. Gastspiele führen sein Hamburg Ballett mit verschiedenen Werken aus all seinen Schaffensperioden noch diese Spielzeit nach Madrid, Salzburg, Venedig – und, bis in den Orient hinein, nach Muskat im Oman.

typischer Neumeier-Pas-de-deux

Eine typische späte Neumeier-Pose in „Verklungene Feste“ beim Wiener Staatsballett. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Auch als Gastchoreograf ist er begehrt: Neumeiers „Kameliendame“ von 1978/1981 wird im April in Amsterdam getanzt, im März und April in Moskau sowie im Februar in München. Ebenfalls in München ist „Ein Sommernachtstraum“ von 1977 ein Erfolgshit, während in Moskau Neumeiers Neuschöpfung „Tatjana“ von 2014 reüssiert.

An seinem Geburtstag am 24. Februar wird John Neumeiers neue Uraufführung zu sehen sein, und zwar in Paris, wo sie derzeit gerade kreiert wird: „Das Lied von der Erde“, nach der gleichnamigen Sinfonie von Gustav Mahler. Im Mai dann zeigt Stuttgart Neumeiers 1983 dort entstandene Version des Tennessee-Williams-Dramas „Endstation Sehnsucht“, bevor die Spielzeit mit den 41. Hamburger Ballett-Tagen und somit mit einer Vielzahl von Neumeier-Werken, zu einem Festival gebündelt, endet.

So gesehen, ist der Wiener Premierenabend ein Auftakt zu einem sprudelnden heimlichen Neumeier-Festival, das sich versprengt, aber bestimmt nicht unsichtbar, über halb Europa und noch weit darüber hinaus erstreckt. Wer es nicht schafft, nach Wien zu fahren, kann am 14. Februar im Internet einem Live-Stream Folge leisten: „Verklungene Feste“ und die „Josephs Legende“ sind, das ist im letzteren Fall ja auch schon deutlich unter Beweis gestellt worden, beides besonders videogene Ballette.

Am 4. (Premiere), 5., 8., 9. und 14.2. in der Wiener Staatsoper – am 14.2. auch als Live-Stream weltweit online!

www.wiener-staatsoper.at

Die unbedingt sehenswerte DVD „Josephs Legende“ mit der Version der Uraufführung erschien bei Unitel und ist im Handel erhältlich.

UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/ 

Und noch was:

Die Premiere am 4. Februar 2015 war – wie erwartet – ein großer Erfolg!

Im Folgenden geben einige Fotos einen Eindruck: 

Denys Cherevychko und Kirill Kourlaev

Die neue „Josephs Legende“ in Wien: Es herrscht eine enge, auch intime Beziehung zwischen Joseph und dem Engel – ergreifend schön! Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Nochmal Joseph und der Engel:

Denys und Kirill

Joseph und der Engel – eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Entwicklung. John Neumeiers „Josephs Legende“ in Wien 2015. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Die Änderungen der Inszenierung im Vergleich zu 1977 ergeben ein dichtes, elegantes Bild des Geschehens: 

Rebecca Horner

Ganz am Ende bleibt Potiphars Weib (Rebecca Horner) allein zurück, während der Engel und Joseph weiteren Aufgaben entgegen sehen… Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Die Beziehungen der Personen zueinander sind 2015 psychologisch nachvollziehbarer in der Version von 1977, dafür weniger expressiv:

Potiphar und sein Weib

Potiphar (Roman Lazik) kann seine Frau (Rebecca Horner) nicht wirklich glücklich machen. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Weniger Pathos, mehr Eindeutigkeit:

Kirill Kourlaev als Engel

Kirill Kourlaev als Engel: Ein wunderschöner Spagatsprung, nicht überstreckt, sondern ausdrucksstark! Ohne diese Lichtgestalt wäre das Ballett „Josephs Legende“ von John Neumeier aber auch nicht vorstellbar… Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Bei den „Verklungenen Festen“ gefiel vor allem die traurig-nachdenkliche Grundstimmung:

"Verklungene Feste"

Erinnerungen und Melancholie, Traurigkeit und Hoffnung in den „Verklungenen Festen“ von John Neumeier in Wien. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Jeder kennt das – dieses schwebende Gefühl der Erinnerungen, wenn eine tolle Party vorbei ist: 

The Party is over

Es gibt aber auch Momente des Sicheinlassens – und die Armgeste der Tänzerin ist sogar ein Zitat aus John Crankos „Onegin“, aus dem Solo der Titelfigur, mit dem Onegin sich und seinen Lebensüberdruss Tatjana vorstellt: „Verklungene Feste“ von John Neumeier in Wien 2015. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

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