Russische Liebe John Neumeier stellte in seiner 218. Ballett-Werkstatt „Anna Karenina“ vor - und weckte Erinnerungen an die russische Liebe, aber auch an andere Ballette und Geschichten

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Leidenschaft pur! Anna Laudere als Anna Karenina und Edvin Revazov als Graf Wronski auf der Probe bei John Neumeier im Ballettzentrum vom Hamburg Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie können nicht voneinander lassen. Anna Karenina, wunderbar getanzt, gespielt, gefühlt, geatmet von Anna Laudere, und Graf Wronski, hinreißend getanzt, gespielt, gelächelt, gesprungen von Edvin Revazov, treffen sich immer wieder hinter verschlossenen Türen auf einem Fest – obwohl sie anderweitig verheiratet ist. Flink drehen sie sich umeinander, er hebt sie, als sei sie federleicht, in exotisch-ästhetische Posen, und beide scheinen jede Berührung ihrer Körper zutiefst zu genießen. Fließend gehen sie zu Boden, legen einander die Köpfe auf die Schultern, kein Kuss allein kann so innig sein wie diese künstlerischen Umarmungen. Dabei geht es, wie John Neumeier in seiner 218. Ballett-Werkstatt mit dem Hamburg Ballett in der Hamburgischen Staatsoper betonte, nicht nur um das Liebesleben der Titelfigur. Schon der Roman „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi behandelt zu etwa 60 Prozent andere Themen, kreisen allerdings um ihre Familie.

Im Ballett von Neumeier werden die komplizierten, gesellschaftlich relevanten Verwandtschaftsverhältnisse um die leidenschaftliche Karenina rasch fasslich.

Mich erinnert die Choreografie über das verliebte Paar aber auch an eine selbst erlebte Geschichte, und da bin ich vielleicht nicht die einzige.

Denn viele der Annäherungen und Blicke, der geäußerten Emotionen in Neumeiers „Anna Karenina“ sind so typisch für heutige Liebespaare, dass sich auch andere an persönliche Erlebnisse erinnert fühlen mögen. In meinem Fall geht es nun auch noch um russische Liebe.

Mein letzter Liebhaber war Russe. Er war geschieden, aber nicht frei, denn er lebte in Moskau mit einer neuen Frau zusammen. Sie hatte ein Kind aus einer anderen Beziehung, für das er ein zweiter Vater geworden war. Patchwork-Verhältnisse: Sein eigener Sohn wuchs bei der Mutter in Kalifornien, USA, auf. Mein Russe, mein toller Russe, der als Musiker und Journalist mehrere Berufe ausübte, pendelte zwischen Moskau und diesem Nest in der kalifornischen Sonne, wo sein Sohn aufwuchs. Als wir uns trafen, das war in Berlin, knallte es auf den ersten Blick. Nach gefühlten fünfzehn Minuten Gespräch gingen wir Hand in Hand auf und davon, und es war uns egal, was die anderen sagen oder denken würden.

Wir verbrachten eine der schönsten Liebesnächte. Wir verstanden uns einfach in jeder Hinsicht. Und seine Zärtlichkeiten, seine eindringliche tiefe Stimme, seinen Geruch und auch seinen anschmiegsamen Körper werde ich nie vergessen. Aber eine Zukunft hatten wir nicht. Nach ein paar Mails und Telefonaten Moskau-Berlin-Moskau war klar, dass sich unsere Wege nie wieder in dieser lustvollen Art kreuzen würden. Unsere Lebenskreise lagen zu weit auseinander. Unsere Vorstellungen von Paarbeziehung wohl auch. Aber den kurzen, heftigen Versuch war es wert gewesen. Und wären die gesellschaftlichen Verhältnisse nur ein klein wenig anders gewesen – wer weiß.

In „Anna Karenina“ geht es ebenfalls um einen Seitensprung. Aber es ist es hier die Frau, die ihn begeht. Anna Karenina muss sich für oder gegen eine neue Leidenschaft, für oder gegen ihre (alte) Familie entscheiden.

Ein Leben, wie es mein Russe führte, würde bei einer Frau nur schwerlich akzeptiert. Auch heute nicht. Kann man sich das vorstellen: eine gut verdienende, beruflich selbständige Frau, die als Ernährerin von Nest zu Nest flattert?

Viele Männer und auch manche Frauen hätten am liebsten einen ganzen Harem für sich. Aber realisieren lässt sich so viel individuelle Freiheit meistens nicht – oder nur auf Kosten der anderen. Untreue ohne Einwilligung des Partners ist schließlich immer auch eine immense emotionale Verletzung, da mag man noch so aufgeklärt und die Beziehung noch so „offen“ sein.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Eine Ehe, die langsam, aber sicher zerbricht: Anna Laudere als Anna Karenina und Ivan Urban als ihr Gatte Karenin kämpfen hier noch um den Bestand der Beziehung, aber die große Liebe dräut woanders am Horizont. Szenenfoto von der Probe aus dem Ballettsaal in Hamburg: Gisela Sonnenburg

Anna Karenina hat zudem das Handicap, über kein eigenständiges Einkommen zu verfügen. Sie ist von den Männern, die sie liebt, finanziell und sozial abhängig. Und damit von vornherein nicht in der Lage, sexuell oder sozial über sich selbst zu bestimmen.

Solche Abhängigkeit blieb mir erspart. Aber in der Weltliteratur gibt es ein Frauenschicksal, das dem von Anna Karenina in Einigem ähnelt. Der entsprechende Roman enstand auch im 19. Jahrhundert, allerdings in Deutschland: „Effi Briest“ von Theodor Fontane. Das Buch wurde, wie „Anna Karenina“, zunächst in einer Zeitung mit einzelnen Folgen abgedruckt, ist allerdings weniger voluminös als das Tolstoi-Werk. „Effi Briest“ ist beinahe novellenhaft geschrieben und entspricht zudem einem klassischen Entwicklungsroman.

Fontane lässt den weniger eifersüchtigen als vielmehr in seiner Ehre gekränkten Ehemann den Liebhaber erschießen und die Scheidung einreichen. Effis Tochter wird ihr weggenommen und entfremdet, und sogar ihr Elternhaus straft sie mit sozialer Ächtung. Sie stirbt, traurig und todkrank, und am stärksten trauert Rollo, der Hund ihrer Jugend, um sie.

Auch Effi hat – wie Anna Karenina – keine Chance gegen die Selbstgerechtigkeit der Männer und der von ihnen geprägten gesellschaftlichen Regeln. Und sie hat noch nicht mal das Vergnügen mit ihnen, das Anna hat.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Anna Laudere als Anna Karenina bei der 218. Ballett-Werkstatt in Hamburg. John Neumeier erklärte darin sein neues, noch in Kreation befindliches Ballett, das von Leo Tolstoi inspiriert ist. Foto: Kiran West

Frauen als Anhängsel der potenten männlichen Geldverdiener – das ist die damals übliche Mann-Frau-Konstellation, wie sie auch Leo Tolstoi im 19. Jahrhundert vorfand.

Tolstoi befreite zwar seine Leibeigenen, aber die Frauen konnte oder wollte er von der Knechtschaft der Männer so schnell nicht loseisen.

Auch bei ihm zu Haus war die Gattin Sofja Andrejwena – deutlich jünger, gänzlich devot und mit sechzehn Schwangerschaften Jahrzehnte lang körperlich ausgebeutet – so eine Art dienendes Anhängsel des Ehemanns.

Zudem traktierte Tolstoi sie mit seiner krankhaften Eifersucht, wegen der er sie auch in ständiger Schwangerschaft hielt. Dass auch Schwangere sexuelle Gelüste haben und einige von ihnen fremd gehen, weil sie Appetit auf einen anderen Mann haben, war Tolstoi in seinem ehelichen Männlichkeitswahn wohl ganz entfallen.

Hätten ihre vielen Kinder Sofja trösten sollen? Mit ihrer Tochter Alexandra verband sie nach Tolstois Tod ein jahrelanger Rechtsstreit…

Wir haben es im Ballett so oft mit Stoffen des 19. Jahrhundert zu tun, in denen Frauen selten die Chance haben, ihr Leben selbst zu gestalten. Darum hier mal eine Feststellung:

Es ist nicht wahr, dass Frauen nur dann ein erfülltes Leben führen, wenn sie heiraten und Kinder haben. Es ist überhaupt nicht wahr, dass Menschen ihrem biologischen Trieb zur Fortpflanzung unbedingt nachgeben müssen, um sinnvoll zu leben.

Im Gegenteil. Es kann sehr sinnvoll sein, auf das Kinderkriegen zu Gunsten anderer produktiver Lebensformen zu verzichten.

Ich habe es nie bereut, Single ohne Kinder zu sein. Nie!

Und ich kenne viele Frauen, denen es sehr gut getan hätte, auf ihr Kind oder ihre Kinder zu verzichten. Ich kenne sogar Männer, denen ein solcher Verzicht gut getan hätte.

Weil sie sich dann wahrscheinlich persönlich viel besser entwickelt hätten, auch – man höre und staune – im Hinblick auf ihre soziale Kompetenz. Sie würden dann nämlich vielleicht weniger egoistisch nur auf sich und die eigene Familie bedacht sein, und sie würden auch nicht ständig vorrangig an ihr eigenes berufliches und soziales Weiterkommen denken.

Dieser Aspekt fehlt in der zeitgenössischen Kultur, seit die „Gender“-Fraktion das feministische Ruder übernommen hat. Die Gender-Theorie ist nämlich der nur vorgebliche, faktisch aber ziellose Versuch einer Aufklärung; sie ist so langweilig und alles entwertend, dass sie niemanden inspiriert, weder zu Taten noch zu künstlerischen Werken. Denn sie verleugnet die Biologie, statt sie zu beherrschen und das Zusammenspiel von Sozialem und Biologischen dem Faustrecht entgegen zu setzen.

Gender ist wahrscheinlich die Bankrotterklärung der Emanzipation, weil sie jede Benachteiligung einer Frau in den Rang eines wissenschaftlich relevanten Objekts überführt und solchermaßen mit Weihe bedenkt, anstatt dem Opfer selbst Recht zuzusprechen. Gender führt nur vor und füttert so sich selbst, statt Ursachen und Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

Das ist jetzt provokant formuliert – aber eine Diskussion darüber scheint mir unerlässlich. Zumal faktisch viele Frauen der Emanzipation schon wieder den Rücken kehren und sich lieber einen Versorger suchen als sich auf dem Arbeitsmarkt benachteiligen zu lassen. Nur: Fortschritt kann man das dann nicht mehr nennen.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

John Neumeier, zum Glück kein langweiliger Gender-Professor, sondern ein hochkarätiger feministischer Choreograf, auf der Probe zu „Anna Karenina“ im Ballettzentrum in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Zum Gück ist Professor John Neumeier kein Lehramtsvertreter einer Gender-Professur, sondern als Künstler und als Mensch ein ganz normaler Verfechter der Rechte von Frauen, Homosexuellen, Ausländern, Behinderten!

Zu Beginn der sonntäglichen Kult-Veranstaltung am 18. Juli 2017 – die dieses Mal ganz besonders stürmisch verlief, was den Beifall betraf – wies Neumeier darauf hin, dass die Uraufführung von „Anna Karenina“ am Ende seiner so genannten „Russischen Spielzeit“ steht. Zu deren Beginn, im September 2016, hatte er mit den Proben für „Anna Karenina“ begonnen. Relativ früh für Neumeier – aber dieses Mammutwerk wird auch für ihn etwas Besonderes sein.

Eingebunden ist es in eine russisch inspirierte Werkreihe des genialen Choreografen.

Denn außer dem von Tolstoi inspirierten Stück stehen auch „Tatjana“, Neumeiers opulent-bizarre Fantasie auf „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin, sowie „Die Möwe“, eine brillant transponierte Umsetzung des gleichnamigen Dramas von Anton Tschechow, auf dem Spielplan.

Das 18. und 19. Jahrhundert bewirkten ja in England, Frankreich, Russland und Deutschland gleichermaßen eine literarische Blütezeit nach der anderen.

Die drei russischen Dichter, denen John Neumeier sich in seinen Balletten widmet, brachten jeweils die Lebensträume ihrer fiktiven Figuren auf den Punkt, ebenso die sozialen Zwänge, denen sie unterliegen.

Diese Essenzen kristallisiert der Ballettintendant und Choreograf vom Hamburg Ballett aus der Literatur heraus, um sie zum Fix- und Drehpunkt seiner eigenen Werke zu machen.

Aus der „Möwe“ tanzen denn auch zwei Nachwuchsstars vom Hamburg Ballett zunächst den rührend-hoffnungsfrohen Eingangs-Pas-de-deux.

Emilie Mazon als Nina und Christopher Evans als Kostja haben diese Partien zwar schon in Vorstellungen getanzt, aber mit jeweils anderen Partnern.

Es war also ein Paardebüt, das sie in der Ballett-Werkstatt gaben – und die beiden bestanden es glänzend.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Emilie Mazon und Christopher Evans als Nina und Kostja in „DIe Möwe“, diesem großartigen Tschechov-Ballett von John Neumeier, so zu sehen bei der 218. Ballett-Werkstatt in Hamburg. Foto: Kiran West

Evans sinniert zunächst tänzerisch in bildschönen Arabesken mit der „Möwe“, die hier aus Papier gefaltet ist und ein Symbol für die Kraft der Kunst – der lebendigen, modernen Kunst – darstellt.

Auf dem Bühnenpodest, das auf der großen Bühne aufgebaut ist, hofft er auf seinen Erfolg als Erneuerer des Theaters: Avantgardistische Tänze, von den Konstruktivisten und Kubisten inspiriert, sind seine Spezialität.

Als Nina (Emilie Mazon), ganz jungmädchenhaft in Shorts und barfuß, dazu kommt, scheint sein Glück voller Hoffnungen und Träume perfekt. Verliebt necken die zwei sich, tummeln sich auf dem Holzpodest, eine gemeinsame Zukunft erwartend.

Im Laufe des Pas de deux wird aber deutlich, dass er ihr wohl nie genug sein wird. Nina ist wild, katzenhaft, zudem ehrgeizig in einem anderen Sinn als Kostja… Sie ist ihm in mancher Hinsicht des realen Lebens und Liebens über, während er verbissen an seine Utopie vom modernen Theater glaubt. Noch sind sie ein Paar, aber ihre kommende Trennung ist bereits zu spüren.

Auch das ist ein intensives Beispiel für eine russische Liebe…

Tosender Applaus belohnt die beiden für ihre technische Bravour und schauspielerische Differenzierung.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

„Anna Karenina“ zu erklären, kann auch Spaß machen: John Neumeier und sein Ensemble vom Hamburg Ballett in der Hamburgischen Staatsoper bei der 218. Ballett-Werkstatt. Bitte achten Sie auf die Schränke im Hintergrund! Foto: Kiran West

Und dann offenbart John Neumeier, in einer lässigen Trainingsjacke über hellem T-Shirt zu dunkler Hose und weißen Schuhen très chic aufgemacht, dass ihn erst am Samstagvormittag, also vor rund 24 Stunden, eine Idee ereilte, die keinen Aufschub duldete. Er rief die beiden jungen Tanztalente an und fragte, ob sie bereit wären, auch den letzten Pas de deux von Nina und Kostja zu tanzen. „Und sie haben beide ‚ja’ gesagt!“, freut sich Neumeier.

Also betritt Emilie Mazon als Nina jetzt in Spitzenschuhen zum schwarzen Gehrock zur Schiebermütze die Bühne. Nina versuchte zwischenzeitlich ihr Glück in einer Revue-Truppe in Moskau und kehrt jetzt aufs Land zurück, wo Kostja wartet und sie immer noch liebt – und unverdrossen avantgardistische Tanztheaterstücke ausbaldowert, die keiner außer ihm sehen will.

Mit feinfühligen Schritten und Gesten nähern sie sich an, doch es kostet Überwindung, die Nähe zuzulassen. Kostja drängt, Nina wehrt ab. Kostja wartet, Nina geht vorbei.

Als Evans – als Kostja – die Arme zu einer Art Rahmen für Ninas Gesicht formt, entzieht sie sich dieser Umrahmungsumarmung, sie läuft um Kostja herum, der mit seinem Armrahmen reglos wartet, und sie versucht es erneut mit ihm. Steckt ihren Kopf in den Ausschnitt zwischen den Armrahmen – und nichts passiert.

Diese Figur löst sich auf, und es ist klar: Alles, was Kostja Nina geben könnte, möchte sie nicht.

Wenn er, kunstvoll auf den Kopf statt auf die Hände gestützt, eine Brücke macht, um so auf sie zu warten, wendet sie sich instinktiv ab – als ginge er sie nichts an.

Dabei meistern sie die Klippen dessen, an dem andere Paare vielleicht scheitern würden, mühelos.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Emilie Mazon als Nina, wie sie in Moskau ihren Träumen nachhängt… so zu sehen in der Vorstellung, nicht in der Ballett-Werkstatt. Foto: Kiran West

Pirouetten, Kipp- und Hebefiguren sehen aus wie gemalt, so schön. Sogar die schwierige Kopfüberhebung, bei der Emilie Mazon direkt auf Christopher Evans zutrippeln und er sie dann kopfüber auf den Rücken nehmen muss, klappt tadellos.

Kerzengerade streckt Emilie solchermaßen ihre Beine in die Höhe, weit über Christophers Kopf hinaus, und er hält sie sicher und souverän – und so still und stumm, wie es Kostja in der Beziehung mit Nina immer mehr geworden ist.

Und dann taucht auch schon sein Rivale auf: Trigorin (männlich getanzt von Dario Franconi), er ist der Erfolgschoreograf, dem Nina rettungslos verfallen ist – obwohl er mit Kostjas Mutter fest liiert ist und Nina als seine Geliebte sehr schlecht behandelt, sie sogar schwanger hat sitzen lassen.

Aber Nina ist ihm hörig, sie liebt ihn wie am ersten Tag, bewegt sich wie in Trance auf ihn zu. Kostja versucht noch, sie zurückzuhalten – er hat keine Chance damit. Nina geht vor Trigorin zu Boden, legt sich einfach hin.

Doch Trigorin will sie nicht mehr. Als Zeichen des Abschieds gibt er ihr ein Medaillon, das sie ihm einst gab, zurück. Er legt es neben ihren Kopf… und sie träumt mit offenen Augen weiter, ohne eine Aussicht, ihre Träume Realität werden zu lassen.

Es geht sehr unter die Haut, wie die drei Tanzkünstler „Die Möwe“, dieses Stück größter Weltballettkunst von John Neumeier, interpretieren. Bedenkt man, wieviel internationalen Erfolg seine Ballette „Die Kameliendame“, „Der Sommernachtstraum“, „Die kleine Meerjungfrau“ und, aktuell in Toronto in Kanada, „Endstation Sehnsucht“ haben, dann ist Neumeiers „Möwe“ vielleicht sein am meisten unterschätztes Stück.

Der Beifall ist entsprechend! Zumal nun die Hamburger Jungtänzer kaum Zeit hatten, diese schwierigen Passagen miteinander zu proben. „Bewunderungswürdig“ findet das auch John Neumeier, zurecht sehr stolz auf seine Tänzer.

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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Das Motiv der Dreiecksgeschichte bleibt, in „Die Möwe“ wie in „Anna Karenina“. Vielleicht ist diese Konstellation nicht allgemein typisch für die Russen, aber die russische Liebe, wie sie in Neumeier-Balletten auftaucht, ist doch geprägt davon.

Denn auch in „Tatjana“ geht es um eine Frau und zwei Männer in der Haupthandlung, das darf angemerkt werden.

Bestens gelaunt, erzählt Neumeier die Entstehungsgeschichte seines jüngsten Werkes (siehe hier: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-anna-karenina-probe-bericht/).

Bis zur Uraufführung beim Hamburg Ballett hat er noch zwei Wochen Zeit – „und fertig ist es noch nicht. Glauben Sie nicht, dass Sie zu früh nach hause kommen, wenn Sie in die Premiere gehen“, scherzt er.

Aber mit eineinhalb Stunden hatte bei einem so umfassenden Themenkreis wohl auch niemand gerechnet.

Auf die Kostproben daraus, die es hier auf der Ballett-Werkstatt geben wird, sind alle neugierig.

Zuvor allerdings ist ein Auszug aus „Tatjana“ wichtig, und zwar die Schlussszene.

Anna Laudere tanzt jetzt im Original-Bühnenbild-Eck-Dekor die Titelfigur der „Tatjana“. Dass hier dieses grüne Bühnen-Eck stehen kann, verdankt sich dem Technischen Produktionsleiter vom Hamburg Ballett, Vladimir Kocic.

Neumeier dankt ihm ausdrücklich – denn eigentlich sind solche „Vollbild“-Gestelle auf der Bühne einer Matinee wegen des hohen Aufwands in der Oper nicht üblich.

Hier steigert das zu sehende Fenster samt Eckwänden und Dekor den Genuss.

Die orchestrale, schwelgende Musik von Lera Auerbach kommt dieses Mal vom Band bzw. aus dem Computer (bei den Vorstellungen wird sie natürlich live gespielt, wie übrigens auch die Stücke von Dimitri Schostakowitsch für „Die Möwe“).

Tatjana hat gerade den Brief von Eugen Onegin erhalten, in dem er ihr seinen Besuch ankündigt. Vor Jahren war sie als junges Mädchen so verliebt in ihn, dass sie ihm spontan einen Liebesbrief schrieb. Doch er lehnte sie ab.

Jetzt, da sie durch die Ehe mit einem gut aussehenden Adligen gereift und gesellschaftlich avanciert ist, zeigt Onegin auf einmal großes Interesse an ihr.

Tatjana sitzt auf der Fensterbank, Anna Laudere trägt hier ein rund ausgeschnittenes schwarzes T-Shirt-Mini.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Anna Laudere und Edvin Revazov in dem obsessiven Paartanz gen Ende von „Tatjana“ von John Neumeier auf der 218. Ballett-Werkstatt. Foto: Kiran West

In einem sensitiven Solo erwägt sie das Hin und Her seines Besuchs. Freut sie sich? Kränkt es sie, dass seine Komplimente viel zu spät kommen? Hat sie Angst vor ihren eigenen Gefühlen? Wird sie ihm widerstehen können?

Sie muss eine Mischung aus starken, aber sehr verschiedenen Gefühlen bewältigen, und kaum hat sie sich in der Hand und sitzt wieder ruhig auf der Fensterbank, da springt er hoch und steht neben ihr.

Was für ein Auftritt für einen Verehrer! Er springt durch das Fenster zu ihr auf die Fensterbank… er muss ums Haus herum gegangen sein, um sie solchermaßen zu überraschen.

Edvin Revazov ist ein Onegin mit großem Charme, dem man so etwas glatt zutraut. Er hat so eine jungenhafte, unverstellte Art, die dennoch auch mit männlicher Zielbewusstheit gepaart ist. Ach, man könnte jetzt sagen, das sei ja so typisch für die Russen, aber das würde vielleicht doch etwas oberflächlich bewertet sein.

Aber anders als etwa in John CrankosOnegin“ hat dieser Mann hier kein schlechtes Gewissen, er ist viel zu sehr und auch zu passioniert mit seinen eigenen Liebesgefühlen beschäftigt.

Wir sahen ihn ja zuvor sich an der Rampe entlang sich in Stimmung bringen, auf dem Weg zu Tatjana. Onegin kennt sie noch als junges, unscheinbares Ding, und jetzt ist sie zu einer gefeierten Schönheit erblüht.

Tatjana muss reagieren. Er steht vor ihr, in all seiner Schönheit, er umwirbt sie, becirct sie, verwickelt sie in modern-komplizierte Schritteinheiten, die ad hoc größte Nähe entwickeln.

Aber es gelingt ihr, sich ihm immer wieder zu entziehen. Sie ist selbstbewusster geworden in all den Jahren, in denen sie ihn nicht sah. Sie ist jetzt glücklich verheiratet, warum soll sie da ihrer unglücklichen Jugendliebe nachgeben?

Anna Laudere tanzt diesen Konflikt mit nuancierter Glaubwürdigkeit und so spannend, als sei es der Grundkonflikt aller verehrter Frauen.

Soll man den Beschwörungen des Verehrers glauben?

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Edvin Revazov als Eugen Onegin in „Tatjana“ von John Neumeier. Hier ein Foto von der Vorstellung, nicht von der Werkstatt – aber es zeigt die Passion dieses großartigen Ballerinos! Foto: Holger Badekow

Edvin Revazov als Onegin bereut nicht, sondern powert. Er verkörpert die Gegenwart, während Tatjana für die Vergangenheit und die Zukunft steht.

Dieser unstete Onegin, er taucht auf, als sei nur eine Nacht vergangen seit jener Zeit, in der er sie demütigte und davon nie genug zu bekommen schien. Zumal er ihren Schwager in spe in einem Duell erschoss.

In der gleichnamigen Oper von Peter I. Tschaikowsky nach Alexander Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ singt Onegin mehr als selbstbewusst Tatjana ins Gesicht: „Du liebst ja doch nur mich!“ Und sie kann ihm nicht mal widersprechen.

Hier ist es anders. In der Schlussszene von „Tatjana“ ist die Titelheldin keineswegs ein kleines Weibchen, das sich fast verführen lässt. Sie ist stärker als im Versroman, stärker als in der Oper oder auch stärker als im Ballett „Onegin“ von John Cranko (bei dessen Entstehung John Neumeier als junger Tänzer in Stuttgart dabei war).

Neumeiers Tatjana hat bereits mit ihren eigenen Gefühlen abgerechnet, bevor Onegin erneut in ihrem auftaucht. Sie ist mit sich im Reinen, und möglicherweise liebt sie diesen Lebemann tatsächlich unverbrüchlich lebenslang, bis zum Tod. Aber sie genießt diese Liebe in Tagträumen und insgeheim, und niemals würde sie auf die Idee kommen, in der Realität mit diesem verwöhnten Dandy und Frauenkenner, der Onegin ist, durchzubrennen.

So hat er schlechte Karten bei ihr. Dennoch ist seine körperlich-sinnliche Anwesenheit unbestreitbar für sie verlockend, und nur zu gern lässt sie sich – wenn auch ohne Koketterie – auf ein Für und Wider ein.

Anna Laudere tanzt das völlig unkitschig, ganz sanft in den Emotionen, und mit einer gewissen weiblichen Überlegenheit überlässt sie ihn sich selbst in einem Solo.

Und er gut ihr nachgerade Leid. Wie er sich anstrengt, ihr jetzt zu gefallen! Alles, was er ihr in ihrer frühen Jugend an Liebesschwüren verweigerte, fällt ihm jetzt offenbar als unbedingt notwendig ein.

Zu spät! Viel zu spät.

Tatjana, die sich wieder in ihre Fensternische zurückzog, um ihn seine Eide mit räumlicher Distanz zu ihr schwören zu lassen, geht auf ihn zu. Sie nimmt seinen Kopf in die Hände und küsst ihn auf den Mund. Wie paralysiert empfängt er diesen Kuss, unfähig, daraus eine weiter gehende Verführung zu machen.

Und sie lässt ihn los, geht allein zurück in ihren Nischenthron, während er sein Unglück kaum zu fassen weiß.

Er zappelt, er turnt auf dem Platz, er rastet aus, es schüttelt ihn, er begehrt auf gegen sein Los – umsonst. Noch einmal rührt er sie nicht. Er wird seelisch zu Grunde gehen, zerstört, verwüstet, einsam.

Revazov tanzt es erschütternd. Man ist gerührt und hasst zugleich diesen selbstgerechten Dandy Onegin dafür, dass er bei aller Freiheit, die er im Leben hatte, doch nur Unglück über sich und die anderen gebracht hat.

Er wird dafür büßen, mit Seelenunheil ohne Aussicht auf Besserung…

Bei Tolstoi allerdings liegen die Dinge anders. Hier leiden vor allem die Frauen, während die Männer so oder so ihren Weg zu finden wissen.

Dafür sind sie aber auch weniger leidensfähig und weniger lustvoll als die Damen.

Und da ist noch ein großer Unterschied zwischen „Eugen Onegin“ und „Anna Karenina“. Denn Tolstois Roman ist so enorm lang!

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Edvin Revazov als Graf Wronski: Er sieht Anna Karenina und kann sie nicht mehr aus dem Blick lassen. Foto von der 218. Ballett-Werkstatt in Hamburg: Kiran West

John Neumeier sagt, dass er, als er das Ballett „Anna Karenina“ als Thema den Kanadiern in Toronto und den Russen vom Bolschoi, mit denen er hier kooperiert, zugesagt hatte, er sich erstmal wieder das Buch von vornahm. Er erschrak ein wenig,

Eine gängige Taschenbuch-Ausgabe von „Anna Karenina“ hat 1227 eng bedruckte Seiten. Nur Dostojewskis „Brüder Karamasow“ sind noch länger, scheint mir.

Neumeier fragt jetzt das Publikum, wer „Anna Karenina“ wirklich ganz gelesen habe. Einige Zeigefinger gehen hoch. Das Ballett-Publikum ist eben gebildet!

„Für mich stellte sich die Frage, wie man das alles in einem Ballett umsetzen soll“, so Neumeier: „Ich habe Tolstoi beneidet, weil er es in einzelnen Folgen über Jahre schrieb.“

Auf ein solches Serienballett hat aber auch in Hamburg niemand so wirklich Lust.

Also: „Ich musste eine Essenz finden“, sagt Neumeier, und das, so ist doch sehr zu hoffen, dürfte dem versierten Ballettmeisterwerkschmied, nicht allzu schwer gefallen sein.

Da ist zunächst mal das Hauptthema des Romans: „Es geht um Familie“, sagt Neumeier – also nicht um Liebe, um das Fremdgehen oder um Schuld und Sühne.

Aber weil Neumeier ein eigenes Stück daraus macht, nennt er seine „Anna Karenina“ im Untertitel nicht „Ballett nach Tolstoi“, sondern: „inspiriert von Tolstoi“.

Köstlicherweise kann Neumeier die Darsteller der Familienmitglieder, um die es hier geht, auch gleich leibhaftig auf die Bühne rufen und sich in eine Reihe aufstellen lassen.

Da ist Dolly (Patricia Friza), die sechs Kinder hat. Fünf davon kommen von der Ballettschule des Hamburg Ballett (Gabriel Alain, Merit Laengner, Liv Kukla, Elisa Müller und Caspar Sasse), und eines liegt imaginär im Kinderwagen.

Dollys Mann ist der Bruder von Anna Karenina und heißt Stiwa (in anderen Übersetzungen Stephan), er wird von Dario Franconi getanzt.

Dollys jüngere Schwester heißt Kitty und wird von Emilie Mazon kreiert.

Dollys Schwägerin ist Anna Karenina Laudere, ihr Mann ist die hochgestellte Persönlichkeit Karenin (getanzt von Ivan Urban).

Aleix Martínez probt enthusiastisch das große Solo von Lewin in "Anna Karenina", dem neuen Ballett von John Neumeier. Foto: Gisela Sonnenburg

Die junge, unbedarfte Kitty (zauberhaft getanzt von Emilie Mazon) ist verliebt in den charmant-männlichen Grafen Wronski (Edvin Revazov mit all seinem Charme)… Foto von der Probe zu „Anna Karenina“ von John Neumeier: Gisela Sonnenburg

Graf Wronski ist verlobt mit Kitty, verliebt sich aber in Anna Karenina – und wird von Edvin Revazov kreiert.

Kitty hingegen wird geliebt von dem adligen Landbesitzer Lewin, der Aleix Martínez auf seinen jugendlich-trainierten Leib choreografiert wird.

Beziehungen über Beziehungen: ein Personal, wie gemacht für eine Seifenoper à la „Dallas“ oder „Denver“. Bei Neumeier gibt es allerdings weder Seife noch Oper, sondern Tanz, Tanz, Tanz…

Und zuvor die nötigen Erklärungen. Etwa die, dass man über die Familie des charismatischen Wronski nicht viel erfährt, nur, dass er wohl eine interessante Mutter hat.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Kitty (Emilie Mazon) trifft Lewin (Aleix Martínez), der sehr in sie verliebt ist… auf der Probe zu „Anna Karenina“ von John Neumeier in Hamburg. Foto: Gisela Sonnenburg

Für die meisten Wissenschaftler, so Neumeier weiter, sei zudem nicht die Titelfigur, sondern Dolly die eigentliche Heldin: „Sie steht für die Familie, sie verkörpert all die Werte, die eine Familie haben sollte – und das trotz ihres blöden Mannes!“

Denn Stiwa betrügt Dolly, er trinkt ohne sie auswärts seinen Champagner, genießt ein Lotterleben – und verführt das Kindermädchen. Kommt uns dieser Typ Mann nicht irgendwie bekannt vor?

Zudem spielt „Anna Karenina“ bei Neumeier ja in der Gegenwart, in unserer Gegenwart, und ob das Kindermädchen nun ein Aupair ist oder eine feste Angestellte…

Man erinnert sich übrigens auch daran, dass die Imperatorin des Axel-Springer-Konzerns („Die Welt“ und andere Zeitungen) als Kindermädchen in der Familie ihres späteren Gatten Axel Springer begann.

Dolly jedenfalls erwischt ihren Mann mit der jungen Gespielin, und diese Szene gibt es jetzt live auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper zu sehen, beschrieben findet sie sich bereits im Probenbericht (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-anna-karenina-probe-bericht/ ).

Neu und interessant ist aber auch das Bühnenbild, das Neumeier für „Anna Karenina“ schuf und das jetzt erstmals zu sehen ist.

Es ist raffiniert und puristisch, komplex und imposant – und bietet vielfältige Möglichkeiten der Veränderung. Man sieht:

Zwei große Wandschränke, hell und cremefarbig, sie bergen je ein kleines, flaches Zimmer. Je eine Tür führt in dieses hinein; die Schränke sind zudem sehr hoch, sie ähneln überdimensionalen Küchenschrankwänden.

Jeder ist viergeteilt, und mir scheint, der rechte könnte ein paar Zentimeter mehr in der Breite haben als der linke.

Hinten am Bühnenhorizont verläuft eine hellgraue Wand, die unten dunkler ist und deren Farbgebung nach oben in ins Helle verläuft.

Der Himmel ist also nicht hoffnungslos, aber auch nicht gerade knallblau…

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Dieser Hochschrank gehört nicht zu John Neumeiers Entwurf für „Tatjana“, aber zufällig habe ich ihn letztes Jahr für einen befreundeten Flur entworfen. Ohne zu wissen, dass Neumeier für „Anna Karenina“ eine nicht ganz unähnliche Konstruktion designt… Wir haben eben einen ähnlichen (guten) Geschmack.. Sehr netter Zufall! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Die Wandschränke können einzeln stehen oder zusammengerückt werden; auf Rollen sind sie beweglich und bilden Parzellen einer modernen Architektur, die sowohl für Innenräume als auch für Außenansichten tauglich ist.

Genial. Dieses Bühnenbild ist einfach genial, es besteht zudem aus einer ganz neuartigen Konstruktion. Man kann es kaum erwarten, das ganze Stück, für das es geschaffen wurde, darin zu sehen!

Vorerst müssen Kostproben genügen…

Die wilde Ehebruch-in-flagranti-Szene wirkt jetzt, beim zweiten Sehen für mich nach der Probe im Ballettzentrum an Fronleichnam, wie eine szenische Antwort auf den ersten Pas de deux zwischen Petruccio und Katharina in John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“.

Dario Franconi als ehebrecherischer Stiwa schmeißt sein tobendes Weib umher; dieses, fantastisch-furios von Patricia Friza dargestellt (die für diese Rolle womöglich ein paar Pfund abnahm, nicht um schön, sondern um schicksalsgeplagt auszusehen), wälzt sich am Boden vor inneren Konflikten.

John Neumeier kommentiert denn auch richtig: „Dolly hat auch ihre Zweifel an den Werten, für die sie steht.“

Sie verlor ihre Schönheit und ihre Unabhängigkeit, wurde durch die Kinder ganz an den Mann gebunden.

Tolstoi – das ist jetzt meine Anmerkung – hatte übrigens ein Vorbild für Dolly wie für Anna Karenina in seiner eigenen Frau. Seine Gattin war in seinen Augen sein Besitz, und mit ihren zahlreichen Schwangerschaften versuchte er, sie an sich zu binden. Mit seinem Zauselbart war er ja nun nicht eben ansehnlich und fürchtete die männliche Konkurrenz. Anna Karenina entspringt als Figur seiner Angstfantasie, seine Frau könne fremd gehen und sich dann auch noch für den Liebhaber entscheiden.

Tolstoi war von krankhafter Eifersucht geplagt. Ob er Frauen als eigenständige Wesen oder nicht vielmehr vor allem als Beute der Männer – darüber lässt sich sicher trefflich diskutieren.

Ich glaube nicht, dass Leo Tolstoi als Künstler über so viel Einfühlungsvermögen verfügte, wie es John Neumeier in seinen Balletten zeigt.

Es gibt hier denn auch eine die weibliche Kraft Dollys zeigende Fortsetzung der Szene zu sehen:

Dolly kommt mit gepacktem Koffer im Mantel aus dem Haus. Und Neumeier fand ein starkes Bild für die Nöte dieser Frau:

Patricia Friza (Dolly) umarmt wie mit einem körperlichen Abschiedsseufzer die Hauswand mit der nun geschlossenen Tür.

Dazu ertönt ein schwermütig-erhabenes Melodiewerk von Peter I. Tschaikowsky.

Patricia Friza tanzt das sehr eindringlich. Ihre Dolly liebt die Kinder und auch den Mann. Und das Zuhause, dass sie geschaffen und bislang intakt gehalten hat. Alles zusammen ist eigentlich ihre Identität.

Aber der Leidensdruck durch den unwilligen, untreuen, dann noch frechen Ehemann ist zu stark geworden. Sie ist bereit, die Familie zu verlassen.

Sie umarmt darum auch den Koffer, den sie bei sich hat (kein Trolley übrigens, sondern ein kastenförmiger, breiter Metallkoffer). Er ist nun alles, was sie noch besitzt.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Patricia Friza als Dolly auf der 218. Ballett-Werkstatt: eine Ehefrau, die verzweifelt und mit ihrem Tanz all ihre Nöte ausdrückt. Und im Hintergrund sieht man die Schrankwände von John Neumeier für die Szenerie.  Foto: Kiran West

Sie ist in diesem Moment eine Frau ohne Zukunft, eine, die sich weggeworfen fühlt, obwohl sie selbst entschied zu gehen.

Doch da kommen die Kinder aus dem Haus, ahnen von der eigentlichen Situation nichts, holen Geschirr herbei, spielen Picknick mit der Mutter.

Und sie nimmt eine Tasse Tee, tanzt, wendet ihr trauriges Gesicht aber von den Kindern ab. Die Kinder sollen nichts merken. Und sie wieder ins Haus gehen, folgt ihre Mutter ihnen nicht…

Wie es weiter geht mit Dolly, wird man bei der Uraufführung von „Anna Karenina“ erfahren. Es ist anzunehmen, dass Neumeier sich beim Handlungsverlauf an den Roman hält – aber ganz sicher ist natürlich nichts.

Dass Anna Karenina Laudere eine Optimalbesetzung der Titelrolle ist, dürfte allerdings außer Frage stehen.

Sie ist nicht zickig, nicht aufgedreht, nicht ordinär, nicht hysterisch. Das sind alles Eigenschaften, die Anna Karenina allzu rasch haben könnte – und dadurch in ihrem Schicksal weniger edel und weniger spannend für die Zuschauer.

Anna Laudere als die Karenina ist mondän, aber auch sensibel. „Sie vermisst ein wenig Wärme bei ihrem Mann“, sagt John Neumeier.

Er lässt „Anna Karenina“ darum mit einer politischen Party beginnen, einer „Rallye“, wie er sagt. Denn Karenin als Machtmensch braucht berufliche Erfolge, und immer wieder wird ihn das prägen und sein Handeln bestimmen.

Nach der Rallye treffen Anna und Karenin daheim ein.

Es beginnt der Pas de deux, in dem sie die Klärung ihrer Beziehung auf die lange Bank schieben, während – in einer Art zweiter Handlungsebene hinter ihnen – der schöne Graf Wronski auftaucht und sich für seine neue erotische Liebe fitmacht.

Die ausführliche Schilderung dieser Szene steht im Probenbericht: .

Jetzt, auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper, fällt auf, dass Edvin Revazov als reizvoller Wronski im ersten Teil der Szene des öfteren mit seinen Jungs – anderen Offizieren oder ähnlichen Militärs – durch den Park joggt. Er befindet sich ja in Moskau, während die Ehe der Karenins in Sankt Petersburg strandet.

Wieder, wie schon bei der Probe, berückt zunächst das Zusammenspiel von Anna Laudere und Ivan Urban. Die beiden können aus dem Stand eine Intensität erzeugen, aus der man glaubt, zehn Jahre einer Ehe zu entziffern.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Anna Karenina Laudere und Ivan Urban als Ehepaar Karenin auf der Probe im Ballettsaal: Sie schieben ihre Beziehung auf die lange Bank, aber sie vermisst die menschliche Wärme darin immer mehr… Foto: Gisela Sonnenburg

Dass Ivan Urban jetzt eine Requisite, eine Zeitung oder Unterlagen, in den Händen hält, ist logisch. Es war aber auch symbolstärk, als er dieses – auf der Probe – nur pantomimisch tat. Jetzt bleiben die Unterlagen die Unterlagen, aber ohne real zu sein, waren sie zugleich ein Zeichen dafür, dass seine Ehe nicht mehr stimmt, wenn irgendetwas anderes wichtiger ist als die Belange der Ehefrau, die Zuwendung haben möchte.

Mayo Arii als Karenins Assistentin durchquert den Raum, hat weitere Unterlagen zur Übergabe anbei. Wieder ist die Arbeit wichtiger als die Gattin.

Die Chancen für den Grafen Wronski auf eine Liebschaft mit der eleganten Anna steigen…

… und wenn bei Anna Karenina Laudere das Handy klingelt und es der Liebhaber aus Moskau ist, dann gibt es kein Halten mehr!

Nur ihr Kind, ihr Sohn, könnte sie vielleicht noch zurückrufen.

Zu putzmunteren „Nussknacker“-Klängen spielen Mutter und Kind hier in einer weiteren Szene aus „Anna Karenina“.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Es war mal eine Ehe… Karenin und Anna Karenina, getanzt von Ivan Urban und Anna Laudere, in der Die-Liebe-auf-die-lange-Bank-Schieben-ist-gefährlich-Szene aus „Anna Karenina“ von John Neumeier. Fotografiert bei der 218. Ballett-Werkstatt von Kiran West

Marià Huguet tanzt den Sohn, der hier deutlich älter als im Roman ist, wo er erst sieben Jahre alt ist. „Er ist hier älter, hat aber noch alles Kindliche“, sagt John Neumeier. Wir tippen mal auf sechzehn oder siebzehn Jahre.

Der Sohn – Serjoscha genannt – merkt jedenfalls nichts von den Bestrebungen seiner Mutter, sich außerhalb der Familie zu orientieren.

Und doch: Die Ernsthaftigkeit und der unbedingte Wille, mit dem er die Mutter zum Spiel holt, macht nachdenklich. Vielleicht ahnt das Kind unbewusst, dass seine heile Familie in Gefahr ist.

Schwupps! Die beiden toben, Muttern lässt sich vom Sohnemann sogar heben, es ist ein fröhliches Hallohallo und eine herzhafte, vor Selbstvergessenheit nur so strotzende Szene.

Selbstvergessen ist auch Aleix Martínez in seinem Solo als Lewin – Neumeier erklärt, dass Lewin zu Beginn nicht nur irgendwie entspannt da liegt, sondern – landmannmäßig lässig – im Stroh liegt.

Der junge aristokratische Mann, der sich eigenhändig um seine Land kümmert, hat allein schon mit seinem Solo eine Bombenrolle in „Anna Karenina“ – denn anders als andere Soli wird hier nichts unterbrochen, sondern es handelt sich um eine geschlossene Solistennummer.

Anna Karenina Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett auf der Probe

Aleix Martínez probt enthusiastisch das große Solo von Lewin in „Anna Karenina“, dem neuen Ballett von John Neumeier. Foto: Gisela Sonnenburg

Und Martínez füllt sie mit so viel Schwung und Konzentration, dass er sehr stürmischen Applaus dafür erntet (Näheres zum Solo im Probenbericht).

Ganz anders ist die Stimmung auf der großen Party, auf der dann auch das Ensemble zum Einsatz kommt.

Aufgekratzt und erwartungsfroh ist hier Kitty (Emilie Mazon), bittend und verliebt ist Lewin (der seine schlechten Chancen gnadenlos übersieht) – und Graf Wronski, der edle Schöne, hat die Qual der Wahl unter den Damen, ist Kitty doch so sehr in ihn verliebt.

Ihn allerdings interessiert diese noch kindhafte junge Dame weniger, während er von Anna Karenina nicht lassen kann…

Wir sind wieder beim Anfang des Textes: Türen knallen, verschiedene Menschen kommen rein und gehen raus, aber immer wieder treffen sich Anna Karenina Laudere und Graf Edvin Revazov Wronski.

Und ihre Liebe als Dreiecksgeschichte mag nicht das Einzige, aber doch das Wichtigste oder auch schlicht das Schönste an „Anna Karenina“ sein…

Aleix Martínez probt enthusiastisch das große Solo von Lewin in "Anna Karenina", dem neuen Ballett von John Neumeier. Foto: Gisela Sonnenburg

Brauchen Sie Feuer? Anna Laudere als Anna Karenina lässt sich von Edvin Revazov als Wronski in Flammen setzen… auf der Probe im Ballettsaal. Mit einer Eleganz…. toll. Foto: Gisela Sonnenburg

Eine russische Liebe voll Leidenschaft!

John Neumeier und das Hamburg Ballett baden im anschließenden Schlussapplaus. Und man könnte wohl sein letztes Hemd darauf verwetten, dass dieser nur ein kleiner Vorgeschmack auf den Erfolg der Uraufführung sein wird.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

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