Giselle im Tango-Fieber Heiße Leidenschaft mit preisgekrönter Choreografie: Argentinisches Flair und eine Spielart von „Giselle“ in „Tanguera – das Tango Musical“. Ballett und Tango haben übrigens so Einiges gemeinsam

Tanguera ist ein tänzerisch-dramatisches Musical

Giselle findet in Buenos Aires rasch Lorenzo, ihre große Liebe. In der aktuellen Besetzung tanzen Melody Celatti und Esteban Martín Domenichini diese Hauptrollen…  in „Tanguera – das Tango Musical“, in dem viel mehr getanzt als gesungen wird. Foto: Alex Rumford

Für viele in Europa ist Astor Piazzolla der Inbegriff des Tangos. Aber wenn man die Argentinier fragt, dann weiß man: Tango an sich ist noch viel authentischer, viel schmissiger, fetziger, leidenschaftlicher, elegischer, auch folkloristischer. Tango liegt so nah am Herzen eines jeden wie so manche Liebes- und Aufstiegsgeschichte. Die hochkarätige Tournee-Show „Tanguera – das Tango Musical“ vereint den alten und den neuen Tango zu einer mitreißend-verständlichen, zudem dramatisch-tänzerischen Erzählung. Hier wird mehr getanzt als gesungen – und die Musik bildet ein einzigartiges Konglomerat der verschiedenen Tango-Sorten. Die weibliche Heldin in „Tanguera“ heißt außerdem nicht ganz von ungefähr Giselle: Sie ist, in Erinnerung an die Ballettheldin gleichen Namens, die moderne Version eines Mädchens, das gegen starke Widerstände liebt.

Mit dem Koffer in der Hand kommt sie langsam eine metallene Rampe herunter. Giselle, getanzt von der Tango-Weltmeisterin Melody Celatti, kommt aus Frankreich. Ihr war eine Anstellung in Buenos Aires zugesagt worden, darum kommt sie als Migrantin nach Argentinien. Man schreibt den Beginn des 20. Jahrhunderts. Giselle kommt gerade vom Schiff, da erblickt sie den smarten, starken Hafenarbeiter Lorenzo (getanzt von dem burschenhaft-hübschen Esteban Martín Domenichini) – und er erblickt sie.

Wie in Hypnose kommt er auf sie zu, nimmt ihr den Koffer ab. Sie sehen sich an, und es ist Liebe. Die bis dahin lakonisch vagabundierende Musik schwillt an zu einem intensiven Moment.

Ach, aber da ist so eine bittersüße Note im Unterton!

Man ahnt, dass Giselle es in Buenos Aires nicht leicht haben wird. Es ist eine harte Männergesellschaft, in die das Schicksal sie geführt hat.

Und schon ist er zur Stelle, der teuflische Widersacher. Dabel Zanabria als Gaudencio hat allerdings kein schurkisches Gesicht; er ist ein schöner, strenger Typ. Und er kann tanzen – hui, da sieht man, was Temperament ist!

Aber Gaudencio ist keineswegs einfach nur Barbesitzer. Er führt einen Nachtclub, zu dem auch Bordellbetrieb gehört. Giselle weiß das nicht. Sie folgt ihm ahnungslos in ihr neues Leben, vermeintlich in ein gutes… und fühlt sich von der mysteriös-eleganten Madam, der Aufseherin, noch herzlich in Empfang genommen.

Ah, die Musik dazu ist aufpeitschend und spannend. Das Bandoneon, dieses in Deutschland erfundene, extravagante Hypermodell eines Akkordeons – es ist typisch für den Tango – sowie fünf weitere exzellent besetzte Instrumente spiegeln akustisch die Atmosphäre und die Lust für den Tango. Und zwar stets passgenau für die Tänzerinnen und Tänzer.

Kein Wunder, denn Musik und Choreografie entstanden hier zusammen, wurden füreinander geschaffen. Die Choreografin Mora Godoy ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet, sie verkörpert den Tango von heute und wurde für ihre Kreationen in „Tanguera“ in Argentinien mit einer Auszeichnung bedacht.

Seit 2002 erlebten Zuschauer in Buenos Aires, in Berlin, in Wien, in London, in Tokio, in Paris und in New York dieses Musical.

Presse und Publikum jubeln, wo auch immer dieses Mega-Extrakt der argentinischen Kultur sich blicken lässt. Und allein in Buenos Aires lief die Show über 18 Monate lang – ein Ritterschlag der hier sachkundigsten Zuschauer, wenn man so will.

Die aktuelle Darstellerin der Giselle, die Solistin Melody Celatti, ist zudem als Mora Godays Tanzstudentin groß geworden, bis sie 2008 mit ihrem exzellenten Stil und ihrer hohen Präzision Tango-Weltmeisterin wurde. Seither, so Fachleute, tanzt und begreift man den Tango anders: weiblicher, anmutiger, weicher, und wenn man so will „ballettöser“.

Melody tanzt expressiv und soft zugleich, sie verzichtet aber auf Verniedlichung und Überzeichnung. Bei ihr zählt die Substanz des Tango, und die ist pur, passioniert, erhaben – und sie kann einen vollends elektrisieren und faszinieren, mit gar nicht mal so weit vom Ballett entfernten Mitteln.

Tanguera ist ein tänzerisch-dramatisches Musical

Eine Frau zwischen zwei Männern: Melody Celatti als Giselle liebt den tapferen Lorenzo (Esteban Martín Domenichini), aber der teuflische Gaudencio (Dabel Zanabria) funkt dazwischen. Szenenfoto aus „Tanguera – das Tango Musical“, ein Stück, das nicht nur mit exzellenter Musik, sondern auch mit hervorragender Tanzkultur begeistert. Foto: Stefan Malzkorn

Da gibt es Hebungen und Pirouetten, gestreckte Füße und luftige Armbewegungen. Raffinesse als Körpersprache… so würde ich Melodys Tanz beschreiben.

Aber jede noch so großartige Tänzerin braucht die passende Musik, um sich zu bewegen und ihr Talent zu zeigen!

Die erfahrenen Tango-Spezialisten Gerardo Gardelin und Lisandro Adrover bearbeiteten darum etliche berühmte Tangos wie „La Cumparsíta“ und „Danzarin“ für die abendfüllende Show von „Tanguera“; sie komponierten aber auch neue dazu, jeweils den Szenen entsprechend.

Gardelin ist übrigens auch Professor für Musik in Buenos Aires, und von Adrover wurde schon vermutet, dass er mit dem Bandoneon geboren wurde.

Mit „Tanguera“ gelang es den beiden, nicht nur die Geschichte von Giselle zu illustrieren, sondern auch – gleichsam wie nebenbei – die musikalisch-historische Geschichte des Tangos zu erzählen.

Tango wurde nämlich ebenda geboren, wo Giselle zunächst landet: im Hafen von Buenos Aires. Hier, zu Beginn des Stücks, klingt die Musik auch noch einfacher, weniger voluminös und kapriziös wie später in den Nachtclub- und Liebesszenen.

Und auch der Einfluss von Astor Piazzolla (1921–1992), dem wichtigsten Vertreter des Tango nuevo, der ab den 50er Jahren reüssierte, kommt erst später am Abend so richtig zum Tragen. Anspruchsvoll und modern, nicht nur melancholisch, sondern auch tragisch oder sogar grotesk ist dann die Stimmung.

Schließlich ist „Tanguera“ auch ein getanztes Stück Sozialkritik: Die Macht der Mafia, auch die Heuchelei der Gesellschaft werden angeprangert.

Dass das Hafenviertel in Buenos Aires „La Boca“ („der Mund“) heißt, verkündet keineswegs nur Lachen und Freude – es ist auch eine anzügliche Schmutzigkeit, eine gewisse Bedrohung, die von dem gefräßigen großen Handelsplatz am Hafen der argentinischen Hauptstadt ausgeht.

Hier wird jeder zur Ware, ob er will oder nicht.

Auch Giselle erhält keineswegs eine anständige Beschäftigung, wie sie es sich erhofft und erwartet hatte. Sie wird vielmehr von Gaudencio zunächst aus Kalkül verführt und dann als seine Zwangsprostituierte versklavt.

Ihre Rettung sind die Musik und der Tanz.

Im Tango findet Giselle Trost und Persönlichkeitsentfaltung – und sie hat so viel Talent, dass sie sich rasch zur begehrten „Tanguera“, der Verführerin nur durch die Körpersprache des Tangotanzes, mausert.

Über die Cabaret-Szene in Buenos Aires erlebt sie einen Aufstieg, wird zu einer von Glamour umgebenen Ikone des Tangos.

Aber auch die Liebe will ihr Recht.

Tapfer kämpft Lorenzo um sie, will sie aus den Klauen der Mafia vollständig befreien.

Vergebens. Als er glaubt, sie endlich für sich zu haben, taucht Gaudencio auf. Das Böse gibt niemals auf…

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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Und der schönste Paartanz zwischen Giselle und Lorenzo wird ihr letzter – er stirbt durch seinen Rivalen Gaudencio.

Diese herzzerreißende Lovestory erinnert in Manchem an das Ballett „Giselle“. Auch dort ist die Titelheldin von nicht hoher Herkunft, und auch dort liebt sie jemanden, den das Leben ihr nicht zu gönnen scheint. Und beide, Giselle und Giselle, sind dem Tanzen mit Leib und Seele verfallen, was auch in beiden Fällen im Stück thematisiert wird. Die Eine liebt dabei den Tango, die andere den als Ballett verkleideten Volkstanz.

Natürlich, es gibt auch größere Unterschiede. Im Ballett hat Giselle zwei Verehrer – aber sie liebt nicht den moralisch Lauterbaren, sondern den charismatischen Schwindler. Sie überlebt dessen Betrug an ihr nicht, wird aber zur Untoten, zum Geist, zur „Wili“, die zusammen mit anderen vor der Ehe gestorbenen jungen Bräuten durch die freie Natur zieht. Um sich an den Männern zu rächen! Nur ihren reuigen Betrüger von damals rettet Giselle, aus reiner Liebe…

Im Musical „Tanguera“ hat Giselle keine Chance gegen die Machenschaften der Männerwelt. Hier ist sie den Gesetzen der Mafia wie auch denen des Erfolgs ausgesetzt – und sie muss sich mit Talent und Hartnäckigkeit durchsetzen. Aber letztlich holt die Rache des Bösewichts sie ein, zerstört ihr Leben, ihre Liebe. Auch wenn sie hier nicht stirbt.

Die Welt des Tangos gibt indes Anlass für mannigfaltige Szenen. So tanzen die Hafenarbeiter paarweise miteinander Tango, um für die Abende mit Frauen im Bordell zu üben. Exotisch und auch erotisch sieht das aus, wie die Männer sich zu muskelbepackten Pärchen aufstellen und die Waden schwingen.

Aber auch die Halunken habe ihre Tänze. Vier Gauner, allesamt gut gebaute Kerls, schieben sich mit Hut und Gamaschen als eingeschworene Bande über die Bühne – elegant und dämonisch.

Das Ensemble wirbelt dann im exzessiven Tango-Rausch auf zeitlose, nahezu moderne Weise umher.

Die Damen werden ins Cambré geworfen, nachdem sie ihre Knie leidenschaftlich auf die Oberschenkel ihrer Partner pressten. Die Füße – bei den Tango-Damen stecken sie in schicken Riemchentanzschuhen – werden gestreckt und spitz erhoben, blitzschnell scheren sie vom Boden hoch, stechen alsbald zwischen die des Tanzpartners.

Dabei berühren sich die Körper der Tanzenden oft nur an wenigen Stellen – aber die Luft zwischen ihnen brennt!

Die Lust, das nachzumachen, ist bekannt: Tango ist ja für viele auch eine aktive Leidenschaft, und so manch braver Arbeitnehmer entfesselt seine Tanzsucht an hautnahem Geschiebe bei regelmäßigen Tango-Abenden in Hamburg, Berlin, Köln oder München.

Tanguera ist ein tänzerisch-dramatisches Musical

Auch das Ensemble hat viel zu tun und kräftig Flair zu versprühen, in „Tanguera – das Tango Musical“, der original argentinischen Show mit viel Herz. Hier eine Szene aus einer Milonga, der argentinischen Cabaretbar. Foto: Manuel Navarro

Aber wo kann die Stimmung in den Milongas – den argentinischen Cabarets – besser wiedergegeben werden als auf einer großen Bühne? Zumal das Lichtdesign hier raffinierte Effekte zum Tragen bringt.

Hier hat die Tanzwut sich zweifelsohne neue Räume erobert – ein Musical mit so viel Passion dürfte einmalig sein.
Gisela Sonnenburg

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