Die tödlich schöne Liebe Und noch eine Besetzung, sogar einzigartig: „Mayerling“ von Kenneth MacMillan beim Stuttgarter Ballett mit Jason Reilly und Anna Osadcenko

"Mayerling" mit Jason Reilly

Anna Osadcenko auf Knien vor Jason Reilly: beim Schlussapplaus nach „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett am 8. Juni 2019. Foto: Boris Medvedski

Eigentlich sollte Alicia Amatriain mit Jason Reilly diese wuchtige Partie stemmen. Aber Alicia erkrankte – gute Besserung! – und überließ somit die Partie von der jungen Baroness Mary Vetsera am letzten Samstag ihrer Kollegin Anna Osadcenko. Sie hat die Partie bereits mit David Moore getanzt, bot aber mit Jason Reilly als Kronprinz Rudolf eine weitere, intensive Interpretation. Da Jason und Anna auch privat ein Paar sind, dürften sie ihre gemeinsame, absolut virtuose Darbietung umso mehr genossen haben. Dass die zwei sich innig kennen, sah man ihrem Vortrag an, und auch die Soli blitzten vor sinnvollen, individuell gefundenen Details in geschmeidigem Flow. „Mayerling“, die tödlich endende Liebesgeschichte – es geht um die letzte Liebe des Kronprinzen und die erste seiner jungen Geliebten – erstrahlte somit beim Stuttgarter Ballett ein weiteres Mal im düsteren, aber starken Glanz der Emotionen. Die junge Dirigentin des Abends, Maria Seletskaja, hatte zwar zunächst noch etwas Mühe, ihre Mannen im Orchester angemessen anzutreiben, aber das pendelte sich ein, sodass die von John Lanchberry bearbeiteten Partituren von Franz Liszt bald filmreif das Bühnengeschehen begleiteten.

Hoch elegant und zugleich viril ist Jason Reilly im ersten Akt der Gastgeber auf seiner Hochzeit mit Kronprinzessin Stephanie (im Ausdruck frisch und sehr schön leidend: Aurora De Mori). Rudolf ist ja hier schon während der Feier zu seiner Verehelichung ein Schürzenjäger, der ohne Rücksicht auf zarte Gefühle mit den hübschen Damen flirtet. Ach, und Jason Reilly ist ein Macho, nach dem sich wohl alle Frauen auf so einem Fest umsehen würden!

"Mayerling" mit Jason Reilly

Jason Reilly bei seinem Debüt als Kronprinz Rudolf in „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett: superelegant. Foto: Ulrich Beuttenmüller

Dass der Kronprinz in der historischen Realität erst Jahre nach seiner Hochzeit auf den Geschmack des häufigen Fremdgehens kam, und zwar nicht von selbst, sondern durch Manipulation der Höflinge, die ihn so von seinen subversiven politischen Interessen ablenken wollten (was erstens belegt ist und zweitens gelang), bleibt hier außen vor. Beim Choreografen Kenneth MacMillan (der sein „Mayerling1978 in London zur Uraufführung brachte und 1992 während einer Wiederaufnahme des Stücks verstarb) zählt das theatrale Fluidum Rudolfs.

Das verkörpert Jason Reilly wie kein zweiter: Er ist wild und doch charmant, bildschön und doch verwegen.

Und: Als Kronprinz Rudolf hat er bereits früh Aussetzer, ist zunächst aggressiv und egoistisch (vor allem in der Hochzeitsnacht zu seiner Braut), dann aber selbst ein Opfer, ein Leidender, ein Verrückter, ein körperlich und mental Zerstörter.

Die schwarze Romantik dieses Balletts steigert sich mit der Entwicklung der dynamischen Hauptfigur.

"Mayerling" mit Jason Reilly

Rudolf (Jason Reilly) dominiert seine Mutter Kaiserin Sissi (Sinéad Brodd). So zu sehen in „Mayerling“ von Kenneth MacMillan in der neuen Ausstattung von Jürgen Rose beim Stuttgarter Ballett. Foto: Ulrich Beuttenmüller

Seiner Mutter Sissi (etwas seicht: Sinéad Brodd) ist dieser Rudolf überlegen: an Willensstärke, an Dominanz. Das macht den gewichtigen Pas de deux zwischen beiden weniger zu einem Dialog als vielmehr zu einem brillanten Monolog des Prinzen. Seine Sehnsucht, in ganz anderen Parametern zu leben als am Hof in Wien üblich, drückt sich hierin unmissverständlich aus.

Er ist mit Jason Reilly eine Mischung aus Lebemann und Philosoph, aus Casanova, Rebell und Salonabenteurer. Und die neuen Kostüme, von Jürgen Rose als Krönung seines bisherigen kongenialen Schaffens kreiert wie auch das Bühnenbild, stehen Reilly, als wären sie speziell für ihn erfunden. Inklusive der Bartmoden.

Anna Osadcenko ist hier eine gar nicht schüchterne, sondern sehr selbstbewusste Mary. Ihre Liebe ruft Liebe hervor, ihr Begehren stählt die Begierde des Mannes. Auch ihr stehen die elegant-prachtvollen Kostüme, als wären sie für sie kreiert.

Die Baroness hat sich ja von fern in Rudolf verliebt, und zwar so sehr, dass sie – obwohl sie weiß, dass sie nicht mehr als seine Geliebte sein kann – flugs in sein Schlafzimmer steuert.

Das schwarze Himmelbett dort mit dem riesigen, machtbewusst die Arme ausbreitenden Todesadler darauf gibt allerdings deutlich die Signale: Dieses Paar steuert gemeinsam rasch auf das Lebensende zu.

Ihre Paartänze haben denn auch jenen leicht morbiden Beigeschmack, den sie laut Libretto unbedingt haben müssen. Die Liebe hat hier den Faktor der Hingabe in dunkelster Hinsicht akzentuiert. Insbesondere Mary ist zu allem entschlossen, um möglichst heftig mit Rudolf zu verschmelzen. Da kommt ihr sein Angebot, gemeinsam in den Tod zu gehen, schon fast gelegen.

"Mayerling" mit Jason Reilly

Ein Traumpaar, auch in der schwarzen Romantik: Jason Reilly als Rudolf mit Anna Osadcenko als Mary Vetsera beim Stuttgarter Ballett in „Mayerling“. Foto: Ulrich Beuttenmüller

Die komplizierten Hebungen und Körperumwicklungen, die die Choreografie vorschreibt, absolvieren Reilly und Osadcenko, als seien sie nur dafür überhaupt in die Ballettwelt gekommen. Es ist sagenhaft, was für eine Ausstrahlung von diesem Paar ausgeht!

Aber als Rudolf seine Mutter mit deren Liebhaber erwischt, ist es aus mit dem männlichen Sinn für Leidenschaft. Es zeigt sich seine Erkrankung in aller Deutlichkeit: Er wird übermäßig wütend, rastet aus, dreht fast durch. Der Macho hat auch der eigenen Mutter gegenüber Besitzansprüche.

Dabei geht auch sein Vater fremd, was im Stück nicht weiter beanstandet wird, und zwar – im Ballett – mit der auf der Bühne auftretenden Sängerin. Hierzu eine Anmerkung:

In der Realität traf Kaiser Franz Joseph seine Geliebte,die Schauspielerin Katharina Schratt, stets frühmorgens, um als Liebhaber für sie in Bestform zu sein. Als Alibi für den Hof ließ Schratt jeden Morgen um halb sieben einen Gugelhupf nach ihrem Rezept anliefern, zwecks Bewirtung des Kaisers, dem dieser Kuchen angeblich besonders gut mundete. Er genoss indes nicht nur diese Leckerei, die mit Zimtzucker, Rosinen und Mandeln in Germteig gebacken wurde.

Des Kaisers Sohn wälzte hingegen politisch wie privat viele Probleme, statt nur am Liebreiz der Damen zu naschen.

In „Mayerling“ versteht er sich mit rhythmisch tanzenden ungarischen Rebellen, plädiert für demokratische Vorgehensweisen und wäre dennoch am liebsten Vogelkundler geworden.

 Jürgen Rose zeigt mit exquisit auf den Punkt bringenden Requisiten und Kostümdetails, in was für einer Welt sich dieser an Interessen so reiche, dabei äußerst lebenslustige Rudolf am liebsten bewegt. Mit dem strengen Zeremoniell des Wiener Kaiserhofs haben seine Vorlieben allerdings nur wenig zu tun.

"Mayerling" mit Jason Reilly

Ein Prinz mit vielen Damenbekanntschaften: Jason Reilly als Rudolf, hier mit Angelina Zuccarini als Gräfin Larisch in „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Ulrich Beuttenmüller

Doch die Damenbesuche des Prinzen haben Folgen. Rudolf litt an den Spätfolgen einer Geschlechtskrankheit, vermutlich an Syphilis. Hier zeigt sich das so:

Als er mit Mary incognito eine Kaschemme besucht, hat er einen Anfall von schmerzhafter Lähmung, kann seine Beine nicht bewegen, muss seine Hände benutzen, um sie zu platzieren. Diese Pointe gibt es nur in dieser männlichen Besetzung.

Das Entsetzen über den unerwarteten körperlichen Verfall spielt Jason Reilly so mitleiderregend, dass man auch Mary verstehen kann, die herzzerreißend dreinschaut.

Als sie sich für den Freitod entscheiden, weiß die junge Liebende, dass es für den schwer Erkrankten, der außerdem morphiumsüchtig ist, auch um eine Erlösung von Schmerzen geht.

Und dann wird es gen Ende im Jagdschloss Mayerling, nach dem die Tragödie benannt ist, ganz unheimlich – und doch herrscht eine schier existenzialistische Atmosphäre vor.

Nicht nur Rudolf ist fest entschlossen zu sterben, auch Mary bringt hier all ihre Willenskraft auf. Sie bittet ihn regelrecht, sie zu erschießen.

Hinter dem eisgrauen Paravent fällt der Schuss. Und Rudolf will eigentlich auch sich die Kugel geben, da klopft es, weil seine Gefährten den Schuss knallen hörten und sich Sorgen machen.

Anders als Friedemann Vogel, dessen Premieren-Rudolf sich an dieser Stelle noch mehr hetzen und quälen lässt, sodass ihm nicht mal in der Todessekunde Ruhe vergönnt ist, interpretiert Jason Reilly die Szene so, dass Rudolf eiskalt und ganz bei sich bleibt.

Beide Lösungen sind plausibel, beide Spielweisen gehen auf.

Jetzt ist es so, dass für Rudolf der Tod schon so greifbar nahe ist, dass es ihm mühelos gelingt, die Domestiken mit einer Ausrede abzuspeisen. Wieder allein, sammelt er sich noch einmal – und fällt durch den Schuss mit dem Paravent nach vorn. Das ist sehr theaterwirksam und von Kenneth MacMillan genauso vorgesehen.

Der Abspann zeigt die traurige, heimliche Beerdigung der Baroness Mary, deren Tod zunächst der Öffentlichkeit verschwiegen wurde. Man schleift die tote Frau über die Bühne, versenkt sie bei strömendem Regen, und nur der Leibfiaker, also der Kutscher von Rudolf, der zugleich sein Komplize bei den heimlichen Ausflügen in die Welten anderer Leute war, erweist der Toten die letzte Ehre.

Mit diesem Bild beginnt und endet „Mayerling“, eines der furiosesten Ballette des letzten Jahrhunderts: Es ist ein lebendiges Mahnmal für eine tödlich schöne Liebe.

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P.S. Mit dieser Besetzung war auch der Schlussapplaus eine Show: Jason Reilly küsste jede der Solistinnen, mit denen Rudolf zu tun hat, also ein gutes halbes Dutzend.

Und als sich Anna Osadcenko allein vor dem Vorhang mit Blumen im Arm verbeugte, fiel ihr ein, rasch hinter den Vorhang zu flitzen, um ihren Partner Reilly mit nach vorn zu bringen und dankbar vor ihm niederzuknien. Das Publikum raste vor Begeisterung, was sonst blieb ihm da auch übrig.
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg

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