Geringeltes Vergnügen, aber tödliche Fröhlichkeit Himmelhoch jauchzend: "Leonce und Lena" von Christian Spuck beim Stuttgarter Ballett

Ein wirklich köstlich komisches Paar

Marijn Rademaker und Alicia Amatriain als seltsam lustiges Paar in Christian Spucks „Leonce und Lena“ in Stuttgart. Foto: Stuttgarter Ballett

Es gibt diesen mokanten Blick von Leuten, die sich langweilen. Im Ballett „Leonce und Lena“ von Christian Spuck ist diese tödliche Langeweile nebst dem entsprechend putzigen Körperausdruck nachgerade stilbildend. Der bildhübsche Darsteller des Leonce – der holländische Startänzer Marijn Rademaker – liegt da mißvergnügt auf dem Bühnenboden des Stuttgarter Opernhauses und lungert herum. Ein seltsam verlottertes Treiben für einen Prinzen. Wann geht denn endlich mal was ab?

Und dann passiert’s: Leonce verliebt sich, und zwar Knall auf Fall und ohne Rückhalt. In Spucks Ballett, das nach dem gleichnamigen Drama von Georg Büchner von 1836 entstand, kommt für einen Moment alles zur Ruhe. Das Gewimmel von Musiken und Menschen verstummt, die Liebe schwebt als köstliches Nichts und unfaßbar heilig über allem. „Das ist für Leonce ein so übergroßes Gefühl, als er Lena sieht, daß er sich eigentlich gleich umbringen möchte“, erklärt Choreograph Spuck mir geduldig auf Nachfrage. Er führt aus: „Das ist nicht wie bei ‚Romeo und Julia’, das ist keine ernsthafte Liebe hier, sondern eine Überzeichnung, eine Karikatur.“ Denn wie ein alles verschlingendes Vakuum kommt den Liebenden ihre eigene Emotion im Vergleich zum sonstigen Einerlei und Wurschtigkeitsgefühl vor. Bis ein lustig-hektisches Treiben die innige Harmonie der Zweisamkeit verdrängt. Und so gediegen die Ausstattung von Emma Ryott anmutet, so geringelt ist das Vergnügen der Tänzer, denen hier ein langer Atem abverlangt wird.

Absurd, schmissig, skurril: Mitunter grenzt Spucks Ballett ans Revuetheater. Da gibt es eine „Wirtshaus-Szene“, die so prall alle theatralen Möglichkeiten einer Schankwirtschaft ausreizt – im Tänzerischen – dass sie als mustergültig gelten kann. Operettenhaft sind auch weite Teile der Musik: Mit Johann Strauß walzert es, bis die Schwarte kracht, auch die eine oder andere Polka ist dabei – und nur in den Szenen der Verliebtheit greint die Discoqueen Eartha Kitt, und aus dem altmodischen Kassettenrekorder predigen „The Mamas and the Papas“ ihren Lebenstraum von Offenheit und Libertinage. Die Gesellschaft, in der sich Leonce und Lena bewegen, hat allerdings nur scheinbar Toleranz: Schranzen in Anzügen wollen nicht reden, sondern nur feiern. Bevorzugt sich selbst.

CLOWNESKE KOMIK, GNADENLOSE IRONIE

Christian Spuck, der 1969 in Marburg geboren wurde und erst nach dem Zivildienst zum Profiballett kam, choreographiert solche Tanzbilder mit der Kraft clownesker Komik und gnadenloser Ironie. Er sagt: „Das Stück ist eine politische Groteske und legt den Finger in eine Wunde. Denn Regierungen, die an ihren Eitelkeiten ersticken, haben wir immer noch, daran hat sich seit Büchners Zeiten nichts geändert.“ Büchner nannte sein fiktives Königreich nicht umsonst „Popo“. Und wenn sich bei Spuck der Hofstaat verneigt, erweckt das durchaus den Wunsch, der versammelten Bücklingsschar in den Allerwertesten zu treten. Der König spielt derweil unschlüssig-labil mit einem prachtvollen Lilienstengel, man muß ihm deutlich masturbierende Tendenzen nachsagen.

Weiße Lilien – Symbole der Liebe – krönen girlandenweise das Finale. Lilien sind im Ballett ja symbolträchtig: Seit „Giselle“ stehen sie für Unschuld und Liebe, auch für Metaphysik. Das Titelpaar, das ohnehin verkuppelt werden sollte, fand sich schicksalhaft-freiwillig für die Lebensreise namens „Ehestand“ zusammen, nachdem beide zuvor der Zwangsehe miteinander entflohen. Die Stationen ihrer Liebe – sie tarnetn sich als Roboter, als „Automaten“ – verleihen dem Stück fast den Geschmack eines Alptraums. Büchner war seiner Zeit ohnehin weit voraus, manche bezeichnen das unwirklich-selige Stück als „nihilistische Komödie“.

Der Tänzer Marijn Rademaker weiß jedoch, daß er seine Rolle als Leonce „ganz ernsthaft, ganz seriös“ vortragen muß: „Sonst wirkt es nicht mehr so lustig!“ Spuck inszenierte nämlich keinen Slapstick, sondern subtil-sarkastische Komik. Prinz Leonce hat mit anderen Ballettprinzen nichts gemeinsam. Auch Prinzessin Lena, als Rollendebüt getanzt von der geradlinigen Alicia Amatriain, ist eher eine Karikatur als eine der üblichen Hoheiten. Lenas Langeweile grenzt sogar an Todessehnsucht, die ihr der spätere Gatte mit sexueller Lust auffüllt. So lümmelt das Paar gemeinsam auf dem Boden herum. Und ist so voller Gegenwart, daß man meint, die Vorlage fürs Ballett sei ein zeitgenössischer Kinofilm.

Dieses ist übrigens ein Bericht, der sich auf umfangreiche Recherchen stützt – und es ist keine Rezension, die auf einem Vorstellungsbesuch basiert.

Gisela Sonnenburg

Wieder am 17.10. sowie am 7., 14., 16., 18. und 29.11. im Opernhaus Stuttgart. Weitere Infos: www.stuttgarter-ballett.de

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