Oh, du schöner Vagabund! Er tanzte den „Romeo“ und den „Joseph“ erst mit fast 40: Der Superstar Jiří Bubeníček dreht interpretatorisch beim Semperoper Ballett in Dresden ganz weit auf

Stijn Celis an der Semperoper

Julia (Julia Weiss) in den Armen von Romeo (Jiri Bubenicek). Foto: Costin Radu

„Du schöner Vagabund! Gestern sah ich dich als ‚Romeo’ in Stijn Celis’ ‚Romeo und Julia’ nach der Musik von Prokofiew in der Dresdner Semperoper. Welche Brillanz! Welche Hingabe! Welch Humor! Welch radikale Traurigkeit! Dein Körper schafft es, alle Gegensätze zu vereinen, die beim Ansehen Freude bereiten: Du bist muskulös wie ein Herkules, aber zart und zielsicher in den Armbewegungen. Die Proportionen Deiner Gliedmaße sind optimal fürs Ballett, dennoch hängt der Zuschauerblick an Deinem Gesicht und Deinem Oberkörper. Deine Arabesken und Attitüden, Deine Sprünge und Glissades sind wieselflink, dabei prägnant wie Ausrufezeichen. Deine Développés sind so geschmeidig und akkurat, Deine Elevés so schwerelos, dass man sich nicht mal mehr wundert, wenn Du die Balance scheinbar endlos halten kannst. Und all das in einer hypermodernen Choreographie! Wie geht das nur?!“

So könnte Fanpost an Jiří Bubeníček beginnen, den tschechischen Superstar des Balletts, der an der Elbe, in der barock geprägten Dresdner Semperoper, als Künstler seine Heimat fand. Allerdings ist er – wie es sich für einen internationalen Bühnenstar der Tanzkunst gehört – eigentlich ständig auf Achse und nur wie auf der Durchreise daheim. Paris, Tokio, Istanbul, Dresden, Moskau, Sankt Petersburg. Hannover, Dortmund, Dresden, Gelsenkirchen, München. Prag. Immer wieder Prag. Und Dresden. Und New York, Rom, Athen, Berlin. Wien. Zürich. Dresden. Prag. Dresden. Ein Vagabund auf hohem Niveau.

Jiri Bubenicek und Julia Weiss

Die Liebenden enden tragisch – schon seit Shakespeares Zeiten. Foto: Costin Radu

Man hat großes Glück, wenn man ihn erwischt und tanzen sieht, nur um mal wieder festzustellen: Bei diesem gut aussehenden, scheinbar von innen leuchtenden Mann scheint die sonst doch so erbarmungslos verrinnende Zeit eine Ausnahme zu machen. Er feierte – zusammen mit seinem Zwillingsbruder Otto – jüngst sogar schon den 40. Geburtstag. Er sagt das auch ganz offen! Aber bemerkt man es, wenn er tanzt? Nein, er hat entweder großes Glück mit den Genen oder ein Geheimrezept – eine Art Jungbrunnen – das über die üblichen Maßnahmen der Jugenderhaltung hinausgeht.

Natürlich: Er selbst fühlt, dass die Zeiten der notwendigen Rekonvaleszenz nach einer anstrengenden Probe oder Vorstellung länger werden. Eine gute Massage scheint manchmal lebenswichtig. Er muss mit den Kräften haushalten. Aber die große Erfahrung mit dem eigenen Körper hilft auch. Und die Verletzungen, die fast alle Hochleistungstänzer nun mal überleben müssen, werden als Teil des Berufes erachtet, ernst genommen und nach bestem Wissen kuriert. Mit oder ohne Operationen.

Wichtig, sagt Jiří, sei vor allem ein richtig gutes Training in einer richtig guten Atmosphäre: „Wenn man die Übungen richtig macht, dann haben sie eine heilende und aufbauende Wirkung.“ Dafür liebt er das Semperoper Ballett unter Aaron S. Watkins Direktion und unter der ballettmeisterlichen Ägide von Gamal Gouda: Es baut ihn auf, immer wieder, er kann hier er selbst sein und an sich arbeiten. Tatsächlich ist das große Ensemble bekannt dafür, vielen verschiedenen hochkarätigen Tänzern ihren Freiraum zu lassen, sich sozusagen „artgerecht“, also auch typgerecht, zu entwickeln. In Dresden herrscht kein Zwang zur Gleichmacherei noch müssen sie alle in eine Schublade passen. Die Betonung der Individualität ist die Stärke des Ensembles. Und so sind dort häufiger als woanders Talente zu entdecken, unter den Principals und Solisten, aber auch unter den Koryphäen und in der Gruppe. Jenni Schäferhoff etwa, Koryphäe, fällt noch mit jeder entstellenden Perücke auf der Bühne auf. Ihre Ausstrahlung: von natürlicher Grazie, dabei von jener modernen Offenheit und Lässigkeit, die das Ballett von seiner Zuckrigkeit befreit. Man könnte sich den gestandenen, muskulösen Tanzhelden Jiří Bubeníček mit dieser groß gewachsenen Nymphe gut im Pas de deux vorstellen. Tatsächlich ist sie eine Zweitbesetzung der Julia, kam aber in dieser Rolle noch nicht zum Einsatz.

Wenn Julia auf Romeo trifft, dann knallt es! Stijn Celis’ Inszenierung ist flippig, erotisch, mitreißend. Foto: Costin Radu

Wenn Julia auf Romeo trifft, dann knallt es! Stijn Celis’ Inszenierung ist flippig, erotisch, mitreißend. Foto: Costin Radu

Bei einem Training an einem Samstagmorgen im Ballettsaal – im Neubau der Semperoper – ergibt es sich, dass sie nebeneinander tanzen: Jenni, die schlanke, aber keinesfalls magere „Hünin“, und Jiří, der muskelbepackte Held. Mit schnell aufeinander folgenden Tendus schieben sie sich durch den Saal, ab und an ist eine einfache Pirouette en dehors eingestreut. Sanft vollzieht Jenni die Drehung, mit weicher Landung, während Jiří das Drehen genüsslich exerziert, so lange wie möglich auf einem Bein bleibt, um das Spielbein erst ganz kurzfristig abzusetzen. Sie weiblich, er männlich in der Pirouette. Zwei Tänzer, verschieden, aber harmonisch miteinander korrespondierend und auf inspirierende Weise zueinander passend.

Bei der nächsten Übung zeigt Jiří sich und den anderen, wie er seine Vielfachdrehungen vorbereitet. Mit Konzentration und Schlichtheit. Er neigt nicht mal den Kopf vor. Er schaut gelassen geradeaus, aus seinen graugrünen Augen, fast entspannt, sinkt in ein leichtes Plié – und holt scheinbar kaum Schwung. Er dreht fünffach, einfach so, zum Einfühlen des Körpers in die bald anstehende Probe. Er landet sicher und fast mit Behaglichkeit, hat dennoch die Power eines Tigers nach einem ersten großen Sprung auf der Jagd nach Beute in sich. Wow. Poesie in Pirouettensprache!

Aber ob bei Développés, Tendus, kleinen Sprüngen oder Drehungen, ob im Studio, also dem Ballettsaal, oder auf der Bühne: Bemerkenswert ist Jiří Bubeníčeks Haltung. Ich habe nie einen Tänzer gesehen, der so sehr die Haltung bewahren kann, egal, was und in welchem Tempo er gerade macht. Sein Oberkörper bleibt ruhig, dennoch angespannt, während Arme und Beine in verschiedenen Tempi hoch und runter gehen. Selbst, wenn Jiří sich vor- oder zurückbeugt: Sein Ober- und Mittelkörper bleibt als Ganzes vom Brustbein bis zur Hüfte in der senkrechten Achse; der Schwerpunkt mit dem Podex wirkt dadurch schwerelos, als sei der ganze Mensch in diese Haltung hineingeboren. Façon bewahren – vielleicht kommt diese Redensart aus dem Ballett, das einem Sicherheit gibt, weil in dieser Haltung einen nichts wirklich erschüttern oder schockieren kann. Man bleibt man selbst. Jiří macht das so beispielhaft vor, als habe er diese Essenz des Balletts zu seiner Religion gemacht.

DEN UNSCHULDIGEN JÜNGLING GAB ER VORHER NIE

In den klassischen Choreographien, die Jiří Bubeníček tanzt, verleiht ihm diese Haltung eine stets männlich-starke Ausstrahlung von Souveränität – und natürlich jenen Aplomb, der sicheren Halt gegenüber der Schwerkraft gibt. Als untreuer Liebhaber Solor in „La Bayadère“, bevorzugt mit Polina Semionova als ihn über den Tod hinaus liebende Nikita, hatte er eine fast soldatische Note, aber auch so einen orientalischen Schmelz. Als Armand in der „Kameliendame“ war er so überwältigend ganz Mann, dass er dafür den begehrten Tänzerpreis „Benois de la Danse“ in Moskau erhielt. Und als innerlich zerrissener König Ludwig II in „Illusionen – wie Schwanensee“ braucht er diese bestimmte senkrechte Haltung, um sie peu à peu zu demontieren, bis der König sein Ich aufgibt. Ähnlich in „Nijinsky“, dieser Mammutrolle, die John Neumeier für ihn kreierte: Der in religiösen Wahn verfallene Tänzer Vaslav Nijinsky liefert sich ein alptraumhaftes Duell mit einem Theatervorhang, würgt sich solchermaßen in einem Zweikampf mit sich selbst. Jiří tanzte von 1993 bis 2006 beim Hamburg Ballett, bis er nach Dresden und damit in eine mehr „vagabundische“ Lebensart wechselte. Vom Märchenprinz bis zum modernen Macker – sein Rollenrepertoire weist ihn als Vielseitigen aus. Nur den unschuldigen Jüngling, den gab er nie vor zu sein.

Als Stijn Celis’ Romeo tritt Jiří Bubeníček denn auch fern von der Klassik und den rollentypischen Klischees mit der Moderne in einen Dialog. Erfrischend flippig, darstellerisch logisch, psychologisch nachvollziehbar: Celis’ Romeo geriet zu einem Glücksfall für die Ballettgeschichte. Das hier in vielen Details im Hinblick auf die Vorlage von William Shakespeare veränderte Stück macht trifftige Aussagen, wo andere nur versuchen, einen x-ten Neuaufguss der berühmten Liebestragödie  abzuliefern. In zeitgenössischen, aber dezent gehaltenen Kostümen – Romeo als Anzugträger mit Krawatte und Julia in weißer Bluse zu weißen Hotpants – bildet dieses Paar einen Neuanfang der Romeo-und-Julia-Rezeption: Renaissance, ade, Plüschkostüme, ciao forever. Auch eine gewaltsame Erotisierung des ganzen Stücks für Sexmaniacs, wie etwa Mauro Bigonzetti sie in seiner „Romeo and Juliet“-Version versuchte, ist hier unnötig. Hier zählt die Story, die Celis mit starker und durchaus bühnenwirksamer Kritik am Patriarchat aufbereitet. Da stehen die Frauen zwar im „Tanz der Ritter“ in schicken Business-Kostümen da, sind aber zum heimlichen Hausfrauendasein vergattert. Sie prostestieren mit Stühlen, die sie stampfend auf- und absetzen. Aber die Männer, in Geschäftsmanier, nehmen ihnen die Stühle ab und heben sie unerreichbar hoch. Setzen dürfen sich die Damen erst, als die Männer ihnen das erlauben. So eine Welt ist das Romeo-und-Julia-Umfeld hier, eine sehr realistisch-heutige!

Romeo und Julia in Dresden

Steijn Celis zeigt in „Romeo und Julia“, wie sich die Frauen in dieser Gesellschaft wehren wollen. Foto: Costin Radu

Jiří Bubeníček kreierte 2013 seinen ersten Romeo. Mit Ende 30! Er wirkt darin zwar jung, aber keineswegs naiv. Sondern Romeo ist hier ein Mannsbild mit mannigfaltigen Beziehungen. Ein Macher, sogar der Gewinnertyp in seiner Yuppie-Gruppe, kennt er die Neureichen in seinem Clan wie auch die Vertreter des alten Geldes, denen Julia entstammt. Und was er auch macht, er macht es gut: Jiřís Romeo ist ein Hoffnungsträger inmitten verkrusteter, von Gier geprägter Strukturen. Man kann Julia Weiß als Julia darum bestens verstehen, wenn sie sich gerade in ihn verliebt. Sie ist hier etwas versponnen, eine Rebellin gegen die guten Sitten, eine Einzelgängerin und sogar Außenseiterin, die von ihrer Familie immer wieder drangsaliert wird, in deren konservative Fußstapfen zu treten. Romeo ist für Julia das passende Schuhwerk, um erst innerlich, dann auch äußerlich ganz auszutreten aus einer straff geordneten Schein- und Luxuswelt.

Romeo, der ganze Kerl. Ein Verführer durch das eigene Gefühl. Als er Julia sieht, knicken ihm fast die Knie ein. Es trifft ihn wie ein Schlag. Immer wieder beugt er sich dieser Liebe, diesem Gefühl, das den scheinbar harten Kerl von innen her überwältigt. Der erste Pas de deux erinnert sanft an Neumeiers „Romeo und Julia“: Die Handflächen berühren sich, die Hebungen kommen wie von selbst. Sie hängt an ihm. Er will es so. Es ist wunderschön. Obwohl ihre Beine absichtlich nicht gestreckt sind und ihre schönen Füße in Jazztanzschuhen stecken, statt im Spitzenschuh. Romeo und Julia als absolutes Liebespaar zeigen jedoch, wie eng sie zusammen gehören.

Die Balkonszene ist hier zu einer Fensterszene geworden: von Haus zu Haus können die Liebenden miteinander kommunizieren, sogar mit Handkuss. Romeo, der Überlegene, der immer alles im Griff hat, kann auch hier den Souverän raushängen lassen. Ein bisschen erinnert dieser Typ – er ist fast ein Kümmerer! – an Jiří Bubeníček selbst, der ein großes Talent zum Organisieren und Managen und auch zum Sorgen für andere hat. Doch dazu später.

Als Romeo kann er jedenfalls auch gut Streits schlichten – sowas liegt ihm. Normalerweise. Er zeigt es innerhalb seiner Clique in quicken, fließenden Szenen – und auch bei Konflikten mit anderen. Gerade darum ist Bubeníček als Romeo so richtig voll entsetzt, als es ihm im Fall von Mercutio und Tybalt misslingt. Er schüttelt den toten Tybalt wie ein unartiges Kind, er zerrt ihn im Schwitzkasten an die Leiche seines Freundes, um dem Täter Reue abzuringen – und muss erkennen, dass er bereits selbst zum todbringenden Rächer wurde. Unglaublich, diese Mischung aus Scham und Horror in Bubeníčeks Gesicht, in seiner Körperhaltung, die immer noch aufrecht ist und nur langsam in sich zusammensackt.

In solchen Bühnen-Momenten extremer Gefühle wirkt Jiří Bubeníček dann doch jünglingshaft auf der Bühne. Und ich muss mich wiederholen: Ich habe das Gedicht „der tänzer“ aus der Belle Époque von Stefan George schon mal in einem Portrait von Jiří Bubeníček zitiert, vor knapp vier Jahren, und ich möchte es jetzt wieder tun: „Er ist die ganze jugend wie sie träumt / Er ist die ganze Jugend wie sie lacht.“ Träumen und Lachen, das kann alles so diffizil sein und doch so heftig. Lachen kann man auch, während man weint. Darum ist wie für Jiří Bubeníček gedichtet, weil er auch in kniffligen Stücken zur Hochform aufläuft, um ein Flair ewiger Jugend und Ausdrucksstärke zu verströmen. Sein Energiefeld reicht von Seitenkulisse zu Seitenkulisse, es umfasst alle, die mit ihm wirken und agieren.

Romeo und Julia in einer Gesellschaft aus Streithähnen

Stijn Celis choreographierte die aggressiven Spannungen zwischen den zwei Clans in „Romeo und Julia“ mit Gegenwartsbezug. Foto: Costin Radu

Das Miteinandertanzen – es ist so wichtig. Aber kaum ein Weltstar beherrscht es so minutiös und praktiziert es so leidenschaftlich und dennoch wohl dosiert wie Jiří Bubeníček. Seit der Aufnahme der DVD von John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“, in der er als durchgeknallter König Ludwig II tänzerische Höchstleistungen vollbringt, hat Jiří diese eine seiner Fähigkeiten noch gesteigert. Auch darstellerisch hat er kontinuierlich gelernt, sich ausprobiert und sich das angeeignet, was funktioniert. Insofern ist er ein Rastloser, ein Immerlerner, ein Niemitsichzufriedener – der aber so voller Begeisterung bei der Sache ist, dass man nie den Eindruck hat, es mit einem Ehrgeizling zu tun zu haben.

Und dann ist er auch noch Choreograph. Ein Vagabund also auch, was die beiden Seiten des Flusses angeht. Mal steht er auf der einen und ist dort als Tänzer ganz Instrument, ganz Hingabe an einen fremden Willen. Wie als „Romeo“. Dann steht er auf der anderen Seite – und kreiert mit den Kollegen seine eigenen Stücke: mal größere, mal kleinere, mal Soli, mal Pas de deux, mal Gruppenszenen. Mal zu abstrakten Themen, mal zu Handlungslibretti – ohne dabei zu vergessen, wie es sich anfühlen mag, das Gesehene von innen zu betrachten, aus der Sicht des Ausführenden.

Seine Stücke haben meist prägnant-poetische Titel, wie „La Foule“, „Beyond Words“, „Made on Earth“, „Prisoners of Feelings“, „Unerreichbare Orte“, „Burning Bridges“. „Faun“, das er 2012 fürs Semperoper Ballett schuf, nimmt zwar die „Nachmittag eines Fauns“-Musik von Maurice Ravel, zeigt aber eine Gruppe von modernen Menschen, die versuchen, miteinander zu leben. An einem großen Tisch, im fast leeren Raum. „Was sie verbindet, ist eine große Sehnsucht“, sagt Jiří zur Erklärung – und ist auch in der Verbalität ganz Souverän. Wir sprechen englisch mit deutschen Wortbrocken, als ganz organisch empfinden wir das.

Aber ist es nicht schrecklich schwierig, beides – das Tanzen und das Choreographieren – zeitgleich innerhalb eines Lebensabschnitts zu tun? „Ja“, gibt Jiří ohne Umschweife zu, „es ist hart.“ Und er führt aus: „Wenn ich choreographiere und zwischendurch mit der Compagnie arbeite“ – gemeint ist das Semperoper Ballett – „dann ist es schwer, mich auf mich als Tänzer zu konzentrieren. Doch ich versuche, ganz drin und ganz bei mir zu sein, in meinem Best-of-Zustand. Nur ist das dann eine wirklich besondere Aufgabe und keine Selbstverständlichkeit mehr.“ Solche besonders harten Tage machte er zum Beispiel durch, als er bei Bridget Breiner in Gelsenkirchen „Die Geschichte des Soldaten“ nach der Musik von Igor Strawinsky choreographierte. Um topfit zu bleiben, joggte er jeden Tag eine Stunde, um seine Kondition zu halten. Denn für stundenlanges Training und Körperpflege blieb nicht jeden Tag die Zeit. Wie gut, dass er Erfahrung mit sich und seinen biologischen Gegebenheiten hat!

Lilien haben im Ballett Bedeutung

In einer traumhaften Szene wandeln scheinbar lauter Julias über die Szene. Sie tragen Kränze und haben Lilien in den Händen. Foto: Costin Radu

„Leider rauche ich noch“, gibt er zu. Dafür ernährt er sich seit einem halben Jahr vegetarisch – eine Entscheidung der Gesundheit wie der Nachhaltigkeit zuliebe. Mit dem Vorurteil, Vegetarier hätten keine Muskeln und wären Schlaffis, kann er jedenfalls fraglos aufräumen. Mit der Doppelbelastung Tanz und Choreographie ist er aber eine absolute Ausnahme. Die meisten Kollegen halten sich an die übliche Reihenfolge: erst aktiver Tänzer sein und dann professionell choreographieren. Jiří aber schafft jeden Spagat. Vielleicht genießt er es sogar, mit einem minimal masochistischen Aspekt, alle Facetten seiner beruflichen Persönlichkeit gleichzeitig zu entfalten. Denn zum Tanzen und Choreographieren kommt noch etwas hinzu: Jiří Bubeníček ist auch eine Art Manager geworden, der wie nebenbei (moderne Technik macht’s möglich) auch Galas und Proben einer eigenen Truppe organisiert.

Les Ballets Bubenicek heißt sie und ist in Prag bereits eine feste Größe und dort aus dem Kulturleben nicht mehr wegzudenken. Kommende Saison werden „LBB“ auch in der Semperoper auftreten: eine aus lauter Stars und Sternchen wechselnd bestehende Gruppe, die sich aus internationalen Tänzerinnen und Tänzern zusammensetzt, mit denen Jiří und Otto Bubeníček im Lauf ihrer Karrieren freundschaftlich zu tun hatten. Iana Salenko aus Berlin ist dabei, zum Beispiel.

Otto, Jiřís Zwilling, ist eigentlich ein Kapitel für sich wert. Er ist so wichtig in Jiřís Leben, wie es nur ein Zwilling sein kann; kein Freund, kein normales Geschwister erreicht diesen Grad an natürlicher Intimität. Dabei ist Otto weniger glamourös als Jiří, auch weniger hart im Nehmen. Er ist der zartere, weichere, passivere von beiden, dafür vielseitig begabt, was zur Ergänzung der Projekte seines Bruders praktisch ist. Einige Jahre schuf Otto die Musik für Jiřís Ballette, derzeit schöpft er vor allem die Kostüme für sie. Er ist natürlich auch vor allem: Tänzer, denn beide Bubeníčeks, die in Polen geboren und als Kinder einer Zirkusfamilie in der CSSR aufgewachsen sind, wurden gezielt fürs Ballett entdeckt und gefördert – und am Prager Konservatorium für Tanz ausgebildet.

Josephs Legende

Jiri Bubenicek als Stijn Celis’ moderner Joseph: verzweifelt und dennoch voll Hoffnung. Foto: Ian Whalen

Dann gingen beide nach Hamburg zu John Neumeier, wo Otto noch heute tanzt. Prag aber hat bis heute eine eigene, mit gediegener Eleganz und starker Sprungkraft aufwartende stilistische Linie für männliche Tänzer, deren prominentester Vertreter derzeit Jiri ist. In Tschechien sind die Zwillinge mittlerweile weitläufig bekannte VIPs, und zu ihrem 40. Geburtstag gratulierte ihnen das tschechische Frühstücksfernsehen. Tanz hat in Tschechien, und zwar seit der sozialistischen Zeit, einen sehr hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Man ist dort stolz auf seine Ballettstars, auf deren Schönheit, deren Können – und die absurden Vorbehalte, die seit dem Nationalsozialismus in Deutschland und teils auch in England gegen das Ballett und seine hübschen Männer verankert sind, wird man dort nirgendwo finden. In Deutschland kennen viele den heutigen Münchner Ballettdirektor Ivan Liška, der ebenfalls in Prag am Konservatorium zum Ballerino ausgebildet wurde: Auch er ist ein ehemaliger Neumeier-Tänzer, wie die Bubeníčeks, und auch er ist ein hervorragender Vertreter der Prager Schule in seiner Generation.

Für Jiří ist Otto denn auch eine lebende Verbindung zur gemeinsamen Kindheit und Herkunft. Der Kontakt mit seinem Zwilling Otto als „Bodenstation“ ist für den Allround-Vagabunden bedeutsam – und macht den größter Teil des Privatlebens aus. Die beiden besuchen einander, wann immer es möglich ist, sie schmieden Pläne und sie betreiben sozusagen dieselbe Sache. Vorbehaltlose Unterstützung des anderen – wer würde sich nicht so einen Zwilling wünschen?

Während sein Bruder in Hamburg weiterhin das Neumeier-Repertoire durcharbeitet und zum Beispiel einen tollen Jago im „Othello“ abgibt, wird Jiří Bubeníček in der nächsten Spielzeit an der Semperoper einen anderen Klassiker des 20. Jahrhunderts tanzen: Des Grieux in Kenneth MacMillans „Manon“. Und während in Dresden David Dawsons „Tristan und Isolde“ uraufgeführt wird – im Februar 2015 – choreographiert Jiří Bubeníček beim Dortmunder Ballett „The Piano“ nach dem Film von Jane Campion. Er bestückt damit den Abend „Drei Streifen: Tanz“ und ist der vermutlich am meisten begeisternde Choreograph in einer Reihe mit Benjamin Millepied und Demis Volpi. Denn Bubeníčeks Stücke gehen, anders als die von Millepied und Volpi, ans Herz. Obwohl oder weil sie diese edle Erhabenheit und geschmeidige Konsistenz haben, die auch Jiří Kyliáns Choreographien bestimmen. Bubeníčeks Thema ist immer die Beziehung zwischen Menschen – und wie sich das zwischenmenschliche Stimmungsbarometer als veränderlich erweist. Ein Thema, das den Vagabunden rund um den Globus treibt: Im Dezember 2016 wird er für Tokio choreographiert haben, vorher für Ljubljana. Und außerdem erwartet ihn Eric Gauthier in Stuttgart.

Jiri Bubenicek als Joseph

Jiri Bubenicek in „Josephs Legende“ von Stijn Celis an der Semperoper in Dresden: Er ist hierin umwerfend gläubig. Foto: Ian Whalen

Was er zusätzlich zu seinen Talenten hat, ist ein fairer Blick auf andere Tänzer und andere Choreographen – etwas, womit er sich als kommender Ballettdirektor in der internationalen Tanzwelt qualifizieren kann. Doch das ist Zukunftsmusik, zunächst tanzt Jiří in Dresden noch eine ganz bestimmte Rolle, die so sexy und doch vom Ausdruck her so unglaublich schwer ist, dass nur ganz wenige Tänzer in den letzten hundert Jahren sie überzeugend interpretieren konnten: die Rolle des Joseph aus der „Josephs Legende“ zur schwelgerischen, pompös-erotischen Klangwelt von Richard Strauß. Jiří hätte das Stück sogar gern selbst choreographiert, sagt er, doch da war Stijn Celis schneller. Und wählte prompt seinen „Romeo“ erneut zum Titelhelden.

Dieser biblische, alttestamentarische Joseph ist ein ganz besonderer Junge. Visionär begabt, schrammt er knapp am Sklaventod vorbei, als er entführt und dem Despoten Potiphar als neuer Leibeigener zugeführt wird. Kevin Haigen wurde als Joseph 1977 von Wien aus in der Choreographie von John Neumeier über Nacht weltberühmt: als androgyner, keuscher, von einem Engel und einer vernachlässigten Ehefrau gleichermaßen verführter Bengel. Die Partie von Potiphars untreuem Weib ist so dominant und eigenwillig, dass man in den Ballettensembles nur selten eine passende Besetzung findet. Wie eben auch für den Joseph. Aber wie war das bei der Uraufführung 1914? Leonid Massine, später Choreograph, war ein blutjunger Joseph bei den Ballets Russes. Immerhin: Auch er entsprach einem Ideal von Androgynität, das damals offziell eher verpönt als verherrlicht wurde.

Eine neue Interpretation eines alten Themas. Er fleht, er betet, er gibt alles, was er hat: Jiri Bubenicek in “Josephs Legende”. Foto: Costin Radu

Eine neue Interpretation eines alten Themas.
Er fleht, er betet, er gibt alles, was er hat: Jiri Bubenicek in “Josephs Legende”. Foto: Ian Whalen

Und jetzt also Jiří Bubeníček, dieses Ausbund von Mannheit und Männlichkeit, als Joseph. Wieder kreierte Stijn Celis jenseits der bekannten Klischees, wie schon den beziehungsreichen Romeo. Celis, der sensible Belgier, choreographiert zwar in einer gewissen Neumeier’schen Tradition, hat aber den Boden der Neoklassik zugunsten einer viel moderneren, dennoch verständlichen Formensprache verlassen. Er weiß, was er an Jiří Bubeníček hat: einen zuverlässigen Hundertprozentgeber, der den Mut zu Neuem hat.

Wer als Romeo kein schwärmerischer Bruder Leichtfuß ist, ist als Joseph kein Naivling. Das Irre an der der Josephs-Rolle ist aber etwas Anderes: Er ist praktisch von Anfang bis Ende des Stücks auf der Bühne. Und es gibt vor allem Soli für Joseph zu tanzen. Die Titelfigur beherrscht bei Celis demonstrativ die Bühne. Nicht nur äußerlich. Sondern seine Gefühle, seine Strebsamkeit, seine Visionen, seine Gebete, seine Innenwelt sind das Wichtige. Obwohl er – und das ist für viele männliche Tänzer schwer zu tanzen – das Objekt von Liebe und Begehren ist und nicht der Verführer. „Er liebt Gott“, sagt Jiří Bubeníček voll Verständnis für die Rolle – und sieht sich damit gar nicht ins Passivum verbannt. Für ihn macht die Inbrunst des Glaubens Joseph so erotisch anziehend, dass die Gattin des mächtigen Potiphars scharf auf ihn wird.

Die Frau des mächtigen Potiphars verführt Joseph gegen dessen Willen. Foto: Costin Radu

Die Frau des mächtigen Potiphars verführt Joseph gegen dessen Willen. Foto: Ian Whalen

Ist Joseph womöglich eines dieser stillen, tiefen Wasser, die allein durch ihr Dasein bereits verführerisch genug sind, um als Sexmonster zu gelten? Hat er ein tragisches Schicksal, weil er eine Anziehungskraft hat, derer er sich nicht erwehren kann? Darüber mag man lustvoll streiten, aber bitte nicht während der laufenden Vorstellungen! Bei denen übrigens die Musik von Richard Strauss mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden noch das verwöhnteste Gehör beglückt. Ich habe selten ein Orchester in derartiger Topform erlebt.

Und die nächste Fanpost an Jiří Bubeníček könnte dann beginnen mit: „Oh, du edler Vagabund! Ich sah Dich gestern als „Joseph“, und die Art, wie Du darin Dein Leben mit Deinem Gott aushandelst, wie Du auswärts da stehst, als sei es das Natürlichste von der Welt, schön und biegsam zu sein, hat mich schwer beeindruckt. Deine Verführbarkeit ist fast eine Überraschung, und umso stärker habe ich mit Dir fühlen müssen. Am Ende ist man so traurig und aufgewühlt und zugleich doch überglücklich. Wie gut, dass es bei jeder Vorstellung einen neuen Anfang gibt!“
Gisela Sonnenburg

Weitere Texte über Jiří Bubeníček und auch über seinen Bruder Otto hier im ballett-journal.de! Bitte googeln oder oben die Archiv-Suche benutzen!

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