Das fremde Tier in dir John Neumeiers Primaballerina Silvia Azzoni: schön, selbstsicher – und sinnlich wie eine Bestie.

Silvia Azzoni

Silvia Azzoni nach einer Vorstellung beim Hamburg Ballett: frisch und unverdorben. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie hat das Gesicht einer Madonna und den Körper einer Kindfrau: Die Italienerin Silvia Azzoni, Startänzerin in John Neumeiers Hamburg Ballett, erfüllt jedes Klischee, das es über Profiballett gibt – und dennoch steht sie auch als der lebende Gegenbeweis da. Denn sie verleiht ihren Auftritten eine animalisch-sinnliche Kraft, die aus der Tiefe des Seins kommt, nicht aus dem Schminkkasten des Theaters. Wenn sie als „Engel“ in Neumeiers „Weihnachtsoratorium“ abwechselnd Arme und Beine wie die Schwingen eines Raubvogels spreizt, wirkt sie wie ein riesenhaftes, aus einer Fantasy-Welt stammendes Urtier: eine paradiesische Eva in tierisch-wechselhafter Gestalt.

Schön und nautisch: Silvia Azzoni als “Die kleine Meerjungfrau” in Hamburg. Foto: Holger Badekow

Schön und nautisch: Silvia Azzoni als “Die kleine Meerjungfrau” in Hamburg. Foto: Holger Badekow

Der Tänzerinnenalltag ist jedoch wenig poetisch. Einmal hat Silvia eine ganze Woche nicht geschlafen. Das war während einer Tournee, als ihr der Jet lag zu schaffen machte und die Umstellung auf die neue Zeit und den neuen Ort all ihre Kraft ins Chaos stürzte. Für eine Berufstänzerin, deren Kopf und Körper eins sein müssen, ist so etwas eine Katastrophe. Aber Silvia überstand die Krise mit makellos glänzender Disziplin. Selbstbeherrschung ist alles im Ballett. Fast alles.

Auf der Bühne. Eine Probe. Silvias Oberkörper biegt sich weich zurück. Aber die Arme scheinen selbstständige Lebewesen zu sein, die in schlängelnden Bewegungen die Luft durchpflügen. Ein lichternes Atmen geht von der Figur aus, ein Flirren und Vibrieren, als sei sie ein Wesen aus einer anderen Sphäre. Akrobatische Verrenkungen und bravourös gedrehte Pirouetten verleihen ihr die Anmutung von Unverwundbarkeit. Es ist Erotik pur, eine sichtbar gewordene Liebesenergie, die sie zu beflügeln scheint. Mitunter hält sie mitten im Tanzen in der Pose einer „Arabesque“ inne, sie hält dann das wohlgeformte Bein nach hinten hoch. Als sei es ein Ruder und sie selbst das Boot, das durch die Weiten und Wellen eines märchenhaften Ozeans in einem fremden Universum gleitet. Dazu zieht sie die Arme seitlich zusammen, bis ihr Knie vorn in die Höhe steigt – der ganze Ausdruck dieser Körperkunst wird kämpferisch und majestätisch. Und sehr weiblich!

„Sie ist als Titania eine bildschöne, fremdartige Kreatur, so vielfarbig und anpassungsfähig wie ein Chamäleon“, schwärmt auch Kevin Haigen von Silvia Azzoni. Titania ist die Elfenkönigin in John Neumeiers Shakespeare-Ballett „Ein Sommernachtstraum“, und Silvia liebt diese Partie, in der sie einen silbergrau glänzenden Leotard trägt, der mit knopfgroßen Pailletten besetzt ist. Haigen ist der Erste – also oberste – Ballettmeister vom Hamburg Ballett und zudem ein weltweit begehrter Lehrer der Tanzkunst. Er kennt die Ballette von Chefchoreograf John Neumeier aus dem Effeff wie kein anderer. Und die Azzoni ist sozusagen Haigens „Produkt“. Er hat sie als hoch begabten Teenager aus Turin in seine Klasse in Hamburg-Hamm geholt und bis zur Bühnenreife ausgebildet. Silvia ertanzte sich eine Karriere voll Glanz und Stärke, aber auch voll Aufopferung und Standhaftigkeit: von der fast unbeachteten Ensembletänzerin bis zur Ersten Solistin. Höher geht es hier zu Lande in der Tänzerhierarchie nicht.

Ballett und Ballett sind nicht immer dasselbe

Ein „Nussknacker“, wie Fans der Klassik ihn sich wünschen: aufregend, bunt, virtuos! Das Sankt Petersburg Balletttheater bietet ihn Ende November in Berlin im Admiralspalast im Rahmen eines Gastspiels an. Hier geht es zu den Tickets: www.nussknacker.de Bildmaterial: Anzeige / Sankt Petersburg Balletttheater

Silvias Rollenspektrum allein in den weltberühmten Neumeier-Balletten, die das Hamburg Ballett so grandios tanzt wie keine andere Compagnie, ist enorm. Von der dekadent-sensiblen Blanche in „Endstation Sehnsucht“ über die weiß gefiederte Schwanenprinzessin in „Illusionen – wie Schwanensee“ bis zur irrsinnig modernistischen, fast experimentell angelegten Titelheldin in „Die kleine Meerjungfrau“. Darin trägt sie einen flatternden, blauseidenen Hosenrock, der an den Beinen mehr als einen Meter Überlänge hat. Um diese Stoffmasse spielerisch zu beherrschen, absolviert die Azzoni zusätzlich zum klassischen Ballett-Training ein knallhartes Bodybuilding: für die Muskelkraft, die man ihr nicht ansieht, die aber die Grundlage ihrer „schwebenden“ Bewegungen ist.

Ein emanzipiertes Zwitterwesen aus Fisch und Frau – das ist Silvia Azzoni in Neumeiers Version vom unglücklich verliebten Wasserwesen: Silvias „Meerjungfrau“ ist sportlich und wunderbar fasslich in seiner körperlichen Aura. Aber zugleich wirkt sie auch ätherisch und betont leichtgewichtig, fast „quallig“ oder „fischig“. Wie ein Meeresgetier, das sich munter und schwerelos zwischen den Strudeln tummelt. Überhaupt: Silvia Azzoni ist vielleicht gar kein normaler Mensch. Ihre Anmutung ist so animalisch-kraftvoll, so androgyn-sinnlich, so wechselbar, dass man annehmen muss, sie gehöre zu einem neuartigen Stamm.

KEINE HERKÖMMLICHE FRAU

Mit dem herkömmlichen Frauenbild im Ballett hat das fast nichts mehr zu tun. Was Silvia Azzoni in anderen zum Schwingen bringt, ist ein neuartiges Gefühl von Freiheit, das auf einer bestimmten Intellektualität und nicht auf einer unbestimmten Sehnsucht beruht. Entdecke das fremde Tier in dir! In jedem wohnt doch so ein geniales Tänzerlein, das raus will, um die Welt als Abenteuer zu begreifen. Silvias durchtrainierter Corpus, der zwar keineswegs mager ist, aber auch kein überschüssiges Fett kennt, verkörpert diese unbändige Lust auf Leben. Und er hat eine eigene ästhetische Qualität, die ihn zur Skulptur macht. Beim künstlerischen Ausdruck in Silvias Tanz entsteht dadurch eine sinnfällige Zeichengabe. „Ihre Körpersprache ist extrem stark“, benennt Kevin Haigen das Phänomen.

Jeder versteht, was Silvia meint, wenn sie als Titania durch den Feenwald stromert, als Schwanenprinzessin um ihre verhexten Freundinnen weint oder als verknallte Meerjungfrau dem hübschen Prinzen hinterher schaut. Dabei geschieht alles nach dem Regelwerk der jeweiligen Choreographie: Schritte, Armbewegungen, Kopfneigungen sind meist bis ins Detail festgelegt. Sieht man die Azzoni sie ausüben, hat man dennoch den Eindruck völliger Spontanität – und noch schwierigste Verbiegungen ihres schönen Leibs muten an, als seien sie der selbstverständlichste Ausdruck von Naturhaftigkeit.

„Intelligenz und Offenheit“ bescheinigen ihr die Choreographen, die mit Silvia arbeiten, um neuen Balletten Leben und Stil einzuhauchen. Auch Komponisten sind von ihr nicht nur entzückt, sondern werden inspiriert. Lera Auerbach zum Beispiel. Die russischstämmige Amerikanerin schuf laut Eigenbekunden mit Silvias Tanz im Herzen die melodiös-weinenden Klänge der „Kleinen Meerjungfrau“. Sie schrieb aber auch die prägnant-kantigen Musikspiele für das Neumeier-Ballett „Préludes CV“. Darin tanzt Silvia den nach ihr benannten Part „Silvia“: in schwarzen Strumpfhosen und hellblauem Top. Damit hat sie einen erfrischenden Sexappeal, der eigentlich typisch für verliebte Backfische ist. „Backfische“. So nannte man früher die Mädels, die zwischen Kindheit und Erwachsensein schweben. Zwischenzustände, Übergangssituationen, Metamorphosen beherrscht Silvia Azzoni wie keine zweite Künstlerin. Sie ist bestialisch gut darin. So gleitet Silvia Azzoni in den Spagat, als sei er eine gleichsam angeborene, nicht nur sorgsam anerzogene Körperhaltung.

BALLETT ALS KAMPFKUNST

Ballett ist aber auch Kampfkunst. Die Gegner stecken in einem selbst: Trägheit, Schwäche, Müdigkeit. Grobheit. Rohheit. Härte. Ballett muss wie geschliffen und in jeder Sekunde anmutig sein. Die Konzentration ist intensiv und absolut. Nur dann gewinnen die vierhundert Jahre alten Übungen ihren faszinierenden Charme. Dafür wird trainiert, geschwitzt, geprobt, das ganze Dasein darauf eingerichtet. Außenstehenden kommen Ballettmenschen mitunter wie Anhänger einer Sekte vor. Oder sie wirken arrogant. Aber das täuscht. Das Tänzervolk ist tolerant und aufgeschlossen – und überhaupt nicht aggressiv. Schließlich hat Bühnenballett mehr mit Geisterbeschwörung im Tutu zu tun als mit ehrgeizig kompensierendem Unterhaltungszirkus.

Der häufige Schlafmangel, der Tänzer quält, hängt mit den abendlichen Vorstellungen und den frühen Trainingsstunden zusammen. Aber auch mit ihrer eigenen Besessenheit! Die meisten von ihnen wollen tanzen, um jeden Preis, am liebsten jede Minute ihres Lebens. Denn sie wissen, dass sie das Tänzersein spätestens als Mittvierziger beenden müssen. Dann werden sie Ballettmeister, Tanzpädagoge, Physiotherapeut oder noch etwas ganz anderes. Ein zweites Leben beginnt – für die meisten jenseits der geliebten Ballettsäle, in denen sie sich so oft die Seele aus dem Leib schwitzten. Umso intensiver genießen Tänzer ihr Berufsleben, solange es anhält.

Ballett und Ballett sind nicht immer dasselbe

Auch der „Schwanensee“ verliert nie seinen magischen Zauber, wenn er so getanzt wird wie vom Sankt Petersburg Balletttheater: technisch hoch präzise, aber niemals kalt oder ausdrucksarm. Ganz großes russisches Ballett – und so echt und authentisch wie die Primaballerina Irina Kolesnikova! Nichts wie hin: www.schwanensee-29.11.de und www.schwanensee-30.11.de (Bildmaterial / Anzeige vom SPBT)

Silvia Azzoni hat sich schon manchmal Auszeiten genommen. Nicht nur in der Schwangerschaft letztes Jahr, die in die Entbindung der kleinen Kira mündete und aus Silvia eine auch mütterlich erfahrene Künstlerin machte. Sie, die mit dem sprunggewaltigen ukrainischen Neumeier-Ballerino Alexandre Riabko verheiratet ist, hat ihren geforderten Körper mitunter schonen müssen. Nach einem Sturz war ihre Nase gebrochen, ihr Bein hatte mal eine so genannte Stressfraktur, und ein anderes Mal hat sie ein Jahr lang aussetzen müssen und darum gebangt, auf die Bühne zurückzukehren. Viele Profitänzer machen Ähnliches durch – und lernen in der Zeit der Unterbrechung sich und auch ihren Körper besser kennen. Insofern gehören auch Auszeiten zum niemals endenden Lernprozess.

Ballett ist zudem eine Art Heilgymnastik. Die leichteren Übungen, mit denen Tänzer ihren Alltag am Morgen beginnen, ähneln den mehr als zweitausend Jahre alten Grundlagen des asiatischen Qi Gong. Mit sanftem Bewegungsfluss sollen die Körpersäfte und Energien in Wallung geraten. Der Stoffwechsel wird angeregt. Die Atmung wird tief und kräftig. Und die Muskeln an Armen und Beinen werden in die Länge trainiert, bilden sich darum auch ganz anders aus als bei den meisten Sportarten, die sie nur in die Breite wachsen lassen.

WENN DIE WOLKEN ZIEHEN

Silvias Anatomie ist eine Wissenschaft für sich. Sehnen, Muskeln, Gelenke bilden ein Gesamtkunstwerk aus Zellen und Koordination. Ihre Schönheit und Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Präzision werden so überhaupt erst möglich. Dabei gleicht ihr mädchenhafter Körper einer dem Auge schmeichelnden Landschaft mit Buchten und Anhöhen, Tälern und Landzungen. In Bewegung gebracht, entwickelt sich ein magisch-veränderbares Flair! In Silvias jüngster Bühnenrolle schillert denn auch das schwankende Gefühlsleben einer jungen Russin: Sie tanzt die schwer verliebte Tatjana in John Crankos Ballett „Onegin“, nach dem russischen Nationalepos von Puschkin und zu Musik von Tschaikowsky. Kevin Haigen findet Silvia Azzoni ja besonders gut, wenn sie „gepartnert“ wird, also wenn ein Mann sie führt und wörtlich in den Himmel hebt. Im „Onegin“ ist dazu reichlich Gelegenheit, das Stück enthält einige der schönsten Pas de deux – Paartänze – der Ballettgeschichte.

Aber manchmal rennt Silvia wie außer Rand und Band über die Bühne. So zur rhythmischen Musik von Igor Strawinsky in John Neumeiers „Le Sacre“. Dann erinnert ihre Bewegung an den schwerelosen Lauf eines Insekts auf der Wasseroberfläche. Die hier nackten Füße der Ballerina berühren nur kurz mit dem Ballen den Boden – schon fliegt das Bein voran, bis das andere nach vorne kommt. Wenn Silvia stehen bleibt, um Atem zu schöpfen, konzentriert sich alle Kraft auf die Armübungen, im französischen Fachjargon: „Port de bras“. Damit kann sie den Eindruck erwecken, sie hätte funktionierende Flügel! Wie eine Gottesanbeterin senkt sie im „Schwanensee“ den Kopf, flattert mit den Ellenbogen und lässt die Finger zart hinterher wehen. Was für eine Landung im Märchenreich.

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Die schönen starken Füße der Ballerina stemmen sich dazu wie Bollwerke der Grazie mal in den Boden, mal in die Luft – im blitzschnellen Wechsel. Silvias Füße sind, was Hände für einen Pianisten sind: Ausdrucksmittel Nummer eins. Eine Bewaffnung. Ihre Pirouetten dreht Silvia auf diesen Wunderwerken der Natur mit gerader Achse, wie ein Kreisel. Die Balance hält Silvia scheinbar endlos, wenn sie auf einem Bein steht und das andere in der Luft hält. Langsam umrundet es den Rest ihres Körpers. Das ist Poesie ohne Worte, nur mit Bein! Manchmal hält sie auch das Spielbein mit geknicktem Knie auf 90 Grad – „Attitude“ heißt diese Übung. Sie sieht aus wie der Anlauf zu einem Flugmanöver. Streckt Silvia ihr Bein dann schnell, ist es, als sei der Motor des Flugzeugs angeworfen. Ssssrrrrr! Und die Tänzerin springt über die Bühne wie ein Flummi. Die Frau als Powerpaket.

Wären da nicht die Schlaflosigkeit und der Hunger. Tänzer müssen ihren Körper voll im Griff haben, nicht nur der Qualität nach, sondern auch der Quantität, der Masse nach. Jedes halbe Pfund zuviel kann hinderlich sein, will man hoch springen oder schnell voran kommen. Optisch verlangen die meisten Choreographen zudem nach jener sanften Geradlinigkeit, die ein weiblicher Körper nur nah an der Grenze zum Untergewicht aufzeigt. Ballerinen gewöhnen sich an Genügsamkeit, erlernen sie schon als Kinder, wenn sie sich für den Beruf entscheiden. Die Ausbildung beginnt früh: für viele spätere Profis schon vor der Pubertät. So in der Ballettschule John Neumeier, die dem Hamburg Ballett angeschlossen ist. Hier erhielt Silvia ihre künstlerische Prägung. Dabei wusste sie bereits als Kind, dass sie nichts anderes will: „Nur tanzen, tanzen, tanzen.“ Das ist in ihr wie eine Mission, wie eine Religion. Oder auch wie ein animalisches Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt. Diese Silvia Azzoni in all ihrer Schönheit tanzen zu sehen, heißt: Alle Wolken am Horizont ziehen zu lassen.
Gisela Sonnenburg

Die sehr empfehlenswerte DVD „Illusionen – wie Schwanensee“ erschien bei zyx music.

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