Dieses Mal ging daneben. Ballettboss Tamas Detrich hat für die jüngste Premiere beim Stuttgarter Ballett kein greifendes Konzept gefunden, sondern wahllos drei formalistische Petitessen aneinander gereiht. Was bleibt, ist ein hohler, verblödeter Jubel eines mit modernen Zirkusstücken verführten Publikums. Immerhin: Das hohe Niveau der Tänzerinnen und Tänzer rettet den Abend, zumindest, wenn es einem genügt, Menschen zu beglotzen und zu begeifern, die sich toll verbiegen können. Charakterlich und inhaltlich ist der Abend aber ein einziger Durchfall. Da mögen die nach Schönheit pur Süchtigen noch so vor Begeisterung ausrasten: Wer es vermag, sein Gehirn im Theater einzuschalten, geht hier deutlich auf Distanz. Die Stücke kommen von Itzik Galili („Hikarizatto“ wurde schon 2004 in Stuttgart uraufgeführt, es ist also eine Wiederaufnahme), von Johan Inger („Out of Breath“ stammt von 2002) und von dem Pop-Überflieger Akram Khan (der schon für Kylie Minogue arbeitete und am Ende von „Kaash“ ein in der Tat atemberaubendes, originelles Solo von einem Mann hinlegen lässt, das Friedemann Vogel zum Spitzenerfolg verhilft). Der Abend gleicht einem überzuckerten Soufflé: locker und bravourös gebacken, ist er dennoch nur ein Dessert und man vermisst den Nährstoffgehalt.
Den großen Schlussevent mal zuerst: Weltstar Friedemann Vogel zeigt Rücken und nackte Haut.
Nachdem in „Kaash“ kleine Tänzergruppen und Solisten um den Ersten Solisten Friedemann Vogel zu einer zackigen Sound-Collage herumgetanzt sind, leert sich schließlich die Bühne und lässt alle Aufmerksamkeit auf Vogel ruhen.
„Kaash“ heißt übrigens wenig tiefsinnig auf Hindi „Wenn“ (ja, wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wär, wäre Herr Khan wohl niemals Millionär). Das furiose Ende kann von daher auch Konjunktiv gedeutet werden – einen Unterschied macht das aber nicht.
Die rhythmisch pulsierenden Klänge sind verstummt. Vogel steht mit dem Rücken zum Publikum auf der Bühne, er beherrscht die Spielfläche mit seiner Präsenz. Es ist ein a-cappella-Tanz.
Vogel trägt oben nichts, ab der Hüfte eine Art langen, dunklen Lederrock. Und er ist ganz da, ein Mann wie ein Bollwerk, dennoch auch Sensibilität, mit viel Erfahrung und Können in der Selbstpräsentation.
Jedes Einatmen, jedes Ausatmen wirkt vollendet inszeniert, es geht um Leben an sich.
Und Friedemann tanzt und tänzelt – aber jetzt nur mit seiner ausgeleuchteten Rückenmuskulatur, seinen starken Armen und seinen schönen Händen. Es ist ein Ballett des Oberkörpers, die Beine sind weitgehend still gelegt, und es ist erstaunlich, welche Magie ein tanzender Körper auch und gerade ohne Musik entfalten kann.
Natürlich: Das wirkt ungeheuerlich edel, und vor allem aber hat man so etwas, das relativ einfach und spektakulär zugleich ist, noch nie zuvor gesehen. Außer vielleicht im japanischen Butoh-Tanz, der allerdings stark ritualisierten Charakter hat und auf Zeitlupe als Tempomaßgabe angewiesen ist.
Bei Khan geht es indes nicht um Rituale. Er ist zwar vom indischen Kathak-Tanz inspiriert. Aber: Es geht hier um die Form, nicht um Inhalte.
Und auch nicht um Form-Inhalt-Beziehungen, die eigentlich das Kennzeichen von Kunst sein sollten.
Und so tanzt Friedemann Vogel hier höchst beseelt die Ästhetik des schwarzen Ledersofas, das etwa von 1980 bis 2005 der Inbegriff moderner Wohnzimmerklassik war.
Wirklich: Könnte so ein kantiges Ledersofa (das mittlerweile im übrigen gar nicht mehr im Trend liegt) tanzen, es würde genau so aussehen.
Im Kontext des Stücks mag das Solo den Triumph des männlichen Singles bedeuten:
Paarung ist obsolet, am Ende zählt, was man selbst kann und macht, und wenn ein androgyn gekleideter Halbgott mit einem derart wohlproportioniertem Körperbau, wie Friedemann Vogel ihn hat, seine nackte Haut ausstellt, dann ist das selbstredend immer einen Hingucker wert.
Der ganze Oberkörper schlängelt und verbiegt sich, die Arme versuchen, „Schwanensee“-Ports de bras in den Schatten zu stellen, indisch inspirierte Handgelenksakrobatik kommt dazu. Das hat Aura, zweifelsohne. Hat es auch Wahrhaftigkeit?
So wie in diesem Solo empfindet wohl das zeitgenössische Individuum, das viel Geld verdienen möchte, egal, womit: Man tut und tut und macht alles fürs schnöde Überleben in Reichtum, man verbiegt sich im Stehen wie ein Geknechteter, man spielt Frau und Kerl und Herr und Knecht zugleich, man brilliert, man stellt sich dar, man hat sogar auf dem Rücken Augen, kann sogar mit dem Rücken schöne Augen machen, sozusagen – und es geht dabei ansonsten: um nichts.
Erfolg als Programm. Effekt als Ziel.
Und das ist das Problem mit dieser zirkusreifen Nummer: Stünde sie am Anfang oder in der Mitte eines Stücks, könnte sich daraus etwas entwickeln. Man könnte – vorausgesetzt, der Choreograf hätte mehr im Hirn als Schönheit und Geld – entdecken, wie sich solch ein kunstvoll verbogenes Wesen noch entwickelt, wie er wieder Mensch werden kann, obwohl man ihm offenkundig alles Verantwortungsbewusstsein aus dem Kopf geblasen hat.
Oder würde er doch nur Margarine verkaufen?
Das Bühnenbild ist schon von einer Art Margarineverkäufer. Der bildende Künstler Anish Kapoor, mit dem Akram Khan regelmäßig kooperiert, ist ein blendender Selbstverkäufer, der halbwegs ästhetische Versatzelemente baut und sich damit, passend zur von Geldgeilheit verdorbenen Sammlerszene, einen Weltruf erwarb. Kulturell und künstlerisch ist er meiner Meinung nach eine totale Niete, nur als Geschäftsmann ist er von Belang. Es spricht nicht für Khan, dass er sich solch einen Partner fürs Bühnenbild suchte. Der große grauschwarze leere Fensterrahmen, den Kapoor für den Bühnenhintergrund ersann und der auch ein Monitor sein könnte, damit man sich bald ein neues Navi, einen neuen Computer oder ein neues Fernsehgerät kauft, ist denn auch schlichtweg nur Deko.
Man erfährt hier auch sonst gar nichts darüber, was für ein Mensch die Figur, die Vogel darstellt, sein soll, ob es irgendeinen Zusammenhang zur Gesellschaft oder zur Natur gibt oder wohin das Ganze führen soll.
Aber: Solche Pseudokunst passt der Industrie – sicher auch PORSCHE, diesem Fabrikanten stinkender Out-Fahrzeuge – allerbest in den Kram.
Viele Industrielle hypen solche Non-Art, sie delektieren sich an formalistischen Details und fürchten gesellschaftskritische Aussagen wie der Teufel das Weihwasser.
Was sie wollen, ist das inhaltsleere moderne Spektakel, mit dem man jedwedes industrielle Produkt verkaufen kann. Wie diesen lächerlichen Lederrock im Sufi-Glockenrock-Look, den Friedemann Vogel trägt, und der aussieht, als sei er aus Ledersitzen von PORSCHE zusammengenäht.
Die globalen Reichen dieser Welt lieben solche Anspielungen an ihren Besitz, und sie sind clever genug, sich unter der Vorgabe angeblicher Professionalität Künstler für ihre kritiklose Selbstbeweihräucherung zu kaufen.
Darum ist Akram Khan, Jahrgang 1974 und fruchtbar, wie er auch schon mit der Zeugung einiger Kinder bewiesen hat, scheißreich und international total begehrt. Er verführt die Doofen genau so zum Applaus, wie man mit Werbeclips Idioten zu Autokäufen verführt.
Die Tänzerinnen und Tänzer wissen das natürlich nicht, denn sie haben sich vermutlich nie Zeit genommen, um sich intensiv mit gesellschaftlichen Zusammenhängen zu beschäftigen.
Sie finden es nur toll, dass hier mal eine neue, flippige Körpersprache auftaucht, die zu tanzen echt Spaß macht. Denn auch das minimalistische Gehopse vor Friedemanns Luxus-Auftritt, das die Körperteile oft bewegungstechnisch voneinander isoliert, ist durchaus ansprechend, auch mitreißend, zumal sehr rhythmisch – wenn auch leider ohne inhaltliche Basis.
Die Moral, dass ein Mann auch alleine beeindruckend leben und tanzen kann, genügt nun aber kaum für solch ein Stück, zumal hier weder Konflikte noch Aggressionen noch irgendeine Art glaubwürdigen zwischenmenschlichen Verhaltens zu sehen sind, geschweige denn aufgearbeitet werden.
Früher nannte man so etwas „Fernsehballett“. Heute kann man damit Pop-Songs illustrieren und mit verkaufsseligen Video-Clips die Massen zumüllen.
Und es ist ja so schön, wenn das Publikum seinen Spaß damit hat, als säße es vor einer Zirkusmenagerie. Fazit: Das ist bestenfalls faszinierende Unterhaltung.
Aber KUNST sollte man es nicht nennen.
(Denn so ein gefährliches Geplänkel wie von Akram Khan versaut das Publikum, das womöglich bald ins Ballett gehen wird wie andere ins Fußballstadion.)
Verlassen wir dieses Areal und wenden wir uns dem mittleren Stück zu.
Von Johan Inger, dessen Pas de six „Out of Breath“ von 2002 stammt, ist man eigentlich viel Besseres gewöhnt. Er verfügt über einen bissigen Humor (etwa in Werken wie „Cacti“) und über eine existenzielle Weltsicht, die sich auch und gerade im abendfüllenden Stück „Carmen“ schillernd zeigen kann.
Meistens hat Inger pro Stück eine originelle Idee, die er dann mal witzig, mal ergreifend wiederkehrend darin inszeniert. Das nächste Stück hat dann eine andere Idee.
Sein „Außer Atem“ ist nun leider ein wenig blass geraten, vermag aber am ehesten hier zu überzeugen.
Es geht um den Kampf dreier Paare nicht miteinander, sondern mit einer wellenartig gebogenen weißen Mauer. Die Berliner Mauer ist es wohl nicht, auch keine andere Grenze, die sich politisch deuten ließe. Aber: Diese durchaus propper anzusehende Skulptur auf der Bühne ist ein Hindernis, das die Tänzerinnen und Tänzer immer wieder zu überwinden trachten. Mal gelingt das, mal nicht – die Versuche wirken aber immer authentisch und ästhetisch wertvoll.
Menschen wollen ihre Aufgaben bewältigen. So what? Als Idee für ein Stück, und sei es auch nur zwanzig Minuten lang, ist das vielleicht ein wenig mager.
Immerhin wird auch gezeigt, wie sich das Hindernis dreht (die Ausstattung stammt von Mylla Ek). Die Welt ist also wandelbar, wenigstens um einige Grade.
Und: Die Menschen hier helfen einander gelegentlich, und manchmal gelingt das Überwinden der Mauer nur dank des tatkräftigen Partners.
Wenn sich dann wiederum manche Tänzer hinter ihrem Erfolg sprich hinter der Mauer verstecken, hat das Witz und Charme und erinnert an die besseren Stücke von Inger.
„Außer Atem“ – das ist hier das einem alles abverlangende Getobe im Miteinander, um persönlich voran zu kommen. Auch die Liebe, also der Paartanz, wird diesem Ziel untergeordnet. Dabei haben doch alle denselben „Feind“ oder auch „Freundfeind“, nämlich die weiße Mauer.
Die Musik ist hier allerdings so interessant, dass sie die Ansicht des Stücks lohnt: Es ist das Streichquartett Nr. 3 von Jacob Ter Veldhuis, und das Orchester in Stuttgart spielt und zirpt und tiriliert damit ganz entzückend.
Insbesondere Sebastian Klein, der ein feines Violinensolo hat, mag damit zu vereinnahmen.
Agnes Su, Elisa Badenes, Hyo-Jung Kang sowie Jason Reilly, Shaked Heller und Louis Stiens geben tänzerisch ihr Bestes – in jeder Formation.
Als Einstiegsbonbon in diesen Abend wird jedoch etwas ganz Anderes angeboten:
„Hikarizatto“ von Itzik Galili. Als Stuttgarter Kreation von vor fünfzehn Jahren ist es hier sozusagen die Nummer sicher. Aber bringen es die metallischen Schlagzeugrhythmen, die die Musik von Niels van Hoorn und Janwillem van der Poll auffährt, wirklich?
Hochrangig ist die Qualität dieser Klänge nicht. Immerhin: Sie pusht, sie geht ins Blut, sie peitscht ein, sie dröhnt gelegentlich.
Optisch handelt es sich um ein Schachbrett-Ballett. Denn wechselnd eingefärbtes Licht schminkt ein Schachbrett-Muster auf den Bühnenboden.
Sind wir Menschen alle nur Figuren in einem Schachspiel? Aber wer zieht dann die Strippen, wer sind die Spieler?
Oft bleiben viele Teile auch auf der Bühne im Dunkel, und nur einige Quadrate sind jeweils sauber ausgeleuchtet. In diesen bewegen sich die Tänzer, mit einer Schärfe, Schnelligkeit und Konturgenauigkeit, als ginge es darum, den akkuraten Stil von William Forsythe nochmals zu toppen.
Das ist natürlich interessant, zumal der Choreograf Galili ursprünglich aus einer ganz anderen Richtung kam: ohne klassische Tänzerausbildung fand er über Folklore in die israelische Immer-zehn-Pfund-zuviel-Tanztruppe „Batsheva Dance Company“, die nicht zuletzt dank deutscher Bejubelung beim „Tanz im August“ in Berlin in den frühen 90er-Jahren zu einer internationalen Größe wurde (und zwar jenseits des Balletts).
Hier kreierte Galili auch sein erstes Stück, und bald erhielt er in Israel eine eigene, staatlich geförderte kleine Tanzgruppe.
Sein mit Abstand bestes Stück ist eine begehrte Gala-Nummer, die eine Menage à trois sehr witzig und sinnlich auf die Pieke nimmt: „The Sofa“ ist als Beziehungsslapstick im Tanz unerreicht, blieb allerdings in Galilis Werk ein Solitär.
Seine anderen Stücke sind ähnlich wie dieses Schachbrettmuster-Ballett mit dem japanisch klingenden Titel (von dem man sich nicht weiter irritieren lassen sollte), und das zudem sichtlich vom elegant-formidablen technischen Stil des Stuttgarter Balletts geprägt ist.
Die Pauke und gleich mehrere Schlagzeuge haben hier ihren großen Abend. Die Tänzer, darunter große Künstler wie Jason Reilly, haben indes keine Möglichkeit, ihre Individualität hier einzubringen.
Das Stück wirkt wie ein stilistisches Experiment und ist ganz hübsch anzusehen, leidet aber wie der Abend insgesamt, an schweren inhaltlichen Mangelerscheinungen.
Man könnte Menschen wie den Berliner Unternehmer Hans Wall hierher schicken, seine Worte verkündeten mal zutiefst flachsinnig auf einem Werbeplakat: „Ich bin ein Ästhet, der das Schöne liebt.“ Das ist ein ebenfalls magerer, zudem noch tautologischer Satz, vergleichbar mit: „Ich bin ein Genussmensch, der gern genießt.“ Ach. Das hätte man ja so alles gar nicht mal gedacht, oder?
Gisela Sonnenburg / Boris Medvedski