Eine blau angestrahlte Bühne, die Mädchen in weißen, fedrigen Teller-Tutus mit stilisiert flatternden Armen, das leise Getrappel der Spitzenschuhe bei vermeintlichem Mondlicht am See – die Kunstwelt des „Schwanensee“ wurde zum Inbegriff für klassisches Ballett. Auch wenn das Stück bei seiner Uraufführung 1877 ein totaler Flop und auch 1895 in der noch heute stilprägenden Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow zunächst kaum erfolgreich war – langsam, aber sicher entwickelten sich die Bilder von den Schwanenmädchen zum eigenständig Poesie ausstrahlenden Topos.
Woran genau das liegt – darüber wird seit Jahrzehnten unverdrossen gerätselt. George Balanchine, der selbst „Swan Lake“ als Einakter inszenierte (statt als Vierakter, wie es im Original ist), meinte, der Zauber gehe vor allem von der weiblichen Hauptperson aus, der Schwanenprinzessin Odette. Für ihn war sie weniger eine in einen Wasservogel verwandelte Menschenfrau, sondern vielmehr pure Fiktion, ein reines Fantasieprodukt: eine so abstrakte wie surreale „imagination“ als Projektionsfläche für die Wünsche der Zuschauer. Das ganze Märchen kulminierte für Balanchine in dieser einen Figur, einer eigentlich nicht existenten. In welcher der Frauenkenner Balanchine jedoch eine ganz bestimmte feminine Stärke witterte: die von Mondänität und Glamour im Kostüm der Natur.
Da aber nicht nur Odette, sondern vor allem auch die Szenen des Ballet blanc, des Ensembles als Weißem Balletts, mit „Schwanensee“ identifiziert werden, sprach Balanchine wohl vor allem für sich selbst. Die meisten anderen Leute lieben an „Schwanensee“ gerade die Mischung aus dramatisch-mystischer Handlung, emotional aufwühlender Musik von Peter I. Tschaikowski (die alle Facetten von lyrisch bis pathetisch enthält) – und die vielen süßen weltentrückten weißen „Feen“.
Nun sind sie zwar dem traditionellen, gebräuchlichen Libretto nach keine Feen, Nymphen oder Wilis. Aber die bühnentraditionelle Herkunft dieser Schwanendamen ist eindeutig: Sie sind eine Weiterentwicklung der 1841 das romantische Ballett „Giselle“ uraufführenden Wilis, also der untoten jungen Mädchen, die im nächtlichen Wald herum geistern und Männer jagen. Aber wie zahm und folgsam, wie soft und opferhaft sind dagegen diese Schwäne!
Eine Erklärung dafür versucht der Dresdner Ballettdirektor Aaron S. Watkin mit seiner „Schwanensee“-Arbeit zu geben. Er geht in seiner Inszenierung von 2009, die auf den Choreos von Marius Petipa und Lew Iwanow basiert, nach all den wilden, vom ursprünglichen Stoff abweichenden Versionen, die es von „Schwanensee“ gibt, zurück zu den märchenhaft-psychologischen Elementen der Geschichte.
Hier ist kein Ludwig II. auf Selbstsuche (wie bei John Neumeier in Hamburg), kein erotisch betontes Männerballett taucht auf (wie einst in London bei Matthew Bourne), kein Zuhältermilieu dräut am Kulissenrand (wie in einer nicht näher zu erörternden provinziellen Inszenierung), kein Waldmädchen hüllt sich in Schleier (wie bei Bridget Breiner in einer viel beachteten Inszenierung in Gelsenkirchen), und keine sexgeile Prinzenmutter routiert vor einem Premierminister (wie bei Patrice Bart, dessen pfeffrig-dramatische Fassung unter anderem in Berlin premierte).
Hier, in Dresden mit dem Semperoper Ballett, ist die Welt der tanzenden Schwäne insofern in Ordnung, als sie der ganz klassischen, die wir als „typisch“ im Kopf haben, entspricht.
Allerdings: Unterschiede gibt es auch hier. Und zwar nicht nur in den Feinheiten. Es beginnt mit dem Libretto, das Francine Watson Coleman für Dresden in eine neue, nur zweiaktige (statt vieraktige) Passform brachte. Der böse Zauberer Rotbart, der in allen Versionen für die Verwandlung schöner Mädchen in Schwäne verantwortlich ist, hat hier erstens namensgerecht einen roten Bart (das ist wichtig, denn der Name von Rotbart war ursprünglich als Anspielung an Kaiser Barbarossa, also Karl den Großen, gemeint) – und er hat zweitens den Adelstitel eines Barons und entspricht somit einem ganz menschlichen Bösewicht. Er verführte einst die verwitwete Mutter von Odette, entpuppte sich dann aber als rabiater, der schwarzen Magie verschworener Stiefvater.
Da man der zeitgenössischen Psychologie nach die verzauberten Mädchen vom Schwanensee auch als Opfer sexuellen Missbrauchs sehen kann, und weil Stiefväter als die Klischeetäter in dieser Hinsicht gelten, passt diese Version der Geschichte tatsächlich zum Symbolbild der animalischen, aber unerreichbaren Jungfrauen. Der Kummer von Odette ist ja auch ein ganz praktischer: Sie kann, da sie nur für wenige Stunden bei Nacht ein freier Mensch ist, zu einem Mann keinen wirklich „ehetauglichen“ Kontakt aufbauen. Paradoxerweise kann nur die Liebe eines Menschenmannes sie erlösen, so die Bedingung in allen Versionen dieses Theatermärchens.
Bei Watkin ist Odettes Mutter zudem eine Fee gewesen. Das wiederum passt zu den feengleich tanzenden Schwanenmädchen: Ihre Herkunft ist augenfälligerweise nicht rein menschlich und auch nicht typisch tierisch. Odettes Mutter, so Watkins Libretto, starb, vom bösen Magier Rotbart zugrunde gerichtet. Denken wir bei ihm mal an einen rücksichtslosen Sadisten und Frauenschänder; dann ist Rotbart kein abstrakter Zauberer mehr, sondern ein Krimineller und Beziehungstäter wie von heute.
Zusätzlich gibt es in Watkins Version noch eine neu erdachte Frauenfigur: die Großmutter Odettes, also die Mutter der verstorbenen Mutter. Sie verkörpert die gute alte Liebestradition, das positive familiäre Prinzip, die Fürsorge und auch die Hilfe in der Not. Da ihre Tochter eine gute Fee war, hat sie selbst auch einen geisterhaft-engelhaften Stammbaum. Man merkt: Das Gute hat in Watkins „Schwanensee“ etwas von einer märchenhaften Parallelwelt.
KREATIVE TRAUERARBEIT
Aus dieser kommt denn auch kreative Trauerarbeit. Die Tränen der Großmutter beim Tod ihrer Tochter, so das Watkin’sche Libretto (traditionell sind es die Tränen der Mutter bei der Verwandlung von Odette in die Schwanenkönigin), begründeten den See. Auf diesem leben die Schwanenmädchen in Gefangenschaft des Zauberers. Erst kam also hier der Tränensee, dann der böse Zauber: Odette und ihre Freundinnen (vermutlich alles Feenkinder) wurden, um sie zu hemmen und auch, um sie daran zu hindern, Rotbart als Bösewicht zu outen, zu Wasservögeln gemacht.
Psychologisch ist das gut nachvollziehbar verschlüsselt – die willkürlichen Strafen zum Beispiel, mit denen inkompetente Erziehungsberechtigte ihre Schützlinge belegen, können Hemmungen, Unfreiheiten und entsprechende Entwicklungsstörungen verursachen. Rotbart als echt fieser Stiefvater – eine schlüssige interpretatorische Lösung.
So geht es denn, wie in jedem Märchen und auch in der Realität, um den ewigen Kampf des Guten gegen das Böse. Dennoch kommt das im Ballett nicht moralinsauer daher. Das aufmunternd schöne Element darf sich auch in der Ausstattung durchsetzen: Die im 19. Jahrhundert zunächst als verwegen kurz empfundenen Teller-Tutus der weißen Corps-Damen gelten heute trotz ihrer Frivolität als unverrückbares Sinnbild für Keuschheit und Reinheit. Schönheit und Weiblichkeit stehen, ganz in Weiß, gegen den schwarzen Zauber.
Der findet als „Black Swan“, als Odile, eine der edlen Odette genau entgegen gesetzte Personifizierung. Odile, die Tochter (nicht Stieftochter) von Baron von Rotbart, wird von ihrem Vater zusammen mit einer Schar anderer schwarzer Schwäne mit auf den Hofball genommen, auf dem der Prinz, der bereits in Odette verliebt ist, sich eine künftige Gattin wählen soll. Die Brautschau ist eine formelle Festivität – aber der Einbruch des dämonisch-Verführerischen in Gestalt von Odile bildet einen Höhepunkt in der Ballettgeschichte. Da sie Odette so ähnlich sieht, lässt sich der Prinz dazu hinreißen, ihr Liebe schwören zu wollen – und erst, als ihm die weiße Odette als Vision erscheint, schämt er sich und stürzt aus dem Ballsaal.
Die klassische Doppelrolle der Odette-Odile birgt nun unverkennbar sowohl technische als auch künstlerische Schwierigkeiten, die nur „First class Ballerinen“ bewältigen. Vom Ausdruck her handelt es sich um zwei völlig verschiedene Farben: Odette ist scheu, skeptisch, melancholisch, ja unglücklich. Odile hingegen ist siegesgewiss, hochnäsig, draufgängerisch und charmierend. Die erste ist engelhaft-ätherisch, die zweite diabolisch-sinnlich. Technisch setzt sich dieser Unterschied fort: Odette ist lyrisch und poetisch in mehr romantischen, langsamen Bewegungen, Odile hingegen ist virtuos und aggressiv in bereits rein klassischen, blitzschnellen Körpergesten.
Die 32 Fouettés, die den Part der Odile so berühmt gemacht haben, wurden 1895 unter der Leitung von Marius Petipa in die Choreografie eingebracht. Sie stammen allerdings nicht von ihm, sondern von der Ballerina, die sie erstmals tanzte: Pierina Legnani.
Sie hatte dieses Kunststück bereits in anderen Balletten wie „Cinderella“ und „Die Tulpe von Haarlem“ zum Besten gegeben. Die 32 seriellen Fouettés, heute oft unterbrochen und ergänzt von doppelten Pirouetten en dehors, sind, da all dies geleistet werden muss, ohne das Spielbein auch nur einmal auf den Boden zu setzen, für jede Primaballerina von Weltrang eine Herausforderung. Auch heute noch, da der internationale technische Standard alle paar Jahre unübersehbar steigt. Allzu rasch käme hier eine nicht geeignete Tänzerin aus der Balance, aus dem Takt oder unbotmäßig von der Stelle. Sie muss ja auf ihrem Platz bleiben, das gesamte Kunststück lang!
Sie muss mit dem Standbein stets auswärts wieder absetzen, wenn sie eine Pirouetteneinheit beendet hat, um erneut einbeinig auf die Zehenspitzen zu springen. Sie hat das Spielbein stets auf gleich bleibendem, waagerechten Niveau zu halten. Die Arme, der Leib, der Kopf – auch für sie gibt es definierte Regeln, die einzuhalten sind. Es ist eine großartige Leistung, wenn das gelingt – auch wenn es eine artistische ist, die erst durch den hochmütigen, siegessicheren Blick der Ballerina ihre künstlerische Note bekommt.
Das Publikum dankt indes die Mühen zumeist mit begeistert aufbrandendem Szenenapplaus.
Dass so eine Femme-fatale-Choreografie geeignet ist, einen ohnehin etwas verwirrten Prinzen zu verführen, ist nun logisch. In manchen alten Fassungen ist er denn auch so geschwächt von der Erkenntnis, dass es sich nicht um Odette, sondern um ihre Gegenspielerin Odile handelt, dass er sich nahezu selbstmörderisch gen Boden stürzt. Watkin wählt eine andere tradierte Reaktion des Prinzen. Er lässt ihn aus dem Saal rennen und umgehend an den Schwanensee flüchten.
George Balanchine hat sich übrigens dagegen ausgesprochen, den Pas de deux des Schwarzen Schwans mit dem Prinzen als Gala-Nummer zu bringen. Denn ohne den Hintergrund des Librettos, so Balanchines Annahme, könne der Zuschauer sich nicht erklären, warum die Ballerina hier so zimtzickig sei, so wenig anschmiegsam, so unnahbar und arrogant. Und eben keine Liebende, wenngleich doch Verführende!
Aber Balanchine hat insofern Unrecht, als viele Gala-Besucher die großen Ballette wie „Schwanensee“ kennen und von daher über den Hintergrund der Story Bescheid wissen. Balanchine selbst muss sich allerdings rügen lassen, weil er, um Werbung für seine Ballettabende zu machen, in den 60er Jahren Auszüge aus „Swan Lake“ („Schwanensee“) – wenn auch nicht den komplizierten Schwarzen Schwan mit seinen Fouettés – auf New Yorks Straßen tanzen ließ. Dabei wurde wirklich nur die „Sensation des Balletts“ verkauft, und um künstlerische Vermittlung bestimmter Inhalte konnte es bei solchen Kurzauftritten mitnichten gehen. Das Großstadtpublikum, das da zufällig stehen blieb und zuschaute, dürfte von den genaueren Handlungsabläufen in „Schwanensee“ kaum Ahnung gehabt haben.
George Balanchine hat „Schwanensee“ jedoch auch unbestritten Gutes beschert. Balanchines strenge, reduzierte Ästhetik, die stets bemüht war, schnörkellos und möglichst punktgenau die Essenz des klassischen Balletts zu formulieren, führte zu großer Eleganz und Erhabenheit. Die Unterschiede zu Petipa und Iwanow liegen da mitunter auch im Detail.
Und so ist es auch bei Aaron S. Watkin: Da sind die Linien, die sich aus den tanzenden Figuren ergeben, weniger klassisch-russisch, dafür gelegentlich mehr der runden Ästhetik der englischen Ballettschule nachfolgend, also vor allem lieblicher, dennoch geradliniger als bei Petipa und Iwanow. Manchmal gleichen sie ein Stück weit sogar auch den Balanchine’schen Linien und Prinzipien, die auf Einfachheit und eine gewisse Windschnittigkeit setzen. Deutlich wird das vor allem in den weißen Balletten, also den Szenen mit den Schwanenmädchen. So gibt es bei Watkin zwar die bekannten Kleinen Schwäne, und wie im Original sind es auch vier an der Zahl. Aber sie halten sich nicht über Kreuz an den Händen, sondern, viel einfacher, sinnfälliger und genauso schön, ohne Überkreuzung.
Die Höhepunkte sind aber neben den weißen „Massenszenen“, den beeindruckend gruppierten Schwanenhorden, natürlich die Pas de deux des Liebespaares.
Watkin gönnt ihm und uns denn auch einen famosen Abschluss am Ende seines „Schwanensees“. Er lässt die Geschichte zwar traditionell tragisch enden. Aber es ist hier nicht Rotbart, der eine Sturmflut im See herbei zaubert, damit der Prinz darin ertrinkt. Sondern Watkin lässt die schon eingeführte Großmutter Odettes ihre Enkelin und ihren Verliebten in ein anderes Universum eintreten: Die unglücklichen Liebenden, die im Diesseits wegen des falschen Schwurs des verwirrten Prinzen füreinander verloren sind, dürfen in der Ewigkeit der jenseitigen Feenwelt im See (oder an seinem Grund) für immer ihrer Liebe frönen.
Entlehnt ist dieses theatralisch wirksame Ende bereits bekannten Balletttraditionen wie „La Bayadère“. Auch dort findet sich das Liebespaar erst post mortem im Himmel, in einer anderen Welt, die auch das Reich der Fantasie der Lebenden bedeuten kann – sie bleibt dem Publikum als schaurig-schönes Standbild in Erinnerung. Und jetzt ein Tusch bitte, und zwar in h-dur!
Gisela Sonnenburg
Und ein Interview mit Aaron S. Watkin:
www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-schwanensee-interview/
Termine: siehe „Spielplan“
UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/